Hauptsache schnell
Die blau-schwarze steirische Landesregierung schafft mit dem ›Lufthunderter‹ auf der Autobahn rund um Graz ausgerechnet eine der kosteneffektivsten Maßnahmen für den Klimaschutz ab. In der seit jeher durch Feinstaub belasteten Landeshauptstadt wächst die Kritik.
Als in Graz vor 20 Jahren wegen der Schadstoffbelastung der sogenannte ›Lufthunderter‹ auf der Autobahn eingeführt wurde, war Helmut Hoffmann gerade mit anderem beschäftigt. Er klagte gegen die Wiederbelebung des Rennrings in Spielberg, es ging ihm um saubere Luft. Weil er zwar in einer HTL in der Nähe unterrichtete, nicht aber in der Region wohnte, war er nicht klagsberechtigt und scheiterte krachend. Doch das entmutigte ihn keineswegs. Der heute 81-Jährige kann auf eine lange und vielseitige Geschichte im Umweltaktivismus zurückblicken. Er engagierte sich gegen den Ausbau der Ennstrasse – einer Bundesstraße in der Obersteiermark –, gegen das Murkraftwerk, machte sich für Tierschutz stark und beherbergte Österreichs ersten Bioladen in seinem Kellerlokal. Doch in Graz ist der Name Hoffmann vor allem wegen einer anderen Aktion bekannt.
In einem Grazer Haus mit blauen Fensterläden trinkt Hoffmann Anfang März selbstgemachten Apfelsaft von seinem Bauernhof, während er alte Zeitungsausschnitte durchblättert. Auf einem Foto ist er mit einer FFP-Maske in der Hand zwischen zwei Politikerinnen der Grünen abgebildet. Die steirische Kronenzeitung titelte damals: ›Lungenkranker Grazer kämpft für seine zwei minderjährigen Kinder vor Gericht.‹ Gemeinsam mit seiner Frau Lotte sowie finanziell und rechtlich unterstützt vom Grün-Alternativen Verein zur Unterstützung von Bürgerinitiativen klagte Helmut Hoffmann 2013 gegen den damaligen Landeshauptmann der Steiermark, Franz Voves (SPÖ). Er forderte von ihm Maßnahmen gegen das Feinstaubproblem in Graz. Wegen seiner Klage müssen von Luftverschmutzung betroffene Bürger mit ihren Anliegen vom zuständigen Landeshauptmann zumindest angehört werden. Das hat ihm immer wieder Erwähnungen in den Grazer Medien eingebracht, Hoffmann hat damals einen ersten Meilenstein auf dem Weg zu einem Recht auf saubere Luft erreicht. Trotzdem gibt es in Österreich heute noch Schwierigkeiten, die gesundheitlichen Standards für Luftqualität einzuhalten.
2024 wurden die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebenen gesundheitlichen Richtwerte für 2,5 Mikrometer großen Feinstaub österreichweit an allen außer zwei Messstationen überschritten. Laut Europäischer Umweltagentur ist Luftverschmutzung seit Langem das größte umweltbedingte Gesundheitsrisiko Europas. Der von der Agentur jährlich herausgegebene Report zur europäischen Luftqualität weist für 2022 europaweit rund 239.000 frühzeitige Todesfälle aus, die auf chronische Feinstaubbelastung zurückzuführen waren. 3.300 davon in Österreich, das sind hundert mehr als im Jahr davor. In allen Bundesländern sind deshalb seit gut 20 Jahren Maßnahmen gegen Luftverschmutzung in Kraft – und sie zeigen Wirkung. Weil mancherorts die aktuell rechtlich geltenden EU-Grenzwerte seit der Corona-Pandemie nicht mehr überschritten wurden, wollen rechte Politiker aber gerade die Tempolimits wieder abschaffen, die zur Verbesserung der Luftqualität beigetragen haben. Selbst im seit jeher Feinstaub-belasteten Graz.
Erstmals seit Jörg Haider und Gerhard Dörfler stellt die FPÖ wieder einen Landeshauptmann. In der nun blau-schwarz regierten Steiermark soll fortgeführt werden, was in Salzburg bereits Realität ist und auf Bundesebene ein wichtiges Ziel der – letztlich gescheiterten – Verhandlungen zwischen FPÖ und ÖVP war: ein ›Bekenntnis zur Individualmobilität‹. Zu Deutsch: Politik für Autolenkerinnen und -lenker.
Dazu zählt in der Steiermark etwa ein Herzensprojekt des neuen blauen Landeshauptmanns Mario Kunasek: ›Bedarfsgerechte Anpassung des »Lufthunderters«‹. Das flexible Tempolimit auf der Autobahn rund um Graz war Kunasek schon seit seiner Einführung ein Dorn im Auge, wie in alten Presseaussendungen nachzulesen ist. Im letzten September bezeichnete er die Geschwindigkeitsbeschränkung auf 100 statt 130 km/h als eine ›im Klimaalarmismus begründete Autofahrerschikane‹.
In der Steiermark genauso wie im Bund hat die Regierung aber ein ordentliches Budgetloch zu stopfen. Durch den ›Lufthunderter‹ fließen jährlich rund zwei Millionen Euro Strafen wegen Überschreitung des Tempolimits in die Landeskassa. Tempo 100 sei, was das Kosten-Nutzen-Verhältnis angeht, eine der effektivsten Maßnahmen, rechnet der Fiskalrat in einer neuen Studie vor. Für die Einführung gebe es praktisch keine Kosten, es müssten nur die Verkehrsschilder ausgetauscht werden. Damit könne quasi über Nacht eine Maßnahme umgesetzt werden, die laut Umweltbundesamt rund 640.000 Tonnen CO₂ jährlich einspart. Zum Vergleich: Das Klimaticket spart nur rund 200.000 Tonnen CO₂ pro Jahr, schlug dafür 2024 budgetär aber mit 540 Millionen zu Buche. Der Rechnungshof hält in einem Bericht von 2021 fest, dass auch das größte Reduktionspotential für Luftschadstoffe in der Steiermark beim Verkehr besteht. Er empfahl der Landesregierung, die Geschwindigkeit in den belasteten Gebieten ständig auf 100 km/h zu beschränken. In der Vergangenheit hatte die EU bereits Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich angestrengt, weil die Schadstoff-Grenzwerte lange und deutlich überschritten wurden.
Trotz allem soll das rot umkreiste ›IG-L 100‹ in nicht allzu langer Zeit auf keiner Anzeigetafel auf der A2 rund um Graz mehr zu sehen sein. Das haben FPÖ und ÖVP in der gemeinsamen Landesregierung am 16. März verkündet. Am nächsten Tag begann das Büro des zuständigen Umweltlandesrates Hannes Amesbauer an der rechtlichen Umsetzung zu arbeiten, Ende April soll das Aus des ›Lufthunderters‹ dann endgültig beschlossen sein. Die unmittelbaren Konsequenzen dieser Entscheidung werden vor allem in und um die Landeshauptstadt spürbar sein.
Graz hat sich den Titel der ›Feinstaubhauptstadt‹ Österreichs schon Anfang des Jahrhunderts eingefangen und behauptet ihn seither durchgehend. Einerseits, weil die Stadt ein Pendlerproblem hat – auch heute reist noch fast die Hälfte aller in Graz arbeitenden Menschen täglich in die Stadt, rund 80 Prozent davon im Auto. Das führt zu Stau und das wiederum zu messbar dicker Luft. Andererseits gibt es im Stadtgebiet wenig bis keinen Wind, der Luftschadstoffe aus dem Talkessel hinauswehen könnte, und die geografische Beckenlage fördert Inversionswetterlagen. Wenn eine Wolkendecke das Tal wie ein Kochtopfdeckel nach oben hin abschließt, haben die Schadstoffe weniger Luft, in der sie sich ausbreiten können – ihre Konzentration steigt. Das entstehende Gemisch ist für Menschen ab gewissen Werten gesundheitsschädlich. Besonders gefährdet sind Kinder, Schwangere und ältere Menschen.
Im Wesentlichen gibt es zwei relevante Luftschadstoffe, die uns Menschen krank machen oder bestehende Krankheiten verschlimmern: Feinstaub und Stickstoffdioxid.
Feinstaub besteht aus winzig kleinen Partikeln, die nach dem Einatmen unsere Atemwege entzünden, Asthma und Herz-Kreislauf-Erkrankungen auslösen können. Inzwischen hat die Forschung herausgefunden, dass die Partikel aber auch in den Blutkreislauf gelangen und sich auch an anderen Stellen im Körper ablagern. ›Feinstaub treibt in vielen Organsystemen sein Unwesen‹, sagt Umweltmediziner Hans-Peter Hutter von der Medizinischen Universität Wien. ›Er kann etwa Diabetes und neurodegenerative Krankheiten wie Alzheimer mitauslösen oder die kognitive Leistungsfähigkeit vermindern.‹ Die kurzfristigen Effekte des Reizgases Stickstoffdioxid sind denen von Feinstaub ähnlich, es entzündet die Atemwege. Allerdings kann es indirekt auch zur Feinstaubbildung beitragen. Und der Straßenverkehr ist ein wesentlicher Verursacher dieser Schadstoffe, bei Stickstoffdioxid sogar die Hauptquelle.
›Die Bevölkerung ist vor Luftschadstoffen definitiv nicht so geschützt, wie ich und andere Mediziner das sehen wollen‹, sagt Hutter. Die rechtlichen Grenzwerte, die definieren, welche Menge eines Schadstoffs als ›zu viel‹ gilt, werden als politischer Kompromiss auf EU-Ebene ausverhandelt und unterscheiden sich aktuell um ein Vielfaches von den WHO-Richtwerten. Bei 2,5 Mikrometer kleinem Feinstaub ließe der aktuelle EU-Grenzwert sogar das Fünffache zu. In Graz war die Belastung mit dieser Art Feinstaub letztes Jahr österreichweit am höchsten und verzeichnete einen Anstieg gegenüber 2023, so ergab eine kürzlich veröffentlichte Analyse des Verkehrsclubs Österreich mit Daten des Umweltbundesamtes. Mit rund 16 Mikrogramm pro Kubikmeter war der Wert deutlich über dem WHO-Wert von fünf und dem zukünftigen EU-Grenzwert von zehn Mikrogramm.
Der Aktivist Helmut Hoffmann hatte vom damaligen Landeshauptmann schon vor zwölf Jahren temporäre Fahrverbote oder gleichwertige Maßnahmen eingefordert, um die Feinstaubwerte in Graz zu senken. Hoffmanns Motivation kam aber nicht nur aus der gesundheitlichen Ecke. ›Als Student in Schweden war ich in einen Autounfall mit drei Toten verwickelt‹, erzählt der Pensionist, ›Ich habe meine Mutter bei einem Autounfall verloren, und auch einer meiner Söhne wurde schon angefahren. Ich habe gesehen, welches Leid das bedeuten kann.‹ Als sowohl Landeshauptmann als auch das Landesverwaltungsgericht Hoffmann abblitzen ließen, ging er zum Höchstgericht. Und bekam dort 2015 Recht. Ein enormer Fortschritt, denn nun stand fest: Individuell betroffene Bürgerinnen und Bürger müssen von den Behörden angehört werden.
›Das war ein Meilenstein‹, sagt Umweltjurist Gregor Schamschula, der damals zeitgleich einen ähnlichen Fall in Salzburg durchstritt, ›Es gibt also gerichtliche Kontrolle, aber kein Recht auf konkrete Maßnahmen. Das heißt, man darf nicht sagen: Ich will hier ein Fahrverbot. Sondern nur, ich will etwas gegen die Luftverschmutzung. Und man hat kein durchsetzbares Recht darauf, dass dieses Etwas schnell kommt. Falls etwas kommt, das nicht oder nicht ausreichend wirkt, gibt es auch wieder nur die Möglichkeit, einen neuen Antrag zu stellen.‹ Genauso geschah es mit Helmut Hoffmanns Klage. Auch nach dem Höchstgerichtsurteil blieb das Land untätig, selbst zwei weitere Jahre Rechtsstreit änderten daran nichts. Hoffmanns Kampf für Feinstaubmaßnahmen endete also ohne diese, dafür mit einem ersten Schritt in Richtung eines Rechts auf saubere Luft. Eine Aufhebung von Maßnahmen nach Immissionsschutzgesetz-Luft (IG-L), wie etwa des ›Lufthunderters‹, ist hingegen vergleichsweise einfach und schnell möglich.
Die Blaupause dafür kommt aus Salzburg. Die Landeshauptmannstellvertreterin Marlene Svazek (FPÖ) hat dort bereits Ende 2023 die letzte Tempobeschränkung im Bundesland per Verordnung und ohne Abstimmung im Landtag aufgehoben. Dafür wurde eine Studie beauftragt, die prognostizierte, dass auch in den nächsten Jahren keine Grenzwerte mehr überschritten werden. Grenzwerte, die mittlerweile aber veraltet sind. Denn im Dezember 2024 hat die EU eine neue Luftqualitätsrichtlinie beschlossen. Die Grenzwerte für Feinstaub und Stickstoffdioxid wurden halbiert und damit den WHO-Werten angenähert. Sie gelten ab 2030, bis Ende 2026 muss ein nationaler Luftqualitätsfahrplan mit Maßnahmen ausgearbeitet sein. ›Das ist ein enorm wichtiger Schritt in die richtige Richtung‹, sagt Umweltmediziner Hutter.
Für einen großen Wurf hält die Richtlinie auch Luftexperte Christian Nagl vom Umweltbundesamt, er hat federführend die Leitlinien zur Aufhebung von Maßnahmen nach IG-L erarbeitet. Das Umweltbundesamt hat das Dokument 2020 aufgesetzt, um eine Lücke im Immissionsschutzgesetz-Luft zu schließen. Das Gesetz gibt nämlich nicht vor, unter welchen Voraussetzungen Luftschutzmaßnahmen wieder aufgehoben werden dürfen. Die Leitlinien geben dafür Empfehlungen. Doch auch hier hat die neue EU-Luftqualitätsrichtlinie einiges verändert. ›Wenn man Maßnahmen nun auf ihre Notwendigkeit prüft‹, sagt Nagl, ›muss der Ansatz sein, die zukünftigen Grenzwerte zu berücksichtigen. Sich zu fragen: Braucht es vielleicht sogar zusätzliche Maßnahmen, um sie einzuhalten?‹ Unbestritten sei das Tempolimit eine effektive Maßnahme mit sehr gutem Kosten-Nutzen-Verhältnis.
Ob man ohne Tempolimit in Zukunft im erlaubten Bereich der Luftschadstoffe bleiben kann, traut sich Nagl nicht vorherzusagen. ›Aber bei 2,5 Mikrometer großem Feinstaub wird die Einhaltung der neuen Richtlinie am schwierigsten sein. Gerade eben in der Steiermark, weil es da jetzt schon die höchste Belastung in Österreich gibt.‹
Die strengeren EU-Grenzwerte will die blauschwarze Landesregierung jedenfalls einhalten, nur ohne Tempolimit. In ihrer Presseaussendung zum Aus für den ›Lufthunderter‹ heißt es allerdings, dass die Ziele ab 2030 mit den aktuellen Maßnahmen nicht erreichbar wären. Auf die Frage, warum dann bestehende Maßnahmen abgebaut werden und ob es nicht vielmehr zusätzliche brauche, antwortet das Büro des Umweltlandesrates, dass Kompensationsmaßnahmen gerade erarbeitet würden. Als ein erstes Beispiel ist in der Aussendung ein Gesetz zur Beschleunigung des Ausbaus von Erneuerbaren Energien angeführt. Dieser trage bei, emmissionfreie Energieformen zu erhöhen und damit indirekt auch zur Verbesserung der Luftqualität, heißt es vom FPÖ-Umweltlandesrat. In der EU-Luftqualitätsrichtlinie gilt jedoch das Verursacherprinzip. Maßnahmen gegen Luftverschmutzung sollten eigentlich bei den Hauptverursachern – in diesem Fall dem Verkehr – ansetzen.
In und um Graz gibt es jedenfalls Widerstand gegen das geplante Aus für das Tempolimit auf der A2. Eine Abschaffung halte sie für ›nicht gescheit‹, meint KPÖ-Bürgermeisterin Elke Kahr auf Anfrage. Damit ist sie sich mit ihrer grünen Vizebürgermeisterin Judith Schwentner einig. Die Grünen Steiermark haben im Landtag eine aktuelle Stunde zum ›Lufthunderter‹ eingebracht. Und in Feldkirchen, einem Vorort von Graz, durch den das betroffene Autobahnstück direkt führt, hat der ÖVP-Bürgermeister eine Petition zur Erhaltung des Tempolimits gestartet. Auf Landesebene trägt seine Partei die Aufhebung in der Koalition mit der FPÖ mit.
Für saubere Luft will man in Graz mit der Weiterführung des Öffi- und Radwegausbaus sowie dem Ausbau der Fernwärme sorgen, da auch klimaschädliche Heizungen die Luft verschmutzen, teilt das Büro von Umweltstadträtin Schwentner mit. Man erwartet aber auch nur eine ›verhältnismäßig geringe‹ Auswirkung der Abschaffung auf die Luftqualität in Graz. Die Auswirkungen seien natürlich neben der Autobahn am stärksten zu spüren, Christian Nagl vom Umweltbundesamt gibt aber zu bedenken, dass Feinstaub bis zu einer Woche in der Luft bleibe und bis in die Stadt hinein vertragen werden könnte.
Auch Helmut Hoffmann findet das blaue Ansinnen kontraproduktiv. ›Ich bin 15 Jahre von Graz nach Zeltweg gefahren, wo ich unterrichtet habe‹, sagt er. ›In den letzten Jahren habe ich mir angewöhnt, nicht schneller als 100 zu fahren. Nie bin ich deswegen zu spät in die Schule gekommen.‹ Das Umweltbundesamt rechnet vor, dass der Zeitverlust auf einer 20 Kilometer langen Autobahnstrecke mit Tempolimit nur drei Minuten beträgt. Im Grazer Mittagsverkehr, der sich wie jeden Tag ein paar Straßen vor Hoffmanns Wohnung durch die Elisabethstraße wälzt, ist der Zeitverlust durch zu viele motorisierte Fahrzeuge wohl im Schnitt erheblich höher. •