Beruf Straßenprediger
Rund 40.000 Autounfälle passieren jedes Jahr auf den österreichischen Straßen. Um sie sicherer zu machen, greift die ASFINAG zu äußerst unorthodoxen Mitteln. Auf der Spur der Rutengänger im Dienste der Republik.
„Ruten sind was für Anfänger.“ Ilmar Tessmann braucht sie schon lange nicht mehr. Gelassen schreitet der 78-Jährige den Pannenstreifen der Wiener Außenring-Schnellstraße (S1) ab. Linkerhand donnern die Lkws den Hang hinauf, rechts wachsen Mohnblumen auf einer verwilderten Wiese. Ein karger, gottverlassener Ort, der bisher nur durch eine Eigenschaft auffiel: Hier passieren überdurchschnittlich viele Unfälle. Deshalb hat ihn ein Fahrzeug der Straßenbaugesellschaft heute hierher gebracht. Die mitfahrenden Arbeiter sperren eine Fahrspur ab. Tessmann braucht Ruhe für seinen Job.
Während er leicht hinkend den Pannenstreifen entlanggeht, tasten sich seine Arme durch die Luft. Seinen rechten Arm bewegt er mit ausgestrecktem Zeigefinger vor dem Körper ständig von links nach rechts. Sein linker hängt nach unten, die Handfläche ist offen und gleitet von vorne nach hinten. Ab und an bleibt er kurz stehen. „Das Erspüren kann manchmal schmerzvoll sein“, sagt Tessmann leise. „Dann reißt es einen schon.“ Ilmar Tessmann nennt sich einen „Rutenmeister“, und er bekommt für sein Wirken Geld. Regelmäßig reist er durchs Land, um sogenannte Störfelder auszupendeln: Straßenabschnitte, auf denen trotz einer einwandfreien Fahrbahn öfters Unfälle passieren. Das Besondere: Bezahlt wird er nicht von esoterischen Wohltätern mit einem Faible für Verkehrssicherheit, sondern von der Republik. Seit 15 Jahren entlohnt ihn die durch Steuern finanzierte Autobahnen- und Schnellstraßen-Finanzierungs-Aktiengesellschaft (ASFINAG) dafür, dass er die Straßen sicherer macht. Geldverschwendung für Hokuspokus? „Die Geldfrage stellt sich nicht“, sagt ASFINAG-Pressesprecher Harald Dirnbacher. „Tessmann kriegt pro Einsatz etwa 40 Euro. Darüber braucht man nicht reden.“ Im Jahr sind es etwa 3.000 Euro, die die zwei intern „Entstörungsmeister“ genannten Rutengänger Ilmar Tessmann und Gerhard Pirchl von der ASFINAG bekommen.
„Wir setzen sie an Stellen ein, an denen es ohne offensichtlichen Grund häufig zu Unfällen kommt“, sagt Dirnbacher – und setzt mit der informellen Erklärung nach: „Für uns ist wichtig, dass wir uns im Nachhinein nicht vorwerfen müssen, wir hätten nicht alles getan, um Unfälle zu vermeiden.“ Es gilt der Grundsatz: Solange das Tun von Tessmann und Pirchl keinen Schaden anrichtet, sondern im besten Fall eine positive Veränderung, also weniger Unfälle bewirkt, ist es gerechtfertigt. 39.884 Unfälle, die 730 Tote und rund 52.000 Verletzte forderten, gab es auf Österreichs Straßen laut Statistik Austria im vergangenen Jahr. Die meisten davon in Oberösterreich, gefolgt von Niederösterreich und der Steiermark. Seit 2005 sind sie um 2,5 Prozent zurückgegangen. Liegt ein Teil dieses Verdienstes bei den Rutengängern? Empirische Studien über ihre Erfolgsquote sind rar. „Wir haben eine von der Arlberger Schnellstraße. Der Rutengänger hat zwei Jahre gebraucht, um die Strecke zu entschärfen. Im darauf folgenden Jahr gab es um siebzig Prozent weniger Unfälle“, sagt Harald Dirnbacher.
Tatsächlich stellt der staatlich abgesegnete Einsatz von Rutengängern keine Folge des Esoterikbooms der Neunziger dar, sondern hat Tradition – nicht nur hierzulande, sondern in ganz Europa. In Österreich übernahm die 1982 gegründete ASFINAG die Idee von den damals noch existierenden Autobahnmeistereien. Auch Deutschland setzt heute Rutengänger ein. Noch schräger geht es in Island zu: In der Hauptstadt Reykjavik gibt es das Amt des „Elfenbeauftragten“. Dessen Kompetenz reicht über die Verkehrssicherheit hinaus. Will man in Island bauen, sei es ein Haus oder eine Straße, wird die Stelle zunächst auf möglichen Elfen- und Koboldverkehr untersucht. Befindet der Beauftragte, dass am nämlichen Ort solcherlei Sagengestalten wohnen, darf nicht gebaut werden – insbesonders Elfen sind scheue Wesen und könnten durch Baulärm aufgeschreckt und vertrieben werden.
Ilmar Tessmann läuft für die ASFINAG seit Anfang der Neunziger die heimischen Straßen ab. Seine Berufung entdeckte er aber schon lange vorher: im Jahr 1980. Gemeinsam mit seiner Frau baute er damals im kärntnerischen Eberstein ein Hotel, das Biolandhaus Arche. Das Ehepaar hatte mit Wasserknappheit zu kämpfen; ein herbeigerufener Rutengänger sollte durch das Aufspüren einer Wasserader Abhilfe schaffen. Man grub und grub, eine Quelle fand sich freilich nicht. Entnervt versuchte es Tessmann schließlich auf eigene Faust. „Ich hab eine Astgabel von einem Busch gerissen und ein paar Meter weiter gespürt: Da ist Wasser. In kaum zwei Metern Tiefe sind wir dann auf eine Quelle gestoßen.“ Fortan vertieft sich Tessmann in das Thema Rutengängerei und beschließt, seine Fähigkeit auch dem Rest der Menschheit zugute kommen zu lassen. Dabei stößt er bis heute auf wenig Verständnis. „Die Leute haben schon oft gesagt: Da kommt schon wieder der Tessmann, der alte Spinner.“
Wie er zu seinen Aufträgen kommt? Das Gros der unfallträchtigen Straßenstellen wird ihm von der ASFINAG zugeteilt. „Ich höre aber auch regelmäßig die Verkehrsnachrichten, manche der Unfallstellen suche ich dann von selber auf.“ Vorher druckt er sich die Stelle auf einer Straßenkarte mit Standorten von Senderanlagen auf senderkataster.at aus und eruiert ein mögliches Störfeld. Nicht alle Sender würden negative Energie ausstrahlen. Aber wie erkennt der Rutenmeister die schädigenden Masten? Tessmann seufzt. „Verstehen Sie das nicht? Wenn in der Erde ein Störfeld ist, verbreitet der Mast die Impulse weiter. Dadurch wird die negative Energie verdoppelt.“ Störfelder könnten durch Erdstrahlen, Wasseradern oder Magnetfelder entstehen.
Was qualifiziert ausgerechnet Tessmann und Pirchl zu dieser Arbeit? „Die beiden machen das fast ehrenamtlich. Es gibt andere Rutengänger, die wollen das kommerziell vermarkten“, sagt ASFINAG-Sprecher Dirnbacher. Soll heißen: Tessmann und Pirchl sind die günstigste Variante der Rutengänger. Von der Mehrheit der Österreicher wird das Rutengehen, dessen Tradition bis ins Mittelalter zurückreicht, gestern wie heute gern als Blödelei abgetan. „Mittlerweile wird die Ausübung aber viel mehr akzeptiert“, sagt Elfriede Pell, Generalsekretärin des Verbandes für Radiästhesie und Geobiologie, der seit etwa hundert Jahren existierenden Dachorganisation, die nach eigenen Angaben rund 800.000 Mitglieder zählt.
Unklar sei freilich, wie viele Rutengänger es im Lande gibt. „Von unseren Mitgliedern sind vielleicht fünfzig Prozent Rutengänger“, sagt Pell. „Aber das ist schwer zu sagen, weil man keine Vorraussetzungen mitbringen muss, um aufgenommen zu werden. Pures Interesse reicht aus.“ Selbst wenn die Bevölkerung ihre Skepsis gegenüber Rutengängern angeblich verstärkt ablegt – Wissenschaftler tun das nicht. „Diese Methode ist in keiner Weise fundiert. Ich halte nichts davon und kann fachlich auch nichts dazu sagen“, sagt Johann Litzka, Dekan der Fakultät für Straßenbauwesen an der Technischen Universität (TU) Wien. Ähnlicher Ansicht ist Herbert Störi, der Leiter der Allgemeinen Physik an der TU. „Ich kann nicht sagen, ob es wahr oder falsch ist, weil es für uns als Wissenschaftler nicht zugänglich ist. Wir haben kein direktes Wirkungsmodell, das heißt, wir können uns nur auf Empirie und Statistiken berufen. Wenn etwas keinem experimentellen Test unterzogen werden kann, steht es für uns außer Betracht.“
Tessmann hört solcherlei nicht zum ersten Mal. Der professionelle Rutengänger nimmt Spott einem Märtyrer gleich hin. „Meine Aufgabe ist eine Berufung“, sagt der studierte Theologe. „Ich segne den Platz und versiegle ihn mit den Zeichen, die ich setze. Mit meinen Schmerzen und mit meiner Müdigkeit.“ Wenn Tessmann über seinen Job spricht, tut er das langsam und leise, fast andächtig. Auf Menschen, die seine Sicht der Dinge nicht teilen, reagiert er teils ungeduldig, teils mit herablassender Nachsicht. Dann klemmt er seine Daumen hinter die dunkelgrünen Hosenträger über dem blütenweißen Hemd und spricht wie ein Vater zu seinem unwissenden Kind. „Es wird immer Meister und Lehrbuben geben. Einige wenige an der Spitze und die Mehrzahl unten.“ Bevor Tessmann das Rutengängertum für sich entdeckte, arbeitete er als Seelsorger der katholischen Kirche in Wiener Neustadt. Seine Situation vergleicht er mit einer Bibelstelle im Lukas-Evangelium, Kapitel 17, Vers 11-19. Es ist die Geschichte der zehn Aussätzigen, die alle von Jesus geheilt werden – aber nur einer kehrt nach der Heilung zurück, um ihm zu danken und Gott zu preisen. „Ich kann nicht sagen, dass es mir besser geht“, sagt Tessmann.
Die Unfallstelle auf der S1 ist leicht zu erkennen – grüne Markierungen zeichnen die Umrisse der kollidierten Fahrzeuge auf der Schnellstraße ab. Zu Sommerbeginn ist hier der Fahrer eines Sattelschleppers am Steuer eingeschlafen und in ein Markierungsfahrzeug der ASFINAG gekracht. Die Gesichter der begleitenden ASFINAG-Mitarbeiter sind interessiert; kein Lächeln oder Witzeln kommt über ihre Lippen. Tessmann hat den Grund für den Unfall schnell ausgemacht: ein Sendemast auf der Anhöhe, links neben der Autobahn. Die nahe gelegenen Felder sind lediglich von Strom- und Sendemasten unterbrochen. „Eigentlich genügt es, wenn ich die Stelle segne“, sagt er überzeugt. „Als Priester habe ich dazu die nötige Vollmacht.“ Das Problem dabei: „Sobald einer im Auto flucht, wird dieser Schutz wieder zerstört.“ Also sind handfestere Mittel gefragt. Tessmann holt ein tannengrünes Plastikkärtchen, Darzon genannt, aus der Tasche seiner schlammfarbenen Schnürlsamthose hervor. Dieses Plättchen vergräbt er am Straßenrand. Es hemmt angeblich die elektromagnetischen Wellen und unterbricht so das Störfeld. Der Begriff „entstören“ gefällt ihm allerdings gar nicht. „Ich kann die negative Energie nur in eine positive umpolen. Ich kann sie ja nicht vernichten.“