Die Geburt einer Nation

Henri Cartier-Bresson fotografiert das Indien Mahatma Gandhis.

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Fotografie:
Henri Cartier-Bresson
DATUM Ausgabe Juni 2025

Vier verschleierte Frauen ­stehen auf einem wind­gepeitschten Hügel, die Rücken zur Kamera gewandt.
Eine von ihnen hebt die Arme – zeigt, gestikuliert, greift – in Richtung des darunterliegenden Tals von Kaschmir. Dieses Bild des Fotografen Henri ­Cartier-Bresson aus dem Jahr 1948 ist gleichzeitig still und erschütternd. Es hält einen ­Moment fest, der privat wirkt, aber historisch ist und Themen von Exil, Rückkehr, Sehnsucht und Verlust aufgreift.

Cartier-Bresson (1908–2004), in Frankreich geboren und als Maler ausgebildet, wurde stark vom Surrealismus beeinflusst. Als Mitbegründer der welt­b­e­rühmten Fotoagentur Magnum Photos wurde er dafür bekannt, den sogenannten ›entscheidenden Moment‹ einzufangen – jenen Augenblick, in dem Form, Gefühl und Bedeutung im Bild zusammenkommen. Er gilt bis heute als einer der einflussreichsten Fotografen überhaupt. 

Auf seiner Reise durch­ ­Indien 1947/48 sah er sich mit einer Welt im Umbruch konfrontiert: Das Land war gerade geteilt worden. Fünfzehn Millionen Menschen wurden vertrieben. Die Gewalt eskalierte. Gandhi, der geistige und politische Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung, wurde ermordet. Und Kaschmir – jenes Land, das die Frauen im Foto betrachten – wurde zum Brennpunkt. Die Ereignisse jener Jahre legten den Grundstein für einen langen und bitteren Konflikt, der bis heute andauert. 

Doch Cartier-Bressons Linse erfasste mehr als nur die Krise eines Landes. Seine Bilder sind voller Widersprüche: eine ­trauernde Menge, Nehru, der ehemalige Premierminister, in ausgelassener Stimmung, kämpfende Elefanten. Jedes Bild enthält eine Spannung zwischen Spektakel und Intimität, privatem Leben und ­öffentlichem Aufruhr. 

Sie heute zu betrachten heißt, wie jene Frauen am Rand zu stehen und in eine Welt zu schauen, die gleichzeitig aus Schönheit, Gewalt, Vergangenheit und ungewisser Zukunft besteht. Bis zum 21. September sind diese Bilder und über 240 weitere Fotografien in der Ausstellung ›Henri Cartier-Bresson: Watch! Watch! Watch!‹ im Foto Arsenal Wien zu sehen. •

Gandhar Pandit nimmt derzeit am Programm für Museumsstudien an der Central European University in Wien teil und arbeitet als Praktikant für das Foto Arsenal Wien – das neue Zentrum für Fotografie und Lens Based Media in Österreich.  www.fotoarsenalwien.at  

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