Die Spendenfalle

Hunderte Menschen schicken zehntausende Euros an eine private Spendenaktion, angeblich ins Leben gerufen von Hinterbliebenen des Grazer Amoklaufs. Doch hat den Aufruf wirklich eine betroffene Familie gestartet?

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Illustration:
Georg Feierfeil
DATUM Ausgabe Oktober 2025

Als ein ehemaliger Schüler des BORG-Dreierschützengasse am 10. Juni dieses Jahres neun Jugendliche und eine Lehrerin erschoss, ging nicht nur eine Welle des Entsetzens durch Österreich, sondern auch eine der Solidarität. In An­wesenheit des Bundespräsidenten versammelten sich in Graz zahlreiche Menschen zu einer Gedenkfeier. Bundeskanzler Christian Stocker rief eine dreitägige Staatstrauer aus. Online bekundeten tausende Menschen ihr Beileid. Vielen war das jedoch nicht genug. Sie wollten direkt helfen; mit finanzieller Unterstützung für die Kosten der Begräbnisse der Opfer und die psychologische Betreuung der Angehörigen.

Als nur einen Tag später der Spendenaufruf ›Amoklauf Graz – Hilfe für uns Hinterbliebenen‹ (sic) auf der Crowd­funding-Plattform ›GoFundMe‹ online ging, stieß die Aktion deshalb auf große Resonanz, auch Medien berichteten darüber. User teilten den Link zum Spendenaufruf auf Facebook, darunter auch eine Frau, die schrieb, selbst eng mit einem der verstorbenen Kinder verwandt zu sein. Sogar Daniel Kos, FPÖ-Politiker und Bürgermeister von Leibnitz, warb dafür, Geld zu schicken.

Gestartet hatte den Spendenaufruf ein Account namens ›S O-G‹. Aus der Beschreibung der Aktion geht hervor, dass die Initiatoren direkt vom Amoklauf betroffen seien: ›Wir als ange­hörige Familien sammeln Spenden – fair aufgeteilt und transparent an alle Angehörigen, mit denen wir im Kontakt stehen und auch alle, die sich noch ­melden.‹

Nach drei Monaten waren so 37.262 Euro bei der privaten Spendenaktion eingelangt, überwiesen von 623 Spendern. Sie alle schickten ihr Geld, um direkt denjenigen zu helfen, die Kinder beim Amoklauf in Graz verloren hatten. Eine schöne Geschichte über Solidarität und Hilfe in Not. Oder?

Anfang September erreichte DATUM ein schwerer Vorwurf in Form einer E-Mail. Hinter dem Spendenaufruf ›Amoklauf Graz – Hilfe für uns Hinterbliebenen‹ sollte laut einer Hinweisgeberin aus Deutschland keine betroffene Familie, sondern jemand ganz anderes stehen. Eine junge Österreicherin namens Sanela G., die sich bloß als Angehörige der Opfer des Amoklaufs ausgebe und gleich mehrere falsche Identitäten kreiert habe, um Spendengelder zu erschummeln.

Die Hinweisgeberin schildert während einiger Telefonate und in E-Mails an DATUM ein komplexes Lügenkonstrukt, das G. aufgebaut haben soll. Sie leitet Screenshots weiter und schickt Videoaufnahmen von Chats und aus den Sozialen Medien. Eine Zeit lang reicht die Frau jeden Tag neue Details nach.

Sie glaubt außerdem, Sanela G. in einem neun Jahre alten Artikel wiedererkannt zu haben. Damals schrieb das Medium Vice über eine Sanela, deren Nachname allerdings mit I begann. In den 2010er-Jahren behauptete diese, eine österreichische Polizistin zu sein, die Spenden sammelt und nach Lesbos, Aleppo und Damaskus reist, um dort Menschen in Not zu helfen – bis sie sich angeblich das Leben nahm. Die Recherchen von Vice widerlegten die meisten Behauptungen der Frau, auch ihren vorgetäuschten Suizid. Belege, dass je Spenden bei Geflüchteten angekommen wären, habe es damals keine gegeben. 

Kann es sein, dass es sich heute – immerhin neun Jahre später – um dieselbe Sanela handelt? Ihr Instagram-Account legt das nahe. Den startete sie noch unter demselben, mit I beginnenden Nachnamen, wie die URL des Profils zeigt.

Wird hier also wirklich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen im Namen der Hinterbliebenen des Grazer Amoklaufs Geld gesammelt? Und wer ist die Frau, der das vorgeworfen wird?

Im Internet lässt sich nicht viel über Sanela G. herausfinden. Auf Instagram folgen ihrem privaten Account mehr als 16.000 Menschen. Sie ist Mitte 30, momentan in einer steirischen Stadt gemeldet und hat langes, schwarzes Haar und einige Tattoos am Körper. Bis Mitte des Sommers war G. beim Roten Kreuz in der Steiermark ehrenamtlich tätig. Von ihrem Ex-Partner hat sie ihren neuen Nachnamen G., die Hochzeit fand 2018 statt. Ein Eintrag in einer steirischen Stadtzeitung aus dem Oktober 2018 belegt das. Mittlerweile leben die beiden aber schon seit einigen Jahren getrennt.

Wieso vermutet die Hinweisgeberin dennoch, dass hinter dem Spendenaufruf Sanela G. steckt und nicht echte Hinterbliebene ihn gestartet haben? Zu den Opfern des Amoklaufs von Graz steht G. allem Anschein nach nicht in einem Naheverhältnis. 

Die Begründung der Hinweisgeberin: Vier Facebook-Profile – Kerstin O., Li Sa, Ela San und Mariella Patrick G.-S. – warben von Beginn an massiv für die Spendenaktion und verteidigten sie gegen Kritik. Sie alle sollen gefälscht sein und von Sanela G. stammen.

Und tatsächlich tauchen bei genauerem Hinsehen Zweifel an der Echtheit der Accounts auf. Kerstin O. etwa soll als Hebamme am LKH Graz angestellt gewesen sein. Dort aber weiß man von keiner Mitarbeiterin dieses Namens. Ihr Profilbild zeigt eine Frau, die in Wahrheit anders heißt und aus Oberösterreich stammt.

Ein anderes Konto, ›Li Sa‹, gab sich als enge Verwandte eines erschossenen Kindes aus, das am 13. Juni begraben wurde – nur wurde an diesem Tag keines der verstorbenen Kinder beerdigt. Sie postete außerdem in einem anderen Kontext Fotos, auf denen ein Tattoo zu sehen ist, das identisch mit einem der Tattoos von Sanela G. ist.

›Ela San‹ wiederum ist schlicht ein Anagramm von G.s Vornamen.

Auch untereinander sind die Accounts auffällig verknüpft. In einem Fall versucht ›G.-S.‹, ›Ela San‹ einen Job zu vermitteln, woraufhin die Profile ›Kerstin O.‹ und ›Li Sa‹ die angebliche Bewerbung ihrer vermeintlichen ehemaligen Chefin, Ela San, unterstützen.

Einiges deutet also darauf hin, dass die einzigen vier Konten, die aktiv ›Amoklauf Graz – Hilfe für uns Hinterbliebenen‹ verbreiteten und verteidigten, unter der Kontrolle von Sanela G. stehen.

Um herauszufinden, ob und wie eng G. mit dem Spendenaufruf auf GoFundMe verbunden ist, schickt DATUM deshalb am 13. September ein paar allgemeine Fragen über ein Kontaktformular der Aktion an die Organisatoren. Am Montag, einen Tag später, folgt die Antwort. 

Eine Person, die sich als Bettina A. vorstellt, erklärt via Mail, der Spendenaufruf sei von betroffenen Familien gemeinsam gestartet worden, ›um füreinander da zu sein und einander in dieser schweren Zeit zu unterstützen‹. Die Aktion sei geprüft, verifiziert und das Geld größtenteils bereits an die Hinterbliebenen ausgezahlt worden, die genaue Aufteilung hätten die Familien privat geregelt. Mittlerweile sei der Spendenaufruf beendet. Weitere Auskünfte zu einzelnen Personen, zur Verwendung der Gelder oder zur genauen Höhe der Auszahlungen will A. nicht geben. Zugleich bittet sie um Respekt vor der Privatsphäre der Familien und darum, von weiterer medialer Berichterstattung Abstand zu nehmen.

Nach mehreren Bitten um ein kurzes Telefonat schreibt A.: ›Ich hoffe, Sie verstehen, dass ich in Bezug auf die Weitergabe meiner Telefonnummer vorsichtig bin. In der heutigen Zeit kann man nicht vorsichtig genug sein.‹ Nur mit unterdrückter Nummer wäre ein Gespräch möglich. Allerdings erst abends, denn im BORG-Dreierschützengasse finde an diesem Tag eine Elternsitzung statt, von der sie erst spät nach Hause kommen werde.

Entgegen den Behauptungen von Bettina A. läuft der Spendenaufruf zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme immer noch, wie sich über die GoFundMe-Seite leicht feststellen lässt. Erst ein paar Tage zuvor hatte der Verein ›Martins Vermächtnis‹ tausend Euro gespendet. Er wurde von den Eltern eines kleinen Buben mit frühkindlichem Autismus gegründet, der mit fünfeinhalb Jahren bei einem Unfall verstarb.

Und am 14. September gab es gar keine Elternsitzung in der vom Amoklauf betroffenen Schule. Helga Chibidziura, stellvertretende Obfrau des ­Elternvereins des BORG-Dreierschützengasse, bestätigt das auf Anfrage. Und selbst sie wisse nicht, welche Hinterbliebenen genau hinter dem privaten Spendenaufruf stehen würden.

Es gibt also nur einen Weg, wirklich zu klären, wer hier Spenden sammelt und wohin das Geld fließt: Und der führt zu den Eltern der am 10. Juni getöteten Kinder. Bislang haben nur wenige Familien sich bereit erklärt, öffentlich zu sprechen. Ein Elternpaar schilderte die Geschichte ihrer verstorbenen Tochter ausführlich im Profil. Deshalb nahm DATUM Kontakt mit Daniela Breščaković, der Autorin des Artikels, auf.

Wenig später schloss sich Profil dieser Recherche an. Denn durch einen fast unglaublichen Zufall kam auch Breščaković mit Sanela G. in Kontakt. Gegenüber der Journalistin trat sie nämlich mit ihrem vollen Namen als angebliche Whistleblowerin auf und behauptete, Informationen zu besitzen, die APCOA, Europas größten Betreiber von Parkflächen, schwer belasten würden. Sie unterschrieb sogar eine eidesstattliche Erklärung, um ihre Anschuldigungen gegen APCOA zu untermauern. Breščaković traf sich deshalb mehrmals mit G.

Außerdem erwähnte G. unabhängig davon im Gespräch mit Breščaković den privaten Spendenaufruf, behauptete, die Cousine eines der verstorbenen Kinder zu sein und deshalb im Kontakt mit der Grazer Bürgermeisterin Elke Kahr zu stehen. Sie bat Profil sogar darum, den Spendenaufruf zu bewerben. 

Tatsächlich hatte die Grazer Bürgermeisterin mit G. via Mail Kontakt, wie aus dem Rathaus bestätigt wird. Ist diese gesamte Recherche also nur ein großes Missverständnis?

Um das herauszufinden, bekommt DATUM dank Breščaković schließlich Zugang zur Familie des verstorbenen Mädchens. Während eines Telefonats erzählt ihr Vater, wie er Anfang Juli auf den privaten Spendenaufruf aufmerksam wurde und die Initiatoren kontaktierte – nicht aus finanzieller Not, sondern um zu erfahren, wer da für wen Geld sammelte. Eine Frau, die sich ihm gegenüber über das Telefon als Daniela H. vorstellte, teilte ihm mit, tausend Euro seien ausdrücklich für seine Tochter gespendet worden. Davon seien hundert Euro sogar explizit vom Musiker Christopher Seiler seiner Tochter gewidmet worden. H. kenne Seiler nämlich persönlich. Weitere hundert Euro würden von einer gewissen Sanela stammen. Am 14. August bekam der Vater schließlich das Geld überwiesen – und zwar von einem Konto, das auf Sanela G.s Namen läuft.

Auch die Nummer, mit der die vermeintliche Daniela H. den Vater kontaktierte, gehört wohl Sanela G. Mit dieser Nummer hatte sie nämlich unter anderem Kontakt mit Breščaković. Weder die im Text genannte Daniela H. noch Bettina A. gibt es unseren Recherchen zufolge wirklich.

Beim Musiker Christopher Seiler hatte sich via Instagram eine Person unter Angabe von G.s Telefonnummer tatsächlich gemeldet. Sie gab sich dabei mit dem Profilnamen ›stura_fam‹ als männlicher Polizist aus und bat Seiler darum, den Spendenaufruf der Eltern auf seinem Instagram-Account zu bewerben. Als er anbot, tausend Euro zu spenden, leitete sie als Empfänger den echten Namen der Mutter eines verstorbenen Kindes weiter – nannte als die dazugehörige IBAN aber den von G.

Pietätlos ist das alles zweifellos. Aber ist es auch ein Verbrechen?

Das hängt vor allem davon ab, ob das gesammelte Geld tatsächlich an die Hinterbliebenen weitergeleitet wurde. Zumindest ein Vater erhielt tausend Euro, DATUM liegt ein Foto des Bankauszugs vor, der das beweist.

Um herauszufinden, ob auch die Eltern der anderen acht verstorbenen Kinder Geld von dem privaten Spendenaufruf erhalten haben, schreibt der Vater, mit dem DATUM in Kontakt steht, am 17. September in die gemeinsame WhatsApp-Gruppe der Familien. Die Familien reagieren verwirrt und fragen, um welchen Spendenaufruf es überhaupt gehe. Niemand hier sei mit einer Sanela G. verwandt. Und auch kein weiteres Elternteil habe Geld bekommen, antworten die Mütter und Väter.

Wo auch immer sich die restlichen 36.262 Euro zu diesem Zeitpunkt befanden – an die Hinterbliebenen waren sie nach deren Auskunft jedenfalls nicht gegangen.

Was also ist mit all dem Geld geschehen? DATUM und Profil haben Sanela G. am 23. September mit den gesammelten Recherchen konfrontiert und ihr eine Reihe von Fragen am Telefon gestellt, darunter auch diese. Sie stritt alle Vorwürfe ab und wollte nicht sagen, wer genau hinter dem Spendenaufruf steht und wie sie damit konkret in Verbindung steht.

Die Plattform ›GoFundMe‹ antwortete ebenfalls nicht auf eine Anfrage zu der Spendenaktion. Allerdings sind die dorthin überwiesenen Gelder durch das Unternehmen ein Jahr lang abgesichert. Wer gespendet hat, kann die verschickte Summe also theoretisch noch zurückbekommen – allerdings nicht von Sanela G., sondern von der Plattform selbst.

Wie es jetzt mit Sanela G. weitergeht, ist unklar. In den vergangenen Jahren wurden G. bereits mehrere Delikte zur Last gelegt, darunter Urkundenfälschung, Betrug, schwerer Betrug, Diebstahl und Einmietbetrügerei. Nach den Recherchen von DATUM und Profil nahm die Polizei nun Ermittlungen gegen die Frau auf. 

Einstweilen setzt G. alles daran, ihre Handlungen zu vertuschen. Als ihr klar wurde, dass ihr Tun aufgeflogen war, begann sie auf Facebook die Kommentare ihrer Fake-Accounts zu löschen. Auch die meisten Profile selbst verschwanden. Kurzfristig war sogar der Spendenaufruf offline, ging dann wieder online – und ist zu ­Redaktionsschluss nun doch wieder beendet.

Ob aus Reue oder Angst vor Konsequenzen: Zwei Familien übergab G. wenige Tage später dann tatsächlich noch Kuverts mit Bargeld. Darin befanden sich 521 und 605 Euro. Es sei nicht mehr das gesamte gespendete Geld übrig, erklärte sie ihnen. Einen Großteil habe G. nämlich bereits unter anderem an das Rote Kreuz und an Moscheen gespendet. •