Ein Soldat sucht Frieden
Der russische Ex-Soldat Andrei will nicht mehr zurück an die Front, deshalb verlässt er seine Heimat. In Österreich versucht er, die Erinnerungen an die Vergangenheit abzuschütteln.
An einem Abend im Sommer des Vorjahrs hockt Andrei am Donaukanal mitten in Wien vor einem Fahrrad. Ein großer Mann, trainierter Körper, kräftige Hände. Er trägt Vollbart, die Haare kurz geschoren, dazu Brille. Auf dem Boden um ihn herum überall Werkzeug, davor ein Schild: ›Hallo ich bin Andrei. Ich bin professioneller Fahrradmechaniker und bin kurz vor meiner Zwangseinberufung in Russland vor dem Krieg und Morden geflohen. Ich könnte für eine freiwillige Spende Dein Fahrrad schnell und professionell warten.‹ Während sich Jugendliche an Dosenbier und Becherwein erfrischen, schmiert Andrei rasselnde Ketten und werkelt an bockigen Schaltungen. Eine Zigarette im Mundwinkel, schaut er dabei Richtung Wasser. Auf jenen Fluss, der dort im Osten, stromabwärts, hunderte Meter breit ist, und an dessen Ufern er fast umgekommen wäre, beim Versuch, dem Krieg zu entkommen.
Andrei war Soldat. Fast sein ganzes Leben lang. Der 45-Jährige hat in der russischen Armee gedient und in Tschetschenien und Dagestan gekämpft. Verwundungen, Tapferkeitsmedaillen, im ständigen Hin und Her zwischen Krieg und Normalität. Überzeugt, das Richtige zu tun, gegen Banditen zu kämpfen, Menschen zu schützen. Doch irgendwann wollte Andrei nicht mehr kämpfen. Er kehrte dem Soldatenleben den Rücken und suchte seinen Platz im Alltag ohne Krieg. Dann befahl Putin den Angriff auf die Ukraine und alles kam anders. Weil der Überfall zum Stellungskrieg wurde und Putin mehr und mehr Soldaten in die Schützengräben schicken muss, lief auch Andrei wieder Gefahr, eingezogen zu werden. Da wusste er: Es ist an der Zeit zu gehen. Weg aus Moskau, raus aus Russland. Und zwar rasch. Er brach auf, ließ sein bisheriges Leben zurück. Keinesfalls habe er in diesem sinnlosen Krieg kämpfen wollen – und auch nicht im Gefängnis landen.
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