Mut zur Intoleranz
Gemeinsam statt einsam‹, so lautete der Slogan der Beitrittskampagne vor der EU-Volksabstimmung in Österreich, das war vor genau 30 Jahren. In einer Freundesrunde erinnerten wir uns unlängst an das Gefühl von Hoffnung und Aufbruch, das wir verspürten, als sich die Österreicherinnen und Österreicher mit einer – aus heutiger Sicht sagenhaft wirkenden – Zwei-Drittel-Mehrheit dazu entschieden, Teil dieses Staatenbundes zu werden. Dieser 12. Juni 1994 war für viele unseres Alters einer der prägenden politischen Momente. Eine neue Ära war angebrochen, und zwar eine, die wir als junge Erwachsene – für manche war es die erste Stimmabgabe bei einer Wahl – selbst mitbestimmt haben.
Heute leben wir in einer anderen Ära, deren Grundton nicht Hoffnung, sondern Sorge heißt. Auch Sorge um die Europäische Union und ihre, also unsere Zukunft. Aber wir sorgen uns auch um die liberale Demokratie als solche. Von vielen Seiten sind ihre Idee, ihre Institutionen und Instanzen unter Druck. Dabei stellt sich heraus: Dieses wunderbare Wesen funktioniert nur, solange ein über alle Gräben der politischen Ausrichtungen hinweg gelebtes grundsätzliches Bekenntnis zu einigen Spiel- und Anstandsregeln herrscht – eine davon ist ein Mindestmaß an Faktentreue.
Eine weitere der Respekt vor den Ämtern und Institutionen des Staates. Wie aber geht die Demokratie damit um, wenn sich im demokratischen Prozess, der von einer zunehmend dysfunktionalen medialen Öffentlichkeit getragen wird, explizit demokratiefeindliche Ideen durchzusetzen beginnen? Wie reagieren wir auf nackte Propaganda, freche Lügen oder blanken Hohn gegenüber den Institutionen? Was, wenn Parteien, die das Spielfeld einer faktenbasierten politischen Auseinandersetzung längst verlassen haben, mit ihren Lügen in demokratischen Prozessen an die Macht kommen, dann aber nur ein Ziel haben: nämlich ebendiese demokratischen Prozesse zielgerichtet zu beschädigen oder abzuschaffen?
Muss die liberale Demokratie macht- und tatenlos dabei zusehen, wie ihre Strukturen und Funktionen dezimiert werden, die eigene Aushöhlung und Abschaffung tolerieren? Die Frage ist beileibe nicht neu. Bereits 1945 formulierte Karl Popper in ›Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‹ das Toleranz-Paradoxon, das letztlich das heutige Dilemma der liberalen Demokratie präzise beschreibt. Man kann viel von Popper lernen, schon der Wikipedia-Eintrag ist ein Gewinn. Eine universelle Toleranz – nach dem Motto: Wer tolerant ist, muss alles tolerieren, auch das, was ihn umbringt – lehnt er grundsätzlich ab. Vielmehr unterscheidet Popper zwischen Intoleranz ersten und zweiten Grades. Intoleranz ersten Grades ist gegen Menschen und ihre Sitten oder Gebräuche gerichtet ist, weil sie fremd sind. Intoleranz zweiten Grades jedoch gegenüber Menschen, ihren Sitten oder Gebräuchen, weil sie gefährlich oder selbst intolerant sind.
Mit dieser Intoleranz zweiten Grades müssen wir uns vertraut machen, damit arbeiten lernen. Wem eine demokratische Ordnung, die auf Freiheit, Offenheit und Rechtsstaat beruht, wichtig ist, darf sich nicht zurücklehnen und achselzuckend dabei zuschauen, wie das liberale Experiment in einer neuen Welle des Autoritarismus aufgeht. Die liberale Demokratie darf sich selbst schützen, aber die Verantwortung für ihre Selbstverteidigung kommt nicht nur den demokratischen Kräften in der Politik zu. An ihrer Seite stehen unabhängige Medien, die etwa über Korruption berichten können, ohne sich wegen eines ›Zitierverbots‹ strafbar zu machen. An ihrer Seite steht auch eine Zivilgesellschaft, die immer und immer wieder aufzeigt, dass wir uns einem Abdriften ins Autoritäre entgegenstellen. Gemeinsam. •
Ich wünsche Ihnen viel Freude mit den Seiten der Zeit!
Ihr Sebastian Loudon
sebastian.loudon@datum.at