Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Von der Flucht in elektronische Feenwelten.
Hier werden normalerweise Gesellschaftsspiele besprochen. Aber statt in Gesellschaft sitzt der Mensch heutzutage oft in Single-Haushalt-Anzahl vor Bildschirmen und versucht zu verdrängen, was um ihn herum passiert, denn es ist meistens unangenehm (Erderhitzung, Teuerung, Krieg). Dabei hilft ihm die elektronische Unterhaltungsindustrie.
Deshalb nun also zur Abwechslung zu Spielen, die die Menschen an sich ketten, die durch ihr Design eine verbindliche Erfahrung sind, und zwar nicht nur für einige Stunden, wie Kinofilme oder Serien. Zum Beispiel die medial gefeierte 20-teilige Nintendo-Serie ›The Legend of Zelda‹. Im Mai kam der heiß erwartete jüngste Teil heraus und verkaufte sich in den ersten drei Tagen bereits zehn Millionen Mal. Wundertoll, 10/10, sagen gefühlt alle – aber was machen sie da eigentlich? Das Spiel dauert auf regulärem Weg etwa 60 bis 80 Stunden, und wenn man es in allen seinen Möglichkeiten auskostet, 200. Eine Zeit, in der man locker ›Ulysses‹, ›Der Mann ohne Eigenschaften‹ oder das Gesamtwerk von Elfriede Jelinek lesen könnte. Offenbar ziehen wir es aber auch als Erwachsene vor, in einem fantastischen Feenland eine Elfenprinzessin zu retten.
Indem man nur durch seine Daumen von Himmelsinseln auf eine allzu grüne Wiese paragleitet, sich freut, dass man in dieser Fantasiewelt in alle Richtungen laufen kann (was offenbar etwas Besonderes ist), und durch dubiose Geschicklichkeitsspiele ›Herzen‹ und ›Kräfte‹ sammelt, mit denen man sich ›Schwerter‹ und ›Ausrüstung‹ ›verdient‹, Pferde zähmt, bei Kälte friert, bei Hitze schwitzt und feindliche Monster namens Chuchu, Moblin oder Pebblit ›bekämpft‹. Das alles erlebt man auf einen etwa 20 Zentimeter breiten Bildschirm starrend, mit einer dafür exklusiv zu erwerbenden Konsole, die selbst über 300 Euro kostet (und alle paar Jahre erneuert werden muss).
Nach Zelda, Monate später, haben die noch erwachsener gewordenen Spieler das Gefühl, Monumentales geleistet zu haben. Es spielt dann keine Rolle mehr, ob zig Stunden im Monsterland nicht einfach nur eine äußerst langwierige, kindische Flucht vor der echten Welt waren. •
›The Legend of Zelda: Tears of the Kingdom‹, Plattform: Nintendo Switch, Design: Hidemaro Fujibayashi