Bolsonaros Kohle
Kein Brennstoff heizt die globalen Temperaturen so sehr an wie dieser fossile Energieträger. Die brasilianische Regierung investiert trotzdem weiter in die Branche. Ein Dorf am Rio Carvão hat ihr jetzt den Kampf angesagt.
Milchig hellbraunes Wasser, die Steine im Fluss sind orange verfärbt. Farben, die zeigen, dass dort saure Abflüsse hineingeleitet werden – einer der schwersten Umweltschäden, die der Bergbau verursacht. Rio Carvão: Auf Deutsch übersetzt heißt das ›Kohlefluss‹. Die Gemeinde, die an dem Fluss liegt, trägt denselben Namen. Ein Name, der das Leben hier prägt. ›Wir leben hier am stärkst verschmutzten Ort der Welt. Wir wollen saubere Jobs, gesunde Jobs und dass sich die Natur erholen kann‹, sagt eine Anführerin der Gemeinde, nennen wir sie Branca Muniz. Ihren echten Namen will sie nicht gedruckt sehen. Zu oft habe sie bereits Drohungen erhalten, sei verfolgt worden. Sie solle sich lieber nicht mit der Kohleindustrie anlegen, habe man ihr immer wieder klarmachen wollen, erzählt sie.
Denn nachdem der Bergbau über viele Jahrzehnte die Umwelt zerstörte und der Gesundheit vieler massiv schadete, entschlossen sich die etwa 500 Menschen in Rio Carvão zu kämpfen: gegen die Kohle, für ihren Fluss. Das hellbraune Rinnsal, das heute durch die Gemeinde fließt, sei nicht mehr ihr Fluss, sagt Muniz. Die Kohle habe den echten Rio Carvão erstickt.
›Wenn man ein Stück Eisen in den Fluss wirft, löst es sich auf. Wir scherzen, dass der einzige Fisch, der hier vorkommt, der Fisch aus rostfreiem Stahl ist‹, sagt ein Bewohner des Dorfes, Hélio Alves Barbosa.
Die Behörden wissen, wie belastet das Wasser ist. Das Bundesministerium für öffentliche Verwaltung ließ den Säuregehalt mehrerer Flüsse im gesamten Kohlerevier im Bundesstaat Santa Catarina messen: Insgesamt sind es rund 1.200 Kilometer an Flüssen, die einen pH-Wert von unter 5 haben. Zusätzlich vergiften auch Schwermetalle das Wasser. Leben gibt es damit kaum mehr.
Barbosa sieht jeden Tag, warum der Rio Carvão zu einem so tödlichen Gewässer wurde: Von einem Fenster des kleinen Hauses, in dem er und seine Familie leben, blickt er auf einen schwarzen Krater, wo seit Jahrzehnten Kohleabfälle abgelagert werden. ›Dieses Land war einmal das Reisfeld meines Schwiegervaters‹, sagt er.
Regnet es, dann bilden sich orange Pfützen zwischen den teerfarbenen Hügeln. Sie haben dieselbe Farbe wie der Fluss. Wenn es trocken ist, beobachtet Barbosa ab und zu Brände und weiß: Der Kohleabfall hat sich entzündet. Ähnliche apokalyptische Bilder sind auch an anderen Orten rund um die Gemeinde zu sehen: Mondlandschaften wie jene vor Barbosas Haus erstrecken sich über rund 435 Hektar Boden in Rio Carvão. In der gesamten Kohleregion von Santa Catarina sind es etwa 6.000 Hektar. Auch unterirdisch führt das zu schweren Schäden: An einigen Stellen ist der Boden abgesunken und hat Risse in den Wänden der Häuser hinterlassen, Trinkwasserquellen sind versiegt.
Die Industrie stelle den Profit über alles andere, kritisieren Sprecherinnen der Gemeinde wie Branca Muniz – über die Natur, über die Lebensgrundlagen, über die Gesundheit der Menschen. Viele ehemalige Minenarbeiter können nur mit Teilen ihrer Lungen atmen, weil diese durch Kohlepartikel angegriffen wurden. Einer von ihnen ist Armandio Seron, der 20 Prozent seiner Lungenkapazität verloren hat. Er war in die Fußstapfen seines Vaters und seiner zwei Brüder getreten, die ebenfalls in den Minen arbeiteten. ›Die Arbeit hat uns Status verliehen. Die Bezahlung war die beste, die es gab. Aber heute sehen wir den Schaden‹, sagt er.
Doch wer soll für den Schaden zahlen und ihn beheben? Zwar entschied ein Gericht im Jahr 2000, dass die Bergbaufirmen die Abbaugebiete reinigen und die stillgelegten Minenschächte ordentlich schließen müssen. Doch bis das Urteil gesprochen wurde, waren die meisten Firmen in Konkurs und die Aufgaben wurden an die Regierung übertragen. Die Aufräumarbeiten gehen nur sehr schleppend voran, sagt die Gemeinde. Die Verpestung durch die stillgelegten Minen ist dieselbe, wie auch die Luftverschmutzung durch die weiterhin aktive Industrie in der Gegend.
Weil die Emissionen der Anlagen nicht gut gefiltert werden, klebt immer wieder Ruß an den Häuserwänden von Rio Carvão. Wie das aussieht, zeigt Fátima Ivonete Cesconetto Piva: Die 63-jährige Frau fährt mit ihren Fingern über die dunkelrot gestrichenen Fensterläden und zeigt dann ihre Hände, auf denen nun schwarze Partikel kleben. Sie sei erschöpft, sagt sie. Vom Streit mit der Industrie und von den Anfällen von Kurzatmigkeit, die sie oft ins Krankenhaus bringen. ›Manchmal denke ich, dass ich sterben werde‹, sagt sie.
Wegen gesundheitlicher Schäden wie diesen versucht die Gemeinschaft, Druck auf die Kohleindustrie zu machen. Das ist nicht ungefährlich, erzählt die Anführerin Branca Muniz. Immer wieder müssen Wortführerinnen wie sie wegen Drohungen aus dem Rampenlicht verschwinden.
Hinter der Kohle stehen nicht nur private Firmeninteressen: Auch Steuergelder fließen in den Bergbau. So gibt es bereits seit vielen Jahrzehnten einen öffentlichen Fonds, um den Kraftwerken zu helfen, Kohle zu kaufen. Die offenen Krater in Rio Carvão, die Verschmutzung des Wassers, die Gesundheitsschäden: All das wurde mitfinanziert durch einen monatlichen Zuschlag auf die Stromrechnungen der Brasilianerinnen und Brasilianer. Dieses Jahr fasst der Fonds rund 750 Millionen brasilianische Real, das sind über 145 Millionen Euro.
Der größte Empfänger der Gelder kommt allerdings nicht aus Brasilien, sonders aus Frankreich: Engie, ein Riese auf dem Strommarkt, der sich als ›Nummer zwei weltweit im Bereich saubere Energie‹ bezeichnet. Doch seinen Umsatz in Brasilien von knapp über 547 Millionen Euro hat er 2020 mit zwei Kohlekraftwerken gemacht: Mit Pampa Sul und mit Jorge Lacerda, dem größten Kohlekraftwerk in Lateinamerika.
Mit der fortschreitenden Erderhitzung wird es immer schwieriger, die Verbrennung von Kohle zu rechtfertigen. In Europa, das einen ökologischen Wirtschaftspakt geschlossen hat, um bis 2050 klimaneutral zu sein, führte der Druck dazu, dass Engie sich verpflichtete, die Kohle aus seinem Portfolio zu werfen. In Brasilien würde das heißen: die beiden Kohlekraftwerke zu verkaufen oder zu schließen.
Doch Investitionen in ein Kohlekraftwerk sind riskant: Lange Zeit ließ sich kein Käufer finden – bis Engie 2020 ankündigte, das Kraftwerk im Jahr 2025 zu schließen. Das alarmierte die von der Kohle abhängige Region. Selbst die Gewerkschaft schmiedete dazu ein ungewöhnliches Bündnis mit ihren Arbeitgebern. Während die zwei Gewerkschaftsführer Genoir José dos Santos und Leonor José Rampilli erklären, warum die Mine bleiben soll, deuten sie auf Berichte und Tabellen, die das Logo des Unternehmensverbandes ABCM zeigen. An den Wänden des kleinen Sitzungsraums hängen die Bilder früherer Gewerkschaftspräsidenten. ›Die Energiewende ist nicht fair für Arbeiter. Es ist nicht fair, unsere Jobs zu nehmen‹, so dos Santos. 2.700 Menschen würden in den Minen arbeiten, und indirekt sorge die Kohleindustrie sogar für 21.000 Jobs, ergänzt der 62-Jährige.
Gemeinsam mit dem Druck der Kohle-Lobby in der Hauptstadt Brasília schien die Strategie zu funktionieren: Im Februar 2021 verkündete Engie, ein Abkommen mit dem Investor Fram Capital geschlossen zu haben. Das Kraftwerk Jorge Lacerda ging an das Finanzunternehmen. Kurz danach verabschiedete die Regierung des Präsidenten Jair Bolsonaro ein Gesetz, welches den Betrieb kohlebetriebener Kraftwerke bis 2040 garantiert. Etwa zur selben Zeit, im September 2021, stoppte die Regierung Subventionen für erneuerbare Energien.
Für den neuen Investor, Fram Capital, dürfte die neue Unterstützung den Anreiz zum Kauf gegeben haben, erklärt Roberto Kishinami vom Instituto Clima a Sociedade. ›Es ist sehr unüblich, dass ein Unternehmen ohne Erfahrung im Energiesektor ein großes Kraftwerk kauft. Normalerweise würde es eine große Energiegruppe kaufen‹, sagt Kishinami. Und der Wirtschaftswissenschaftler José Júnior de Oliveira ergänzt: ›Meiner Meinung nach suchen die Partner nach einer relativ kurzfristigen Rendite. Umweltfragen sind zweitrangig.‹ Anscheinend mit Erfolg: Das Nettovermögen des Fonds lag vor dem Kauf bei knapp über tausend Real und erreichte kurz danach fast zehn Millionen Real, umgerechnet über 1,8 Millionen Euro.
Wie die Geschichte ausgeht, entscheidet sich unter anderem bei den brasilianischen Präsidentschaftswahlen im Oktober. Dort tritt der amtierende Jair Bolsonaro gegen Luiz Inácio Lula da Silva an, der bereits von 2003 bis 2011 Präsident gewesen war. Während dieser Zeit hatte Lula die Kohle, das Erdöl und den Soja-Boom zwar ebenfalls gefördert. Doch die Zeiten hätten sich geändert, zitiert die New York Times eine ehemalige Umweltministerin aus Lulas Regierung: Klima- und Umweltthemen würden in Lulas Reden immer öfter vorkommen. Der Klimaschutz – vor allem der Schutz des Amazonas, aber auch die Energiewende – ist nun eines der wichtigsten Themen im Wahlkampf. Wie genau Lulas Energiepolitik jedoch aussehen würde und was sie für die Region von Rio Carvão bedeuten würde, muss sich erst zeigen. Lulas Wahlprogramm wurde noch nicht veröffentlicht. Unabhängig davon wählt Rio Carvão traditionell trotz allem konservative Kandidaten. Auch dieses Mal wird erwartet, dass die Menschen hier für Bolsonaro stimmen werden.
Währenddessen drängen einige NGOs darauf, einen Plan für die Kohleregion wieder aufzunehmen, den sie bereits vor dem Verkauf des Kraftwerks mit dem Konzern Engie und dem Umweltministerium diskutiert hatten. Laut diesem Plan sollten die Subventionen für den Kohlekauf in die soziale und ökologische Transformation der Region fließen. Unter anderem hätte die Gemeinschaft von Rio Carvão wiederhergestellt werden sollen. Sogar Kompensationen für Bergbauunternehmen, sowie für die Pensionierung älterer Bergmänner, standen zur Diskussion. Doch die Gespräche scheiterten am Druck der Kohle-Lobby. Nun sei der Plan jedoch dringender nötig als je, sagt Kishinami vom Instituto Clima a Sociedade. Denn das Kraftwerk Jorge Lacerda sei sehr alt und damit sei es riskant, es so lange in Betrieb zu halten. ›Die Verträge waren bis 2028 vorgesehen, und das war nicht ohne Grund so‹, warnt er.
Nicht nur im Kraftwerk, auch in den Minen könnte die Arbeit immer gefährlicher werden. ›Wenn die Betreiber wissen, dass das Geschäft ohnehin auf sein Ende zugeht, kann es sein, dass sie sich weniger um die Minenbetriebe kümmern‹, so Kishinami.
In der Gemeinde von Rio Carvão hat man genau davor Angst: Nicht nur die Umweltverpestung und die Gesundheitsrisiken, denen alle Menschen hier ausgesetzt sind – auch Unfälle in den Minen bereiten ihnen Sorgen. Um vor solchen Unglücken zu warnen, zogen Witwen, Mütter und Schwestern von Bergarbeitern im vergangenen November mit Kerzen in der Hand durch die Straßen. Sie erinnerten an einen Unfall in einem Bergwerk 1982, bei dem 31 Minenarbeiter starben. Auch der Überlebende Armandio Seron und viele weitere Dorfbewohner zogen mit. Vor einer kleinen Marienstatue blieben sie stehen, um für die Gesundheit der Arbeiter zu beten. Wo der Staat nicht hilft, bleibt nur die Hoffnung auf höhere Mächte. •
Sie können die gesamte Ausgabe, in der dieser Artikel erschien, als ePaper kaufen:
Bei Austria-Kiosk kaufen