Gefährlich, aber hip
Molenbeek war lange als Terrornest verschrien, jetzt ist die belgische Gemeinde Finalistin im Bewerb als Kulturhauptstadt 2030. Kann der Spagat gelingen? Ein Spaziergang durch den Brüsseler Stadtteil.
Im Brüsseler Bonneviepark ist es ruhig. Ein Straßenkehrer rollt gemächlich seinen Putzwagen über den gepflasterten Weg. Zwei Kinder erklimmen die Rutsche auf dem sonst so leeren Spielplatz. Der Park liegt in Molenbeek, nur ein Kanal trennt den Stadtteil vom Zentrum. Im Dezember letzten Jahres aber zerreißen nachts Schüsse die Stille, Anwohner rufen die Polizei. Die findet in derselben Nacht unweit des Parks auch noch zwei Verletzte mit Stichwunden, berichten lokale Medien. Einen Monat zuvor wurde ein paar Straßen weiter ein Mann angeschossen und schwer verletzt. Der Park in Molenbeek zählt zu den 15 ›Hotspots‹ in Brüssel, in denen die Sicherheitsmaßnahmen der Stadt verstärkt werden. Immer wieder kommt es an diesen Brennpunkten zu Gewalt, meist im Zusammenhang mit dem Drogenmilieu.
Was Molenbeek außerdem von den anderen Brüsseler Gemeinden unterscheidet: Molenbeek ist – neben der flämischen Universitätsstadt Löwen und der wallonischen Hauptstadt Namur – einer der drei Finalisten im Rennen um den Titel ›Kulturhauptstadt 2030‹. Molenbeek als Kulturhauptstadt, das passt für manche nicht zusammen. Es ist die zweitärmste der 19 Gemeinden, die gemeinsam die Hauptstadt-Region Brüssel bilden, ein Einwanderungsbezirk, marokkanisch geprägt. Nachts sollte man nicht herkommen, schon gar nicht mit der Metro, hört man manchmal von Leuten, die in Brüssel wohnen. Im internationalen medialen Diskurs spielen Drogenhandel und Gewalt aber kaum eine Rolle. Seit 2015 ist Molenbeek stattdessen unweigerlich mit islamistischem Terrorismus verbunden. Denn nach den Anschlägen in Paris führten die Spuren einiger Attentäter hierher. Salah Abdeslam, einer der Hauptverdächtigen, wurde vier Monate nach den Anschlägen in Molenbeek verhaftet.
Die ›Islamistenhochburg‹ als Kulturhauptstadt? Kann ein solches Rebranding für die Gemeinde zur Erfolgsgeschichte werden oder befördert es nur Gentrifizierung und eine noch stärkere soziale Spaltung? Und was halten eigentlich die Menschen, die hier leben, von einer europäischen Kulturhauptstadt Molenbeek?
›Es ist Freitag, gleich wird hier viel los sein‹, sagt Kamal. Er sitzt an einem kleinen Tisch vor einem Lokal, raucht eine Zigarette und trinkt schwarzen Kaffee. Es ist halb eins am Nachmittag. Kamal hat recht: Viele Männer im Kaftan und Frauen mit Kopftuch machen sich auf den Weg zum Freitagsgebet in der Al-Khalil-Moschee in Molenbeek, der größten Moschee Belgiens. Ein paar Minuten bleibt Kamal noch sitzen. Der junge Mann wirkt noch jünger, wenn er lächelt und seine Zahnspange zum Vorschein kommt. Er erzählt davon, dass er aus dem Norden Marokkos kommt, einem Ort am Meer, jetzt lebt er in Brüssel. Ob er davon gehört habe, dass Molenbeek Kulturhauptstadt werden könnte? ›Ich spreche nicht so gut Französisch‹, sagt Kamal. Dann steht auch er auf. Bevor er geht, besteht er aber noch darauf, die Rechnung für den Kaffee zu übernehmen. Gerade war das kleine Ecklokal noch gut besucht, jetzt ist es auf einmal leer.
In einem nur fünf Gehminuten entfernten anderen Café ist derweil so gut wie jeder Tisch besetzt. Junge Menschen sitzen zwischen den unverputzten Backsteinmauern, arbeiten an ihren Laptops, lesen oder essen Pitabrot mit Whipped Labneh. Das Lokal liegt direkt am Kanal, besonders in dieser Gegend findet man schon heute Spuren der Gentrifizierung: Moderne Cafés und alternative Kulturzentren haben sich in den Gassen unweit vom Kanal angesiedelt, ausgebaute Dachgeschoßwohnungen überblicken den Fluss. Millionen von Euro, unter anderem aus EU-Projekten, wurden in die Gegend investiert. Co-Working-Spaces und Start-ups siedelten sich an, alternative Kulturzentren entstanden, genauso wie ein Museum für zeitgenössische Kunst – das 2025 allerdings schließen musste: Die Straße davor ist gesperrt, weil sie droht, in den Kanal zu stürzen.
Das Image als Problemviertel ist die Gemeinde mit ihren fast 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern aber noch nicht losgeworden. Warum also ausgerechnet Molenbeek als Kulturhauptstadt? ›Wir haben uns für Molenbeek entschieden, weil es überall bekannt ist‹, sagt Fatima Zibouh. Die Politikwissenschaftlerin ist eine von zwei Leitpersonen des Projekts ›Molenbeek for Brussels 2030‹, wie die Kampagne heißt. Den ›Umweg‹ über Molenbeek geht man, weil Brüssel schon im Jahr 2000 Kulturhauptstadt war. Zibouh lebt selbst in Molenbeek, ihre Großeltern sind aus Marokko hierhergekommen. ›Wenn ich nach Norwegen, Finnland oder Zypern fahre, kennen die Leute Molenbeek, sie haben davon gehört, und das nicht im Guten.‹
Damit hat sie wohl Recht: Auch wenn die internationale Aufmerksamkeit nach den Pariser Attentaten ihren Höhepunkt erreichte, kam die Gemeinde schon in den 2000er-Jahren verstärkt in die Schlagzeilen. Die Spuren der mutmaßlichen Täter der Terroranschläge in Casablanca 2003 und Madrid 2004 führten hierher, auch der Täter des Anschlags im Jüdischen Museum von Brüssel hat hier gewohnt. Die Waffen, die für den Anschlag auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo verwendet wurden, kamen aus der Gemeinde, berichtete Die Presse im Jahr 2015. Am 13. November 2015 folgten die Anschläge im Bataclan und vier weiteren Orten in Paris, 2016 jene in der Metro und am Flughafen in Brüssel, für die die gleiche Terrorzelle verantwortlich gemacht wird.
Donald Trump, damals noch Präsidentschaftskandidat, attestierte Belgien 2016, dass die Integration von Muslimen gescheitert sei, und bezeichnete Brüssel als ›Hellhole‹. Schnell geriet damals der sozialistische Politiker Philippe Moureaux in die Kritik, der von 1992 bis 2012 Bürgermeister von Molenbeek war. Ihm wurde vorgeworfen, eine ›Politik des Wegschauens‹ betrieben zu haben. Die belgische Regierung investierte nach den Anschlägen 39 Millionen Euro in Molenbeek und andere Brüsseler Gemeinden, um der Radikalisierung und dem Extremismus ein Ende zu setzen. Vor allem Polizei und Justiz sollten damit gestärkt werden. Aber so einfach waren die Probleme nicht zu lösen.
Um zu verstehen, warum Molenbeek zur Heimat vieler Extremisten wurde, muss man tiefer graben: Die Gemeinde ist ein ›Ankunftsgebiet für Menschen aus den unteren Schichten‹, sagt Johan Leman. Er ist emeritierter Professor für Anthropologie an der Katholischen Universität Löwen und Präsident von ›Foyer‹, einem Integrationszentrum, das sich schon seit 1974 in Molenbeek befindet. Die ersten Einwanderer seien Flamen und Juden aus den Niederlanden gewesen, die im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert kamen. In den 60er-Jahren kamen zahlreiche Gastarbeiter nach Brüssel, in Molenbeek ließen sich vor allem Marokkaner nieder. Mittlerweile leben in Molenbeek Menschen aus über hundert Nationen.
Wer durch das historische Molenbeek im Osten der Gemeinde spaziert, sieht seine Vergangenheit als Industriezentrum. Die Backsteinhäuser stehen hier dicht an dicht, es gibt kaum Grünflächen. Menschen aus der Arbeiterklasse lebten hier im historischen Teil der Gemeinde. Doch die Industriebetriebe gingen und mit ihnen auch die Jobs. Die Arbeitslosenquote in Molenbeek liegt seit Jahren über jener in der Region Brüssel-Hauptstadt, vor allem unter den 15- bis 24-Jährigen. 2022 waren mehr als 30 Prozent der jungen Generation arbeitslos. Heute ist Molenbeek Teil des ›croissant pauvre‹: Die ärmsten Viertel Brüssels schmiegen sich entlang des Kanals halbmondförmig an das Stadtzentrum. Vielen fehlt das Geld zum Leben. Wer es sich leisten kann, zieht weg. Die hohe Armut und Arbeitslosigkeit und die geringeren Bildungschancen gelten als Nährboden für Radikalisierung.
Aber auch internationale Faktoren spielen eine Rolle dafür, wie Molenbeek zu seinem Ruf als Terrornest kam. ›Europa hat nicht sehr gut funktioniert‹, sagt Foyer-Präsident Leman. In den 90ern und Nuller-Jahren habe es eine ›Vertreibung‹ von Extremisten gegeben, sie seien zwischen europäischen Städten hin- und hergeschickt worden. Nachdem es in den 90ern in Frankreich Probleme mit der algerischen Groupe Islamique Armé gab, sei diese nach Belgien geflohen, sagt Leman. Und dann komme noch die Medienlogik hinzu. ›Man konzentrierte sich auf Molenbeek, weil die Angreifer im Bataclan in Molenbeek lebten. Aber die Drahtzieher lebten in Brüssel-Stadt, sie benutzten eine kriminelle Bande aus Molenbeek, um die Anschläge auszuführen‹, sagt Leman. ›Sie wissen, wie Medien funktionieren: Man braucht etwas Klares, Einfaches, und es wurde Molenbeek.‹ Er wolle Molenbeek nicht verteidigen, aber die Realität sei eben etwas komplexer.
Mit der Bewerbung als Kulturhauptstadt will man das Stigma Molenbeeks loswerden, sagt Fatima Zibouh, die Projektleiterin von ›Molenbeek for Brussels 2030‹. ›Denn es ist nicht fair zu denken, dass Molenbeek gefährlich ist. Es gibt ein großes kulturelles Potential, eine lebendige Jugend, die in der Zivilgesellschaft aktiv ist.‹ Um das zu unterstreichen, hat das Team vergangenen September das Molenfest veranstaltet, ein Kunst- und Kulturfestival, das mit zahlreichen Vereinen aus dem Stadtteil und der Umgebung veranstaltet wurde. Um zu zeigen, was Molenbeek alles zu bieten hat – und quasi als Vorgeschmack darauf, wie das Kulturhauptstadt-Jahr aussehen könnte.
Bei allen ist das aber noch nicht angekommen. Jeden Donnerstag findet im Herzen vom historischen Molenbeek ein Wochenmarkt statt. Obwohl es an diesem Donnerstagvormittag wie aus Kübeln schüttet, sind die Stände gut besucht. Die Verkäufer rufen die Preise für Obst und Gemüse aus, es riecht nach Oliven und Minze. Ein Händler drückt mit einem Stock das Wasser aus der Plane, die seine Waren vor dem Regen schützen. Der Schwall schwappt auf die Pflastersteine. Ein Mann im Nikolaus-Kostüm sammelt Spenden für Gaza, er ist für eine Brüsseler Hilfsorganisation in Molenbeek unterwegs. Eine Spendensammel-Kollegin vom Nikolaus erzählt, sie hätten alleine hier am Markt schon 40.000 Euro an Spenden gesammelt, in ganz Brüssel seien es insgesamt 300.000 Euro. Ob sie wüsste, dass Molenbeek Finalist für die Kulturhauptstadt sei? Natürlich, sagt sie, sie kenne die Initiatorin gut. Nach Gesprächen mit fünf weiteren Menschen am Markt ist sie die erste, die davon weiß – oder darüber reden will. Das wundere sie nicht: Die Kulturhauptstadt-Sache sei eher etwas für das ›höhere‹ Molenbeek – gut findet sie die Initiative trotzdem.
Auch Johan Leman, der Foyer-Präsident, unterstützt die Kampagne für Molenbeek als Kulturhauptstadt grundsätzlich. ›Aber wir sagen auch: seid vorsichtig.‹ Denn es bestehe das Risiko, kulturelle Veranstaltungen zu organisieren, zu denen nur Leute von außerhalb kommen. ›Was ist der Effekt? Sie sehen, dass Molenbeek gar nicht so schlecht ist, okay. Aber das war’s. Und dann gehen sie wieder.‹ Auf Dauer habe das dann aber keinerlei positive Auswirkungen für Molenbeek. ›Die Herausforderung ist, etwas zu machen, was auch die Leute hier interessiert – idealerweise, woran beide Bevölkerungsgruppen interessiert sind. Und das ist nicht einfach.‹ Die zweite Herausforderung sei, Molenbeek auch wirklich zu einem sicheren Ort für Besucherinnen und Besucher zu machen. Denn Großveranstaltungen würden auch Kriminelle anziehen, die auf leichte Beute hoffen.
Und dann ist da noch die Sache mit den Drogen. Seit der Pandemie haben das Dealen und die Gewalt auf offener Straße zugenommen. ›Wir tun alles, was wir können, um den Drogenhandel weit weg von hier zu halten‹, sagt Leman. ›Sobald wir etwas sehen, rufen wir sofort die Polizei.‹ Aber die Dealer einfach ins Gefängnis zu stecken, sei keine Lösung, denn dort würden sie sich stärker radikalisieren. ›Dafür gibt es im Moment keine Lösung.‹ Trotz der Probleme wird Leman aber nicht müde, die schönen Seiten Molenbeeks zu betonen. Sein Appell an ›Molenbeek for Brussels 2030‹: ›Nutzt die Stärken von Molenbeek.‹ Das seien die verschiedenen Vereine, die alle ihr eigenes Publikum haben. ›Wenn sie nicht mitmachen, dann wird das ein Fremdkörper in Molenbeek bleiben und Molenbeek zu etwas Bizarrem machen‹.
Es würde aber auch nicht schaden, das Viertel ein wenig aufzupolieren, findet Leman. Auf der Straße vor dem Foyer-Hauptgebäude zeigt er auf Graffiti auf den Wänden und Müll in den Straßen. Statt schnell auf Hauswände geschmierte Schriftzüge solle man schöne Murals erlauben, Sperrmüll am Gehsteig passe nicht zur Kulturhauptstadt. Und Investoren ohne Interesse an der Gemeinde und überdimensionierte Immobilienprojekte solle man bloß von hier fernhalten.
Dass Molenbeek als Kulturhauptstadt nur für den gentrifizierten Teil spannend wird, will Fatima Zibouh verhindern. ›Wir wollen die Kandidatur als Chance nutzen, um mehr soziale und kulturelle Durchmischung zu schaffen, keine neuen Silos mit Bobos‹, sagt sie. Deshalb habe man auch gemeinsam mit Vereinen und Interessenvertretern, aber auch mit hundert jungen Menschen aus Molenbeek und ganz Brüssel, über das Molenbeek der Zukunft gesprochen. Auf den Ergebnissen basiert ihr Konzept. Ziel sei, die Barrieren zwischen den sozialen und kulturellen Gruppen in diesem Gebiet zu beseitigen und die Menschen zusammenzubringen. Die Probleme, die es in Molenbeek gibt, streitet Zibouh nicht ab. ›Aber die Stärke von Molenbeek ist, dass es trotz der Armut und der sozioökonomischen Ungleichheiten viel Solidarität, Großzügigkeit, Empathie, Zusammengehörigkeit und Gastfreundschaft gibt.‹ Im Zentrum der Kampagne stehe deshalb das Konzept ›Sadaka‹: Das Wort stammt vom hebräischen Wort ›Sedaka‹ ab, was Wohltätigkeit bedeutet, es wird aber auch in anderen Sprachen verwendet. In Zeiten von Individualismus und dem Erstarken rechter Parteien wolle man Solidarität und Großzügigkeit von Molenbeek nach Europa bringen. Ob Zibouh die Chance bekommen wird, der Welt diese Seite Molenbeeks zu zeigen, steht im Herbst fest. Dann fällt die Entscheidung für die europäische Kulturhauptstadt 2030. •