›Irgendwann bin ich nicht mehr trans‹

Das Thema Hormonbehandlungen bei transidenten Minderjährigen regt derzeit auch in Österreich auf. Dabei gibt es hierzulande eine gut funktionierende Praxis für den Umgang mit den Betroffenen und ihren Bedürfnissen.

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Illustration:
Ūla Šveikauskaitė
DATUM Ausgabe Juni 2024

Als er 13 ist, steigt Alex Schipper* in einen Schulbus, der ihn zur Skiwoche bringt. Seinen Eltern drückt er davor ein Fotoalbum in die Hand, das sie erst öffnen dürfen, wenn er weg ist. Zu diesem Zeitpunkt ist Alex für seine Eltern noch eine Tochter. In das Album hat er Bilder seines Aufwachsens geklebt. Es sind Aufnahmen eines burschikosen Mädchens, das seinen Geburtstag feiert oder im Familienurlaub posiert. Parallel zu diesen Eindrücken beschreibt Alex handschriftlich, was ihm all die Jahre eigentlich durch den Kopf gegangen ist: das Unbehagen in seinem weiblichen Körper, die Angst, er könnte lesbisch sein, die generelle Scham, die ihn nie loslässt. An mehreren Stellen entschuldigt er sich bei seinen Eltern, um ihnen schließlich mitzuteilen: ›Ich bin trans‹. 

Alex’ Mutter, Sara Schipper, und ihr Mann lesen das und brechen in Tränen aus. Sie schreiben ihrem Kind eine Nachricht: ›Wir stehen hinter dir, egal was kommt.‹ Dann beginnt die Mutter im Internet zu recherchieren. Auf Youtube sieht sie erwachsene transidente Personen, die ein durchschnittliches, glückliches Leben führen. Sie sieht aber auch Videos aus den USA und Großbritannien, in denen sie von jungen Menschen erfährt, die sich einbilden, trans zu sein, denen leichtsinnig eine Geschlechtsumwandlung gewährt wird und die ihre Entscheidung im Erwachsenenalter bereuen. Zum ersten Mal erfährt sie von den Möglichkeiten von Pubertätsblockern und Hormontherapien und ist bestürzt: ›Meinem gesunden Kind Hormone spritzen? Warum sollte man derartig in die Natur eingreifen?‹

 Wie viele minderjährige Personen in Österreich derzeit mit Östrogen oder Testosteron behandelt werden, wird nicht erhoben. Man könne nur schätzen, eine seriöse Zahl gebe es nicht, so Martin Fuchs, Kinder- und Jugendpsychiater am LKH Hall in Tirol. Fuchs selbst hat den Spezialbereich für Kinder und Jugendliche innerhalb des Transgender Center Innsbruck aufgebaut, der das Einzugsgebiet Vorarlberg, Tirol und teilweise Salzburg abdeckt. In dieser Spezialambulanz sind aktuell rund 70 Minderjährige in Hormonbehandlung. Um Zahlen für ganz Österreich erheben zu können, bräuchte es laut Fuchs unter anderem mehr solcher Zentren.

Die Voraussetzungen, unter denen sich Personen unter 18 Jahren einer solchen Behandlung in Österreich unterziehen dürfen, gehen aus den Empfehlungen des damaligen Ministeriums für Frauen und Gesundheit von 2017 hervor. Den Grundstein legt, neben dem Einverständnis der Erziehungsberechtigten, ein dreiteiliges diagnostisches Verfahren. Eingeholt werden müssen ein psychiatrisches, ein klinisch-psychologisches und ein psychotherapeutisches Gutachten. Hat man diese Gutachten beisammen, gibt es eine Fallkonferenz mit allen involvierten Fachpersonen, inklusive der behandelnden Endokrinolog:innen**. Dort werden die weiteren Behandlungsschritte besprochen.

 Für die Anwendung von Pubertätsblockern, welche die Entwicklung der geschlechtsspezifischen Merkmale unterdrücken, gibt es in Österreich kein Mindestalter, da das Eintrittsalter der Pubertät stark variiert. Pubertätsblocker schaffen Zeit, um sich über weitere Behandlungsschritte klar zu werden. Hormontherapien, also die Behandlung mit Östrogen oder Testosteron, gelten als teilweise reversible körperliche Interventionen und werden ab 16 Jahren angewandt. Selten wird auch schon früher begonnen. Jeglichen geschlechtsangleichenden Operationen darf man sich in Österreich erst im Erwachsenenalter unterziehen. Die einzige Ausnahme ist die Mastektomie, die Entfernung der Brüste, die fallweise auch schon vor der Volljährigkeit durchgeführt wird.

 Stefan Riedl ist Endokrinologe und leitet die Ambulanz für Varianten der Geschlechtsentwicklung am Wiener AKH. Mit bisher 350 betreuten Jugendlichen handelt es sich dabei um die größte medizinische Anlaufstelle für Hormonbehandlungen bei Minderjährigen in Österreich. Ursprünglich lag der Schwerpunkt der Ambulanz auf Personen mit Intergeschlechtlichkeit (Menschen mit körperlichen Geschlechtsmerkmalen, die nicht eindeutig weiblich oder männlich sind). Berichte aus den Niederlanden, wo man bereits in den 90ern begonnen hat, Pubertätsblocker zu verabreichen, haben das Thema – etwas verspätet – dann auch in Österreich präsent gemacht. ›Der erste Jugendliche mit Transidentität ist hier im Jahr 2008 aufgetaucht‹, erzählt Riedl. Seit 2015 ist die Zahl der Neuvorstellungen in der Ambulanz in Wien rapide gestiegen. Die Wartezeit auf einen Termin beträgt inzwischen vier bis sechs Monate. Pro Jahr führe man rund 50 Erstgespräche, so Riedl, davon würden ungefähr zwei Drittel tatsächlich die Behandlung beginnen. Nicht zu übersehen ist eine Zunahme an transidenten Buben – also Kinder, die mit weiblichen Geschlechtsorganen geboren sind und sich als Buben identifizieren. Heute sind nur etwa 26 Prozent der behandelten Jugendlichen am AKH transidente Mädchen. Ein Verhältnis, das bei der Gründung der Ambulanz umgekehrt war. Ungefähr 15 Prozent seiner Patient:innen sind am Anfang einer Hormontherapie unter 16 Jahre alt – jünger als 14 ist aber niemand.

 Alex hat mit 14 Jahren seine soziale Transition gestartet, die Hormontherapie dann zwei Jahre später. Er sitzt am Esstisch in der Wohnung seiner Eltern in Wien. Die kantigen Gesichtszüge des heute 19-Jährigen strahlen Ruhe aus. Er spricht sehr überlegt und baut immer wieder Anglizismen in seine Sätze ein: ›Will man einen Körper, der zwar medizinisch healthy ist, in dem man es aber nicht aushält zu leben?‹ Alle vier Wochen lässt er sich von seiner Hausärztin eine Testosteronspritze verabreichen, in der Anfangszeit noch in Kombination mit Pubertätsblockern. Zusätzlich muss er alle sechs Monate zum Endokrinologen, um seine Blutwerte kontrollieren zu lassen. Die Auswirkungen des Testosterons hat Alex damals sehr schnell gespürt: Die Menstruation setzte aus, er baute Muskeln auf, die Stimme wurde tiefer, ihm wuchsen Barthaare. Er fühlte sich sofort wohler und selbstbewusster: ›Zu sehen, wie der Körper zu dem wird, was du immer wolltest, ist unglaublich.‹

 Stefan Riedl erklärt, auf lange Sicht würde eine Hormontherapie, neben den augenscheinlichen Effekten wie dem Brustwachstum bei transidenten Frauen, auch eine Veränderung der Fettverteilung und des Blutbilds bewirken. Bei transidenten Buben komme es zum Wachsen der Klitoris und einem Verlust der Fertilität. Gekoppelt sind diese Wirkungen zudem an eine Medikation mit Hormonen bis ans Lebensende. Würde man die Therapie vorzeitig absetzen, könnten sich manche der Effekte wieder zurückentwickeln, doch ›wie früher‹ wäre es danach sicher nicht mehr, so Riedl. Bei transidenten Mädchen wäre der Verlust der Fertilität etwa definitiv irreversibel, bei transidenten Buben lasse sich die testosteronbedingte Vertiefung der Stimme nie mehr rückgängig machen. Besonders die Langzeitwirkungen der oft als reversibel beschriebenen Pubertätsblocker sind weitgehend unerforscht. Das verdeutlicht auch der aktuelle Cass-Report aus Großbritannien, eine unabhängige Untersuchung und eine der gründlichsten Zusammenfassungen des aktuellen Stands der Wissenschaft zu diesem Thema. Der Bericht rät zu äußerster Sensibilität im Einsatz von Pubertätsblockern. 

 Stefan Riedl schlägt in eine ähnliche Kerbe. Geschlechtshormone spielen beim Aufbau einer normalen Knochendichte und in der kognitiven Entwicklung eine wichtige Rolle. Ein Aussetzen dieser Prozesse, wie sie Pubertätsblocker bewirken, birgt ein Risiko. Riedl beschönigt das nicht: ›Solche Dinge muss man gut abwägen, wenn man diese Behandlung macht.‹ Es seien weitreichende und lebensverändernde Entscheidungen, welche die Fachpersonen, von Psychotherapie bis Endokrinologie, mit ihrer Zustimmung zu einer Behandlung für die minderjährige Person mitverantworten. 

Der Psychotherapeut Ralf Pötzsche hat in seiner Praxis in Wien über die Jahre hinweg viele transidente – und vermeintlich transidente – Kinder und Jugendliche begleitet. Nach wie vielen Therapiesitzungen er ein Gutachten ausstellt, variiere. Manchmal würden 30 bis 40 Stunden genügen, in anderen Fällen können es auch bis zu 150 sein. Manchmal stelle sich auch heraus, dass gar keine Geschlechtsdysphorie vorliegt. So wird der Leidensdruck genannt, der durch eine Geschlechtsinkongruenz entstehen kann – also den Zustand, dass die Geschlechtsidentität nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt. Wichtig sei, dass die Therapie ergebnisoffen verläuft. Pötzsche versucht herauszufinden, ob es noch andere Gründe für das Unwohlsein im eigenen Körper gibt. Er nennt etwa familiäre Schwierigkeiten oder Missbrauchserfahrungen, aber auch mediale Einflüsse und Schönheitsideale würden mitunter eine Rolle spielen. Erst wenn er solche Faktoren ausschließen kann, trifft Pötzsche eine Entscheidung: ›Manchmal bin ich mir vielleicht auch nur zu 70 Prozent sicher, hundert Prozent sind es nie.‹ Doch seine Erfahrung und der kontinuierliche Austausch mit den Fachkolleg:innen würden ihm Sicherheit geben. ›Das letzte Wort hat aber der Endokrinologe.‹ Angesprochen auf seine Verantwortung, spielt Stefan Riedl den Ball zurück: ›Ich tu es ja auf Geheiß der Psychiater und Psychologen. Jetzt nicht, weil ich mich darauf ausreden will, sondern weil die das tatsächlich fachlich beurteilen.‹ Wenn er Zweifel an der Qualität eines Gutachtens habe, beantrage er aber auch immer wieder mal ein Zweitgutachten.

 Wie lange die aktuellen Handlungsempfehlungen von 2017 noch gültig sind, ist ungewiss. Derzeit arbeiten 27 Fachgesellschaften und Patient:innen­organisationen, darunter auch die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (ÖGKJP), an neuen Leitlinien zur Hormonbehandlung bei Kindern und Jugendlichen für die gesamte DACH-Region. Sie sollen spätestens Anfang Herbst veröffentlicht werden. Eine Entwurfsfassung, die bis Ende April in der Kommentierungsphase war und gerade überarbeitet wird, liegt DATUM vor. Die zentrale Änderung der neuen Leitlinien wäre eine Entpathologisierung der Geschlechtsinkongruenz, die somit nicht mehr als psychische Störung gelten würde. Da es sich um keine Krankheit mehr handle, könne es laut dem ersten Entwurf der Leitlinien auch keine Verpflichtung zur Psychotherapie vor Beginn einer Hormonbehandlung geben. Es sei ethisch nicht vertretbar, ein psychotherapeutisches Gutachten als Bedingung einholen zu müssen, heißt es im Entwurf.

 Das 320 Seiten lange Dokument hat auch Expert:innen außerhalb des begutachtenden Gremiums erreicht. Ralf Pötzsche blickt positiv auf den Grundtenor der Leitlinien. Die Entpathologisierung bedeute ein Stück weit Befreiung für trans Personen, denn sie würden dadurch nicht mehr als ›krank‹ gelten. Dass ein 14-jähriges Kind vor Beginn einer Hormonbehandlung keine einzige Stunde in Gesprächstherapie verbringen müsste, sieht er aber kritisch: ›Ich finde die Verpflichtung, die wir in Österreich haben, gut. Durch die neuen Leitlinien wird das ein bisschen aufgeweicht. Der Fokus liegt jetzt stark auf der subjektiven Einschätzung und dem Willen des Kindes, eine Psychotherapie zu machen.‹ Doch dadurch werde auch ein noch größerer Teil der Verantwortung auf die Schultern der Fachpersonen aus der Endokrinologie gelegt. Diese können eine Therapie dann nur mehr empfehlen oder die Behandlung im Zweifel verweigern. Für Bedenken sorgt auch die Frage der Kostenübernahme. Wenn eine Geschlechtsinkongruenz nicht als Krankheit eingeordnet wird, werden Krankenkassen nicht bereit sein, die Kosten der Behandlung zu übernehmen, sagt Pötzsche. Lebenslange Hormonbehandlungen und geschlechtsangleichende Operationen wären dann für viele nicht mehr leistbar. Was alle interviewten Expert:innen an der Entwurfsfassung positiv hervorheben, ist, dass eine höhere Qualifikation und Ausbildung der Fachkräfte sichergestellt werden soll.

 Edith Walzl befürchtet, dass die Leitlinien, so wie sie im Erstentwurf stehen, gefundenes Fressen für konservative und rechte Parteien sein könnten, die restriktivere Gesetze fordern. Walzl hat vor sechs Jahren den Verein Insieme in Klagenfurt gegründet, eine Beratungsstelle für transidente Personen und ihre Familien. Auch die Haltung der Linken mache die Situation nicht einfacher: ›Die radikale Linke ist problematisch, weil sie in einer extremen Kampfhaltung ist und ein Feuer entfacht, das wir gerade nicht brauchen‹, kritisiert sie. Es werde suggeriert, dass alle alles sein können und die Kategorien Mann/Frau obsolet seien. Doch für transidente Personen sei genau diese Binarität wesentlich. Walzl selbst differenziert deshalb zwischen queer und trans. ›Es gibt beides und das ist auch okay‹, sagt sie. Die queeren Jugendlichen, die sie betreut, nennt sie ihre Regenbogen-Revoluzzer: ›Jede Jugendgeneration führt ihre Revolte, und das ist die Revolution gegen das binäre System und die starren Kastln von Mann und Frau.‹ Dafür, dass sie zwischen queer und trans unterscheidet, bekomme sie oft Kritik aus der queeren Community, was sie nicht verstehen kann.

 Die 14-jährige Lena Kaufmann aus Villach stimmt Walzl in ihrer Differenzierung zu. Mit zehn Jahren hat sie das erste Mal gegenüber ihren Eltern ausgesprochen, dass sie ein Mädchen ist und kein Bub. ›Für meine Eltern hat das schon sehr viel verändert, für mich war das nicht so ein großer Moment. Ich habe das ja schon lange gewusst‹, erzählt Lena. Doch der immer größer werdende Leidensdruck, im falschen Körper zu stecken, machte einen normalen Schulalltag für sie fast unmöglich. Mobbing aufgrund ihres weiblichen Auftretens und starke Depressionen verschlimmerten die Situation. Ihre Gedanken drehten sich nur mehr darum, was mit ihrem Körper falsch ist und wie sie das schnellstmöglich ändern kann. Nun steht sie kurz vor ihrer langersehnten Hormonbehandlung. Was ihr dabei nicht in die Karten spiele, sei der Hype, den  sie rund um das Thema Transgender wahrnimmt, so Lena. Auf Tiktok würden auch Dragqueens oder Cross-Dresser als transident gelten. Das ärgert Lena, die sonst sehr ruhig ist: ›Du bist nicht trans, wenn du ein Mann bist, der sich als Frau verkleidet. Transgender zu sein ist, eine echte ­Dysphorie zu haben und den eigenen Körper nicht zu akzeptieren.‹ Sie könne verstehen, wenn sich andere über Personen lustig machen, die mit Pronomen wie ›shark‹ oder ›cat‹ angesprochen ­werden wollen. ›Solche Sachen sehe ich auf Tiktok. Das ist absurd‹, sagt sie augenrollend. Dass viele Menschen die gesamte queere Community als eine einheitliche Gruppe verstehen, verstärke den Hass und die Diskriminierung, die sie ohnehin schon erfahre.

 Dass das Thema Trans polarisiert, lässt sich schon länger beobachten. Im Jahr 2008 stellt die amerikanische Ärztin Lisa Littman die Hypothese der ›Rapid-Onset Gender Dysphoria‹ auf. Kinder und Jugendliche würden, etwa durch transidente Vorbilder in Sozialen Medien oder die ›soziale Ansteckung‹ in Peergroups, innerhalb kürzester Zeit glauben, eine Geschlechtsdysphorie entwickelt zu haben. Kritiker:innen von Hormonbehandlungen bei Minderjährigen beziehen sich oft auf diese wissenschaftlich umstrittene Hypothese, die in erster Linie auf Interviews mit Eltern und nicht mit betroffenen Minderjährigen selbst basiert. Stefan Riedl kann sich vorstellen, dass so etwas vorkommen kann, wundert sich aber über die Schlussfolgerung: ›Das sind ja genau die Patient:innen, die wir dann aussortieren und nicht behandeln. Deswegen haben wir die dreifache Diagnostik und laufende Fallkonferenzen mit allen Fachpersonen.‹

 Die Befürchtung, die hinter Hypothesen wie der von Littman steht, liegt auf der Hand: Irgendwann könnten die Betroffenen ihre im Kindesalter begonnene und von Erwachsenen bekräftigte Transition wieder bereuen. Wenn eine Person sich dazu entscheidet, wieder in der ursprünglichen Geschlechtsidentität zu leben, spricht man von Detransition. Martin Fuchs, der im Rahmen einer der ersten österreichischen Studien dazu forscht, erklärt, dass es international sehr unterschiedliche Daten zu Detransitioners gibt. Studien würden Zahlen von drei bis zehn Prozent nennen. Was erst einmal viel klingt, müsse differenziert betrachtet werden, so Fuchs: ›Ob diese Menschen dauerhaft oder vorübergehend die Therapie abbrechen, ob sie in ihrer Geschlechterrolle bleiben oder komplett körperlich und sozial zurück zum Ursprung gehen – da gibt es unterschiedliche Szenarien.‹ Bei konkreten Detransition-Zahlen sei Vorsicht geboten: Wenn zehn Prozent ihre Therapie abbrechen, bedeute das nicht, dass bei all diesen Fällen schwere Fehler gemacht wurden. Martin Fuchs habe in seiner Laufbahn bisher zwei Detransition-Fälle behandelt. Sarah-Michelle Fuchs, Psychotherapeutin und Obfrau des Vereins Transgender-Team Austria, berichtet von durchschnittlich vier Patient:innen pro Jahr, die sie durch eine körperliche Detransition begleite.

 Aufwühlende Videos von Detransitioners, die im Internet von der Verstümmelung ihrer Körper berichten, haben Sara Schipper nicht losgelassen. Mit Alex hat sie damals nach den ersten Therapiesitzungen eine zweijährige Bedenkzeit ausgehandelt. Würde er die Hormonbehandlung dann immer noch wollen, dürfe er sie nach seinem 16. Geburtstag beginnen. So kommt es dann auch. ›In seinem Fall ist es jetzt gut gegangen‹, resümiert Schipper. Dennoch empfinde sie Hormonbehandlungen an Minderjährigen, nach all dem, was sie darüber gesehen hat, als ›Verbrechen an Körper, Entwicklung und Gesundheit‹. Hätte Alex bis zur Volljährigkeit gewartet, wäre kein größerer Schaden entstanden, ist sie sich sicher. Ein Verbot von Pubertätsblockern, wie es im März in Großbritannien angekündigt wurde, findet sie begrüßenswert – ebenso wie das Gesetz, das im US-Bundesstaat Idaho bald jegliche Hormonbehandlungen bei Minderjährigen unter Strafe stellen könnte.

 Edith Walzl kann verstehen, dass sich Eltern wie Sara Schipper Sorgen machen. In Österreich sei das aber nicht notwendig. Von einem Verbot hält Walzl nichts. Jenes in Idaho begründet sie in erster Linie mit den Situationen in anderen Bundesstaaten wie Kalifornien. Dort gäbe es kein so sorgfältiges diagnostisches Verfahren wie in Österreich, sondern Minderjährige würden sehr leichtfertig Hormonbehandlungen verschrieben bekommen. Diese Leichtfertigkeit rufe als Gegenreaktion konservativere Bundesstaaten auf den Plan, die dann noch restriktiver vorgehen: ›Überall dort, wo Sorgfalt fehlt, wird Kritik lauter und Verbote häufiger.‹ 

 Neben der FPÖ warb hierzulande zuletzt auch Karl Nehammer in seinem ›Österreich-Plan‹ mit einem Verbot. Der Bundeskanzler führt das vorgeschlagene Verbot im Unterpunkt ›Kinderschutzpaket‹ an. Lenas Vater Michael Kaufmann empört diese Formulierung. Viele Kinder, so auch seines, wären von diesem ›Schutz‹ ausgeschlossen. ›Meine Tochter müsste bei einem Verbot die vollständige Pubertät durchleben, um dann als ausgewachsener ›Mann‹ mit Bart, Adamsapfel und tiefer Stimme weibliche Hormone einnehmen zu dürfen, sodass ihre Brüste größer werden‹, sagt Kaufmann, ›das ist unterlassene Hilfeleistung‹.

Was bei einem Verbot auch ein größeres Thema werden würde, ist der Schwarzmarkt. Anfang April beschäftigte sich auch Lena intensiv damit. Zu diesem Zeitpunkt war gerade nicht abzusehen, ob und wann sie das letzte Gutachten bekommen würde, das sie für den Beginn der Hormonbehandlung braucht. Die Dysphorie machte sich besonders schlimm bemerkbar, also recherchierte sie tage- und nächtelang in ihrem Zimmer, wie sie am schnellsten an Hormone kommen könnte. Dass ihr Vater im Nebenzimmer das Gleiche tat, war ihr bis zu dem gemeinsamen Interview nicht bewusst. ›Wir haben noch nie über dieses Thema geredet‹, sagt er, ›aber als ich gesehen habe, wie sehr du leidest, habe ich überlegt, wie man das Zeug am Schwarzmarkt holen kann‹. Lenas Augen werden groß. Sie sitzt mit offenem Mund zurückgefallen in ihrem Sessel. Es überrascht sie dann aber doch eher wenig, wie weit ihr Vater für sie gegangen wäre. Michael Kaufmann hat damals überlegt, was passieren würde, wenn Lena die Anti-Baby-Pille schluckt und von wem er diese Pillen überhaupt bekommen würde. ›Solche dummen Gedanken gehen einem da durch den Kopf‹, sagt er und schüttelt den Kopf. Lena hat großes Verständnis für alle, die aus Verzweiflung diesen Schritt gehen. Dass das aber nicht der richtige Weg ist, weiß sie und sagt, dass so eine Therapie nur unter medizinischer Aufsicht und ständigen Kontrollen passieren sollte.

 Die interviewten Fachkräfte sind sich ebenfalls einig, dass ein Verbot fatal wäre. Immer wieder zeigen Studien, wie zum Beispiel eine 2022 im ­Canadian Medical Associate Journal veröffentlichte, die hohe Suizidalität von jungen transidenten Personen. Das Risiko eines Suizidversuchs sei in dieser Gruppe 7,6-mal höher als bei gleichaltrigen Cis-Personen. ›Ich würde es aber nicht darauf herunterbrechen, dass Hormontherapie Suizidalität verhindert‹, merkt Martin Fuchs an. Bei Betrachtung solcher Studien gelte es, die Komorbiditätsrate – dass eine Geschlechtsdysphorie gemeinsam mit psychischen Störungen wie Autismus-Spektrum-Störungen, depressiven Verstimmungen oder Suchtproblemen auftreten kann – nicht außer Acht zu lassen. Auch der Cass-Report hebt hervor, dass nicht hinreichend belegt ist, ob eine geschlechtsangleichende Behandlung tatsächlich das Suizidrisiko minimiere. Der Leidensdruck der Kinder und Jugendlichen, die meist von der Wirksamkeit der Hormonbehandlungen überzeugt sind, sei aber real. Die Befürchtung, dass ein späterer Beginn einer Hormonbehandlung zu Suizidalität führen könnte, sei vor allem bei Eltern groß, unabhängig davon, wie wirksam die Behandlung dann wirklich ist. Denn auch wenn es um die langfristige Verbesserung der psychischen Gesundheit durch Hormonbehandlungen geht, ist die Datenlage sehr dünn. Es fehle vor allem an Follow-Up-Studien, so der Cass-Report. Bislang gäbe es keine wissenschaftliche Evidenz darüber, dass die Vorteile einer Hormonbehandlung größer als ihre potenziellen Schäden sind. Dazu befragt, kann Psychotherapeut Ralf Pötzsche nur seine persönlichen Erfahrungen schildern, die ihm zeigen, dass Hormonbehandlungen bei vielen seiner Patient:innen den Leidensdruck verringert und suizidales Verhalten fallweise sogar unterbunden hätten. ›Mit der Möglichkeit eines Verbots von Hormonbehandlungen zu spielen, ist extrem gefährlich. Und überhaupt: Wem nutzt es?‹, gibt Pötzsche zu bedenken.

 ›Es ist eh schon eine schwierige Situation für die Betroffenen und ihre Familien. Das Thema soll nicht auch noch dafür genutzt werden, politisches Tagesgeschäft damit zu machen. Das ist geschehen und das finde ich sehr schlecht‹, kritisiert Martin Fuchs taktische Überlegungen seitens der Politik. Emotionsgeladene Debatten würden den wenigen geschlechtsinkongruenten Personen in Österreich, insbesondere den Jüngsten unter ihnen, schaden. Auch die anderen interviewten Expert:innen wollen das Thema nicht politisch vereinnahmt sehen. Sie stellen dem System in Österreich grundsätzlich ein gutes Zeugnis aus. An der sorgfältigen Vorgehensweise würden auch die neuen Leitlinien nicht rütteln, deren endgültige Ausformulierung noch aussteht.

 ›Manchmal denke ich mir, ich will das einfach nicht mehr. Aber ich wollte das ja von Anfang an nicht. Ich wollte nie trans sein, ich wollte immer nur ein Mädchen sein‹, beschreibt Lena ihre aktuelle Gefühlslage. Ihre Stimme wird aber leichter, wenn sie sich ihr Leben als Erwachsene ausmalt: ›Irgendwann hätte ich voll gerne einmal Kinder. Da gibt es ja mittlerweile auch für mich Möglichkeiten.‹ Sie erzählt davon, Spermien einfrieren zu lassen, bevor sie mit der Hormonbehandlung beginnt. In Villach möchte sie nicht bleiben, sie kann sich vorstellen, in Wien zu wohnen. Am liebsten wäre sie aber auf der ganzen Welt unterwegs: ›Flugbegleiterin wäre ein schöner Beruf, ich kann ja auch viele Sprachen.‹ 

Sie blickt mit großer Hoffnung auf den Start ihrer Hormonbehandlung: ›Wenn jetzt alles gut läuft, dann kann mein Leben mit 18 nicht einmal schlimm sein‹, sagt sie und rüttelt ihren Vater am Arm. ›Du musst dir vorstellen, da habe ich dann schon Brüste und ein weibliches Auftreten. Irgendwann bin ich nicht mehr trans. Da lebe ich einfach mein Leben und muss mir keine Sorgen mehr machen.‹ Die Hormontherapie wird Lena in diesem Fall ihr Leben lang begleiten. •

* Alle Namen von Betroffenen wurden im Artikel geändert.

** Um der Thematik in ihrer Komplexität auch formal zu entsprechen, verwendet dieser Artikel sogenannte geschlechtsinklusive ­Personenbezeichnungen.

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