Putins Koch, Österreichs Kanzler und die Zukunft der Welt
Es waren, global gesehen, bizarre Tage, in denen wir diese Ausgabe von DATUM druckfertig gemacht haben. Der russische Söldnerführer Jewgeni Prigoschin zettelte einen Coup gegen den Kreml an, der 36 Stunden später, als Prigoschin bereits 200 Kilometer vor Moskau stand, so überraschend endete, wie er begonnen hatte. Seither rätseln nicht nur Russland-Experten über die genauen Hintergründe – und was die Revolte über den Zustand von Wladimir Putins Regime und den weiteren Verlauf seines Angriffskrieges gegen die Ukraine verrät.
Dass Karl Nehammer auf diese Fragen nicht sofort eine Antwort hatte, sollte man ihm nicht ankreiden. Dass der Kommunikationstrainer im Kanzleramt es trotzdem für sinnvoll hielt, der österreichischen Bevölkerung am Tag nach dem abrupten Abbruch des Aufstandes per Social-Media-Posting zu versichern, man würde es nicht zulassen, ›dass eine innerrussische Angelegenheit auf österreichischem Boden ausgetragen wird‹, schon eher.
Glücklicherweise gibt es in diesem Land aber auch Menschen, die schnell in der Lage waren, nachhaltigere Lehren aus den außergewöhnlichen Vorgängen in Russland zu ziehen. Gleich drei der Klügsten saßen am Abend, bevor Prigoschins Privatjet auf dem Flughafen von Minsk landete, auf der Bühne des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM). Der US-Historiker Timothy Snyder und der bulgarische Politologe Ivan Krastev diskutierten dort mit IWM-Chef Misha Glenny über nicht weniger als den ›russo-ukrainischen Krieg und die Zukunft der Welt‹.
Glaubt man Snyder, hat Prigoschin viele westliche Diskussionen über Russland als Schattenboxen entlarvt. Er erinnerte an die Aussagen des Söldnerführers über die tatsächlichen Gründe für Putins Angriff auf die Ukraine: Die ›Spezialoperation‹ habe nichts mit NATO-Erweiterung oder angeblichen Nazis in Kiew zu tun. Vielmehr hätten Oligarchen einen Moskau-freundlichen Politiker als Präsidenten installieren wollen, um die Vermögenswerte der Ukraine unter sich aufteilen zu können. Snyder bezeichnete auch die Theorie, Putin könnte einen Atomkrieg beginnen, wenn er ›in eine Ecke gedrängt wird‹, als ›Unsinn‹: ›Wir haben jetzt gesehen, was er dann macht: Er rennt weg, unterschreibt einen Scheck und versucht, das Thema zu wechseln.‹
Auch im Hinblick auf eine mögliche Konfrontation zwischen den USA und China um Taiwan ruhen die Hoffnungen des Historikers auf einem Sieg der Ukraine: ›Das würde Peking die Lektion lehren, dass es keine gute Idee ist, eine komplizierte offensive Operation zu starten.‹ Ivan Krastev ist nicht ganz so optimistisch: ›Die Frage ist, welche Lektion China ziehen würde‹, sagte der Politologe mit Verweis auf die militärische Entwicklung der Ukraine seit 2014. ›Starte keine Offensive? Oder starte deine Offensive nicht zu spät?‹
Der Bulgare zog zwei Schlüsse aus dem Coup-Versuch: Zum einen habe sich gezeigt, dass die russische Elite ›konsolidiert‹ sei: ›Niemand hat Prigoschin unterstützt, aber es hat auch niemand versucht, ihn zu verhaften.‹ Gleichzeitig interpretierte er die Nachricht, US-Geheimdienste hätten vorab vom Coup gewusst, als wichtiges Indiz für einen Positionswechsel des Westens: ›Die Leute erkennen, dass jeder andere im Kreml besser wäre, egal, was für ein Faschist er ist, denn er hätte den Krieg nicht gestartet – und könnte ihn deshalb auch leichter beenden.‹
Bis dahin, darin waren sich die klugen Köpfe am IWM einig, sei die beste Russland-Politik eine vernünftige, also unterstützende Ukraine-Politik. ›Ein Erfolg der Ukraine wäre Putins Alptraum – und sollte der Traum der Europäer sein‹, formulierte es Timothy Snyder. Dem ist nichts hinzuzufügen. Zumindest nicht bis September, wenn das nächste DATUM erscheint. •
Ich wünschen Ihnen einen von neun Wochen Schulferien in seinem Erholungspotenzial nicht allzu beeinträchtigten Sommer!
Elisalex Henckel
elisalex.henckel@datum.at
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