Schenken Sie ein Jahr Lesefreude! Mit dem DATUM-Weihnachtsabo.

Tiefenschärfe

Wie der britische Fotograf Oli Scarff zufällig die Rettung einer US-Schwimmerin einfing.

·
Fotografie:
Oli Scarff/AFP/picturedesk.com
DATUM Ausgabe Juni 2023

Es war der 22. Juni des vergangenen Jahres ­während der Kunstschwimm-Weltmeisterschaft in Budapest. Die 25-jährige Anita ­Alvarez hatte gerade ihre Darbietung ab­geschlossen, als plötzlich das Klatschen des Publikums stoppte. Denn am Ende ihres Solos in der Freien Kür wurde die US-Amerikanerin bewusstlos. Alvarez hatte aufgehört zu atmen und sank zu Boden. Kurz darauf sprang eine Frau ins Wasser und tauchte ihr nach. Es war ihre Trainerin, Andrea Fuentes. Sie packte ­Alvarez unter den Achseln, zog sie mit sich nach oben – und rettete so ihr Leben.

Oli Scarff war einer der wenigen Menschen, die ihre Rettung miterlebten. Und er war der Einzige, der auch unter der Wasseroberfläche sah, was geschah. Der AFP-Fotograf hatte zuvor einen Unterwasser-Kameraroboter am Boden des Beckens platziert. So konnte er die Rettung von Alvarez mitverfolgen und Schritt für Schritt fotografieren. Mehr als einhundert Fotos schoss Scarff in weniger als einer Minute. Für einige davon wurde er vergangenen Monat dieses Jahres mit dem ersten Platz des ›AIPS Sport Media Awards 2022‹ in der Kategorie ›Photography Portfolio‹ ausgezeichnet.

Dabei war Scarff mit dem Gerät, das ihn zu diesem Preis verhalf, zum Zeitpunkt der Aufnahme kaum vertraut. ›Ich hatte die Ausrüstung erst fünf Tage vor den Meisterschaften das erste Mal verwendet‹, sagt er im Interview, ›Unterwasser-Aufnahmen waren und sind alles andere als meine Spezialisierung, ich bin ein Allrounder.‹ Ein Kollege hatte ihn im Umgang damit unterrichtet.

Beim Einsatz von Unterwasser-Kamera­robotern steuert ein Fotograf den gesamten Prozess aus der Ferne. Eine Fernbedienung, ähnlich einem Videospiel-Controller, und ein Kontrollbildschirm reichen, um die Kamera auszurichten, den Bildausschnitt festzulegen und zu fotografieren.

Oli Scarff verband nur ein langes Kabel mit seinem Equipment im Wasser. Er saß gerade auf der höchsten Tribüne, weit von den Becken der Kunstschwimm-Weltmeisterschaft entfernt, als er merkte, dass etwas im Becken nicht stimmte. Der Sprecher hatte plötzlich aufgehört zu reden. Aus der Ferne sah er einen dunklen, verschwommenen Fleck unter der Oberfläche.

Spätestens als die Trainerin von Alvarez ins Wasser sprang, war ihm klar, was vor sich ging. ›Ich war geschockter als bei anderen, viel gefährlicheren Aufträgen, die ich hatte‹, sagte er, ›aber ich fotografierte wunderschöne Bilder und während eines Wimpernschlags schoss ich Bilder davon, wie einem Menschen das Leben gerettet wird, darauf war ich nicht vorbereitet.‹

Wenige Augenblicke später musste Scarff die nächste Athletin im Becken fotografieren. Doch der Vorfall ließ ihn nicht los. ›Da ich nicht wusste, ob es Anita gut ging und sie überlebt hatte, wartete ich, bevor ich die Bilder verschickte. Andernfalls hätte ich die Bilder nicht veröffentlicht.‹ Erst als eine Durchsage am Ende des Wettbewerbs bestätigte, dass sich die Athletin schnell erholt hatte, drückte Scarff auf ›senden‹.

Am Morgen danach waren seine Fotos um die Welt gegangen. ›Ich wachte auf mit einer Interviewanfrage von CNN‹, sagt Scarff. ­Dutzende internationale Medien berichteten. Innerhalb von 24 Stunden waren die Aufnahmen fünf der sechs am häufigsten geteilten Bilder auf Facebook. ›Mein Telefon schmolz fast vor lauter Benachrichtigungen, Nachrichten und E-Mails, die ich bekam.‹

Auch Alvarez und ihre Trainerin meldeten sich einige Monate später bei Scarff. Er hatte lange Sorge, dass die Öffentlichkeit, die dieser ›intime Moment‹ bekommen hatte, den beiden unangenehm gewesen sein könnte. ›Aber sie waren letztendlich froh über die Veröffentlichung‹, sagt Scarff, ›Anita sagte mir, die Bilder seien schwer auszuhalten, aber sie habe be­gonnen, das Schöne darin zu sehen.‹ •

 

Sie können die gesamte Ausgabe, in der dieser Artikel erschien, als ePaper kaufen:

Bei Austria-Kiosk kaufen