Zukunftsfleisch
Zehn Jahre nach dem ersten Burger aus der Petrischale gibt es in den USA erstmals eine Zulassung für In-vitro-Fleisch. Europa hinkt hinterher – aber in Graz arbeiten zwei Forscherinnen daran, dass sich das ändert.
London: Zwei Menschen essen einen Hamburger. Beobachtet werden sie dabei von auf roten Sesseln sitzendem Publikum, verbal begleitet von einer weiß gekleideten Moderatorin. Was den scheinbar alltäglichen Verzehr besonders macht: Das Fleisch auf dem Teller stammt nicht von einer geschlachteten Kuh, sondern aus dem Labor.
Verspeist haben den ersten aus Zellkulturen gezüchteten Burger damals die österreichische Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützler und der amerikanische Lebensmittelautor und Journalist Josh Schonwald, und zwar am 5. August 2013. Für die öffentlich wirksame Kochshow war der niederländische Forscher Mark Post verantwortlich.
Denkt Schonwald heute an das Medienereignis zurück, dann sagt er, dass er mit dem Geschmack ›überraschend zufrieden‹ war. Das Mundgefühl des Laborbratlings vergleicht er mit einem McDonald’s-Patty, gefehlt haben ihm aber die Würze und ›die wunderbare Saftigkeit eines guten Hamburgers‹. Auch Rützler verwendet den Begriff ›überraschend‹, nämlich ›überraschend nah am Original‹. Das Patty sei von außen knuspriger gewesen, als man es erwarte, und ziemlich heiß. ›Ich hatte eigentlich befürchtet, dass sich die Konsistenz deutlich unterscheiden wird, das war aber nicht der Fall‹, so Rützler.
Zehn Jahre liegen zwischen Ereignis und Erinnerung. Wie die Hamburger von Mark Post heute schmecken, können weder Schonwald noch Rützler beantworten. Eine Dekade an Forschung ist seit diesem Sommertag in London vergangen. Für die meisten Menschen ist Fleisch aus dem Labor weiterhin genauso unerreichbar wie für das Publikum, das der Verkostung auf den roten Sesseln sitzend damals nur gespannt zuschauen durfte.
Was wurden in den letzten zehn Jahren in der Forschung für Fortschritte gemacht? Wer sind die Leute, die Fleisch ohne Töten zur Massentauglichkeit bringen wollen? Und vor allem: Wie lange wird es bis dahin noch dauern?
88,5 Kilogramm Fleisch wurden pro Kopf in Österreich 2021 verbraucht. Dem menschlichen Verzehr sind davon 58,9 Kilogramm zuzurechnen. Die Differenz landete unter anderem in den Futternäpfen der Hunde und Katzen im Land. Damit essen die Österreicherinnen und Österreicher, trotz leichter Rückläufigkeit, viel Fleisch. Etwa dreimal so viel wie in der österreichischen Ernährungspyramide des Gesundheitsministeriums empfohlen, konsumiert der durchschnittliche österreichische Mann, sagt der Departementsleiter für Ernährungswissenschaften der Universität Wien, Jürgen König. ›Für einen Großteil der Bevölkerung‹ seien die ökologischen Folgen der Tierhaltung ›ein relativ irrelevantes Thema‹, befürchtet Ernährungswissenschaftler König. Aktuell entsagen etwa zehn Prozent der österreichischen Bevölkerung dem Genuss von Fleisch und ernähren sich vegetarisch oder vegan. Auch ein Anstieg auf 15 Prozent ist für König im Bereich des Möglichen. Aber: ›Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das Ernährungsverhalten in unseren Gegenden einmal so stark ändert, dass wir irgendwann bei 50 Prozent Veganern und Vegetariern landen‹, sagt König.
Und betrachtet man den Fleischkonsum global, zeigt der Pfeil nach oben. Einen Anstieg um 14 Prozent bis zum Jahr 2030 verglichen zum Durchschnittswert von 2018-2020 prognostizieren die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in einem gemeinsamen Bericht. Das liegt vor allem an der wachsenden Bevölkerung und dem global steigenden Einkommen. Die ökologischen Auswirkungen sind dabei bereits heute enorm. Die verursachten Treibhausgasemissionen treiben die Erderhitzung weiter an. Aktuell werden fast 80 Prozent der weltweit genutzten landwirtschaftlichen Nutzfläche für Nutztiere und ihr Futter benötigt, so das UN-Umweltprogramm (UNEP). Und das braucht entsprechend viel Wasser.
Weil das Problem durch Konsumverzicht kaum lösbar scheint, versuchen es Forscherinnen und Forscher auf der Produktionsseite. Wie im Labor aus einer Gewebeprobe ein Hamburger-Patty oder Chicken Nugget entsteht, ist schnell erklärt. Dem lebenden Tier wird zunächst per Biopsie Muskelgewebe entnommen, aus welchem die Stammzellen isoliert werden. Anschließend werden diese, umgeben von einem Nährmedium, in einem Bioreaktor angezüchtet. Nach erfolgreicher Reproduktion werden die Zellen differenziert, wobei Muskelzellen zu Muskelfasern zusammenwachsen. Auch Fettzellen und Bindegewebe können im Labor gezüchtet werden, die für die Bildung von Fleischgeschmack und Textur ausschlaggebend sind.
Einfach umzusetzen ist der Prozess in der Realität aber nach wie vor nicht. Weltweit versuchen Forscherinnen und Forscher, bestehende Probleme zu lösen, so auch in Graz. Der Arbeitsplatz der hiesigen Forscherinnen ist gar nicht so leicht zu finden. Versteckt in zweiter Reihe auf einem Campus der TU Graz steht das graue, unscheinbare Gebäude. Für das Austrian Centre of Industrial Biotechnology (acib) forschen die Biotechnologin Viktorija Vidimce-Risteski und die Molekularbiologin Aleksandra Fuchs hier an Herausforderungen rund um das Fleisch aus dem Bioreaktor.
›Der Gedanke, dass man mit Biotechnologie etwas Konkretes gegen Umweltprobleme machen kann, ist das gewesen, was mir an meiner Arbeit extrem gut gefällt‹, sagt Aleksandra Fuchs. Dieser Wille führte sie vor mehr als 15 Jahren von Russland nach Österreich. Damals wie heute forscht sie zur sogenannten rekombinanten Proteinexpression. Die soll ein elementares Problem in der Herstellung von Fleisch im Labor lösen: Damit aus Muskelstammzellen im Labor letztendlich Muskelfasern entstehen, braucht es ein Nährmedium. Dieses Nährmedium übernimmt die Funktion von Blut, versorgt die Zellen also mit allem, was sie zum Wachsen benötigen. Bis vor Kurzem war die Verwendung von Fötalem Bovinem Serum (FBS), auch Fötales Kälberserum genannt, als Bestandteil des Nährmediums noch ein Standard in Pharma und Forschung, erklärt Fuchs.
Inzwischen gibt es Ersatzmedien ohne tierische Komponente. Trotzdem besteht weiter Forschungsbedarf, denn die gleiche Effektivität muss erst noch erreicht werden. ›Mark Post hat auch gesagt: Jede Forschung in Richtung Medienoptimierung ist sehr wichtig‹, so Fuchs. In ihrem Labor in Graz passt die Forscherin dafür die Rezeptur des Nährmediums an, stabilisiert die rekombinanten Proteine, welche die teuersten Inhalte des Mediums sind, und lässt sie in einem neuen – günstigeren – Wirt produzieren. Als Wirt hat in ihrer Forschung die Hefe überzeugt, selbst wenn diese nicht immer die preiswerteste Option sei.
Auch ihre Kollegin, die gebürtige Mazedonierin Viktorija Vidimce-Risteski, hat sich auf ein Problem von In-vitro-Fleisch spezialisiert. ›Als die Forschung zu kultiviertem Fleisch begonnen hat, waren die meisten Fleischstückchen eher durchsichtig oder hellrosa‹, sagt Vidimce-Risteski. Keine Eigenschaft, die Konsumentinnen und Konsumenten vom Kauf überzeugen dürfte. Auch wenn es Abstufungen in den Farbspektren gibt: Rohes Fleisch ist in der Regel rot. Vidimce-Risteski konzentriert sich in ihrer Forschung auf die Herstellung von tierischen Proteinen, konkret Myoglobin und Hämoglobin. Beide sind Eisenträger, zudem geben sie dem Steak den typischen Fleischgeschmack und -geruch. Und nicht zuletzt die charakteristische rote Färbung.
Seit 2004 und damit schon fast die Hälfte ihres Lebens lebt Vidimce-Risteski in Graz. Sie bezeichnet sich selbst als ›Springerin‹, ist also nicht beschränkt auf einen konkreten Forschungsschwerpunkt. So war sie etwa an einem EU-Forschungsprojekt zur Brustkrebsbehandlung beteiligt. Anschließend ging sie auf Themensuche. ›Ein Kollege, der im Business Development arbeitet, hat mich gefragt: »Was können wir mit unserer Forschung zum Thema Fleischersatzprodukte beitragen?«‹, so die Forscherin. Daraufhin habe sie ihre Forschungsideen auf einen Zettel geschrieben, sich am Institut umgehört und recherchiert. Dabei wurde sie auf das Potenzial von Myoglobin und Hämoglobin für alternative Fleischprodukte aufmerksam. Statt die Proteine aber von einem Tier zu gewinnen, lässt sie diese von Hefestämmen produzieren. Dafür importiert sie die notwendigen tierischen Gene in die Hefe. Das Myoglobin und Hämoglobin könnten anschließend in pflanzenbasierten Fleischalternativen oder eben im kultivierten Fleisch aus dem Labor Anwendung finden. ›Ich bin absolut auf der Zielgeraden‹, ist Vidimce-Risteski überzeugt.
Ein Gedanke, der nach der In-vitro-Fleisch-Weltpremiere 2013 sicherlich schon von vielen gedacht wurde. Aber erst im Dezember 2020 wurde die weltweit erste Verkaufserlaubnis für ein im Labor kultiviertes Fleischprodukt in Singapur vergeben. Sieben Jahre lagen also zwischen der Weltpremiere und der ersten Marktzulassung. Viel Zeit, oder? ›Ich hätte damals gedacht, es dauert zehn bis 20 Jahre‹, entgegnet Ernährungswissenschaftlerin Rützler. Immerhin sei es 2013 nur ein ›Proof of Concept‹- Ereignis gewesen: Der Beweis, dass die Technik aus der Humanmedizin sich auch auf die Fleischproduktion übertragen lasse. Zudem hätten damals nur wenige zu dem Thema geforscht. ›Niemand vom Team hatte das Fleisch gekostet, weil es einfach wahnsinnig teuer und aufwendig war‹, so Rützler. 250.000 Euro soll die Herstellung des nur aus Muskelzellen bestehenden Pattys laut Angaben von Mark Posts Unternehmen Mosa Meat gekostet haben. Rützler hat damals also wohl den teuersten Burger der Welt verspeist.
Heute darf in zwei Ländern der Welt nicht nur gekostet, sondern auch gekauft werden. Nach Singapur ließen jüngst die USA Fleisch aus dem Labor zum Verkauf zu. Die Zulassung konnten sich gleich zwei Unternehmen sichern: ›Good Meat‹, die Fleischsparte des kalifornischen Lebensmittelunternehmens Eat Just, Inc., und ›Upside Foods‹. Erstere erhielten bereits 2020 in Singapur die weltweit erste Verkaufserlaubnis für im Labor kultiviertes Fleisch, damals für Chicken Nuggets. Auch in den USA gehen beide Unternehmen mit kultiviertem Hühnerfleisch aus dem Labor an den Start. Der Vertrieb ist – eine weitere Gemeinsamkeit zu dem Vorgehen in Singapur – zunächst über ausgewählte Restaurants geplant.
In Europa geht derweil alles ein bisschen langsamer. Das liegt nicht daran, dass es hier etwa keine innovativen Unternehmen gibt. Im Gegenteil, es wurde bereits ein eigener Interessenverband namens ›Cellular Agriculture Europe‹ gegründet. Auch das Unternehmen Mosa Meat von Pionier Mark Post ist Teil des Verbandes. Wann mit dem ersten kultivierten Produkt in Europa zu rechnen ist, will der Verband allerdings nicht beantworten. Sein Präsident Robert E. Jones ist überzeugt, dass es ›bald‹ auch in Europa Anträge geben werde.
Derweil ist für Hanni Rützler Israel ›einer ihrer Topkandidaten‹ für die nächste Marktzulassung. Auch in China zeichne es sich ab, werde aber noch dauern. Und Europa? ›Ich habe oft das Gefühl, wir sind halt einfach eine alte Esskultur, anders als Amerika‹, so Rützler. Dadurch gebe es viel Protektionismus. Auch gesetzliche Bestimmungen, etwa die Länge des Zulassungsprozesses, würden sich verzögernd auswirken. Im Labor kultivierte Lebensmittel fallen unter die Novel-Food-Regulation der Europäischen Union. In der EU wurde bisher noch gar kein Antrag auf Zulassung von kultiviertem Fleisch gestellt. In Italien spricht die Politik trotzdem schon prophylaktisch von Produktionsverboten im eigenen Land.
Die Niederlande hingegen fördern die zelluläre Landwirtschaft. Vor Kurzem eröffnete Mosa Meat dort eine Scale-Up-Anlage, wo zukünftig zigtausende Burger hergestellt werden sollen. Allerdings zunächst nicht für den europäischen Markt, wie Mark Post erklärt: ›Als wir der Welt kultiviertes Fleisch vorstellten, sagten wir voraus, dass es zehn Jahre dauern würde, bis wir ein Verbraucherprodukt herstellen könnten. Jetzt, fast genau zehn Jahre später, haben wir ein Endverbraucherprodukt, das wir in größeren Mengen herstellen und den Verbrauchern in Singapur servieren können, vorbehaltlich der behördlichen Genehmigung.‹
Auch in Singapur ist In-vitro-Fleisch aber bisher noch kein Massenprodukt. Welche Steine liegen der Großproduktion im Weg? Den Grazer Expertinnen kommen dafür einige Dinge in den Sinn, beispielsweise im Bereich der Technologie. Insbesondere die Entwicklung von adäquaten Bioreaktoren stelle zur Zeit eine große Herausforderung dar. Zudem sind die Produktionskosten weiterhin zu hoch, was immer noch auch am Nährmedium liegt. ›Ohne bahnbrechende technische Lösungen in diesem Bereich sind konkurrenzfähige Preise für kultiviertes Fleisch nicht erreichbar‹, ist die Molekularbiologin Fuchs überzeugt. Ein Grund, warum sie sich dieser Aufgabe widmet.
Je mehr Geld in die Branche fließt, desto schneller könnten sich einige dieser Probleme in Luft auflösen. Und das fließt seit ein paar Jahren in größeren Bächen. ›Im Fleischbereich ist so ein bisschen eine Goldgräberstimmung ausgebrochen‹, sagt Ernährungswissenschaftlerin Rützler. 400 Millionen Dollar sicherte sich allein das US-amerikanische Unternehmen ›Upside Foods‹ in einer Finanzierungsrunde im letzten Jahr. Unter den Investorinnen und Investoren sind bekannte Namen wie Microsoft-Gründer Bill Gates. Ein gutes Jahr später folgte die Marktzulassung in den USA. Daten der Organisation ›The Good Food Institute (GFI)‹ zeigen, dass ein Großteil der in den letzten Jahren in die Branche investierten Milliarden nach Nordamerika gingen.
›Europa ist etwas langsamer‹, sagt Viktorija Vidimce-Risteski. In die gleichen Prozesse und Startups werde in den USA einfach deutlich mehr Geld investiert, stimmt Kollegin Fuchs zu, und die Zulassung von neuartigen Lebensmittelprodukten ist in Europa ein sehr langwieriges und teures Unterfangen. Durch den Zufluss von mehr privaten Geldern habe sich grundsätzlich die ganze internationale Forschungslandschaft verändert, meint Ernährungswissenschaftlerin Rützler. Zwischenergebnisse der Forschungen würden etwa nicht mehr publiziert. ›Firmen müssen später von dem Profit leben, und dann ist es selbstverständlich, dass nur die minimalen Informationen, die man nicht verstecken kann, nach draußen gehen‹, sagt Vidimce-Risteski. Abhilfe könnte mehr staatliche Forschung schaffen. Dennoch gebe es Austausch mit den Firmen, so Fuchs.
Für die beiden Grazer Forscherinnen steht fest, dass sie ihre wissenschaftlichen Ergebnisse nach Projektende als Open Access der internationalen Forschung zur Verfügung stellen – eine Voraussetzung für die finanzielle Förderung durch die DFK-Privatstiftung zur Förderung der synthetischen Herstellung von Fleisch und Leder. Damit wolle man auch eine Art Monopolisierung verhindern, so Vidimce-Risteski. Ende des Jahres sind beide Projekte der Forscherinnen abgeschlossen. Wie es danach weitergeht, wissen sie heute noch nicht. Beide sehen ihre wissenschaftliche Arbeit aber auch als Sprungbrett für eine Unternehmensgründung.
Bleibt die Frage: Wie nachhaltig ist Fleisch aus dem Labor? Das lässt sich erst genau beurteilen, wenn eine vergleichbare Massenproduktion vorliegt. Studien gehen von einem deutlich geringeren Flächenverbrauch aus. Entscheidend wird aber wohl die genutzte Energie sein: Ist die nicht erneuerbar, könnte der CO2-Fußabdruck von Labor-Huhn und -Schwein sogar höher sein als der des konventionellen Pendants, zeigt eine Studie der Umweltberatung CE-Delft. Überflüssig wird das Verringern des Fleischkonsums also erst einmal nicht.
Ernährungstechnische Berührungsängste haben Vidimce-Risteski und Fuchs übrigens nicht. ›Ist das kultivierte Fleisch am Markt in Europa erhältlich, wird es gleichzeitig auch auf unserer Einkaufsliste stehen‹, so Vidimce-Risteski. Und Hanni Rützler will noch schneller sein. Für nächstes Jahr sei sowieso eine USA-Reise geplant. Dann wird Rützler zum zweiten Mal in ihrem Leben einen Burger aus dem Labor verkosten. Er wird hoffentlich etwas billiger sein als ihr erster. •