Der ewige Kardinal
Vom Mao-Rebell zum Papst-Material: Was steckt wirklich hinter Christoph Schönborn?
Es ist 1967, unter Rudi Dutschke erheben sich in Deutschland Studenten zu zehntausenden, und Christoph Schönborn entdeckt die Lust an der Rebellion. Als Theologiestudent an der Ordenshochschule der Dominikaner in der Nähe von Bonn gehört der 22-Jährige zu einer marx-affinen Minderheit. Er marschiert mit der Mao-Bibel auf der Kö, der Königsallee in Düsseldorf, protestiert gegen die rigide alte Ordnung, fast ein ganzes Jahr lang betet er nicht. Er will nicht länger ›auf das Jenseits vertrösten, sondern das Diesseits gestalten‹, sagt Schönborn heute.
Im Zuge der Studentenrevolten und der antiautoritären Bewegung verlassen viele junge Menschen die Kirche, der sie ursprünglich ihr Leben verschreiben wollten. Schönborn wäre fast einer davon gewesen. Doch es kam anders: ›Wir haben einen Professor bestreikt, von dem wir gefunden haben, dass er blöd ist‹, erzählt Schönborn. ›Und unser Anführer hat gefunden, wir müssen den Streik ausweiten auf einen etwas schrulligen alten Professor mit dicken Brillen und ziemlich rundem Bauch. Ich hab gesagt, das dürf’ ma net. Der kriegt einen Herzinfarkt. Worauf unser Anführer geantwortet hat, dann soll er krepieren. Da hab ich gesagt: Nein.‹
Schönborn kehrt um, findet zurück in das Gebet, besinnt sich seiner Berufung. Heute ist der 73-Jährige in Österreich praktisch der personifizierte Inbegriff von Stabilität und Establishment. Seit dem Abtritt von Erwin Pröll und Michael Häupl ist er länger im Amt als jeder andere Würdenträger im Land: Seit 1995 ist er Erzbischof von Wien, insgesamt 25 Jahre werden das im Jahr 2020 sein, wenn er zu seinem 75. Geburtstag dem Papst seinen Rücktritt anbieten wird.
›Der Kardinal mag Porträts nicht besonders‹, heißt es aus der Presseabteilung der Erzdiözese, als wir das erste Mal um einen Gesprächs- und Fototermin anfragen; er stelle sich ungern selbst in den Mittelpunkt. Eine Zuschreibung, die sich bestätigt, als wir schließlich eine Stunde mit Schönborn sprechen dürfen: Schon die Foto-Session zu Beginn ist ihm sichtlich unangenehm. Warum diese Scheu? ›Ich behalte gern die Kontrolle über den Unsinn, den ich red‹, kokettiert der Kardinal, ›weil ich die Erfahrung habe, dass Worte von mir manchmal die Runde um die Welt machen: Eine Äußerung von mir landet dann aus dem Zusammenhang gerissen in Blogs irgendwo in Amerika und zirkuliert, da bin ich im Lauf der Jahre vorsichtiger geworden.‹
Aber da ist noch etwas anderes, ein gewisses Unbehagen, ein Misstrauen dagegen, wie der mediale Diskurs geführt wird. Es gäbe Themen, führt Schönborn aus, bei denen sofort vereinfachte Zuschreibungen gesucht würden: ›Dann ist man ein Konservativer, ein Progressiver, einer, der für Papst Franziskus ist, einer, der für Papst Benedikt ist.‹ Schönborn mag Schubladen nicht, sie sind ihm zu unsauber, zu undifferenziert. Er überlegt lange, bevor er ausführliche Antworten gibt, antwortet oft mit Geschichten und Zitaten. Schönborn spricht mit Bedachtheit und Gestus eines Diplomaten, vor allem bevorzugt er das Leise, das Hintergründige, die Zwischentöne. Er spricht nicht laut, verkündet keine absoluten Gewissheiten. Im Gespräch merkt man ihm die Jahrzehnte in der Wissenschaft, in der Theologie und Philosophie an, er strukturiert seine Sätze in vielen Unterpunkten – und fragt zweimal nach, worum es genau gehen soll, bevor er antwortet.
›Die Medien neigen aus ihrer Beschaffenheit heraus dazu, plakativ zu sein. Und Differenzieren ist nicht plakativ‹, sagt er. Eine Medienmechanik, die er sich nach Belieben zunutze macht: 2015 hält er den Gedenkgottesdienst für die 71 Flüchtlinge ab, die bei Parndorf in einem Kleinlaster starben. Er leitet die Predigt mit den Worten ›Es ist genug‹ ein – und kalkuliert genau, dass es dieser Satz sein wird, den alle Medien aufgreifen werden.
Migration. Heimatsuche, Vertreibung, Flucht: Ein Thema, das Christoph Schönborn persönlich nahegeht. ›So, das ist jetzt unsere eigene Wohnung‹: Bis heute steigen dem Kardinal Tränen in die Augen, wenn er sich an die Worte erinnert, mit denen seine Mutter Eleonore ihn und seine Geschwister im März 1951, an einem eisigen Karfreitag, in eine Wohnung im vorarlbergerischen Schruns geführt hat. An diesem Tag erlebt der sechsjährige Bub zum ersten Mal in seinem Leben, was es bedeutet, nach Hause zu kommen.
1945, nur Monate nach seiner Geburt, wurde die Familie Schönborn durch die Beneš-Dekrete aus ihrer Heimat, Schloss Skalken im tschechoslowakischen Vlastislav, vertrieben. Die Familie gehört zum alten Adel, ein entfernter Vorfahr hat in Wien als Vizekanzler das Heiligen Römischen Reichs das heutige Bundeskanzleramt errichten lassen. Sechs Jahre lang reisen sie von Zuflucht zu Zuflucht, wohnen bei Verwandten in Horn, später in Graz, dann in Lugano, bevor die Mutter in Bludenz eine Stelle und in Schruns eine Wohnung findet.
Vorarlberg wird zur Heimat Schönborns, man hört es bis heute an seinem Idiom, wenn er etwa im Gespräch mit Menschen von dort ins ›Gsibergerische‹ kippt. Im Gymnasium findet der heutige Kardinal zu seiner Berufung: ›Wir hatten einen sehr guten Religionslehrer, da hab ich mir gedacht, das wär etwas für mich.‹ Mit 18 Jahren tritt er in Deutschland in den Dominikanerorden ein, studiert dort, in Frankreich und in Wien Theologie. Ab Mitte der 70er führt er einen Lehrstuhl an der Universität Fribourg in der Schweiz. Während seines Doktorats lernt er unter anderem bei Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI. in Regensburg. Die Bekanntschaft mit Ratzinger führt Schönborn schließlich nach Rom: Ab 1987 arbeitet er für Ratzinger, inzwischen Kardinal und Leiter der Glaubenskongregation, als Redaktionssekretär am Katechismus, einer Kodifikation der christlichen Glaubensgrundsätze. Für einen Theologen eine enorm prestigeträchtige Tätigkeit, aber auch eine trocken-wissenschaftliche – und weit weg von der Praxis in den Pfarren.
Bis er an einem Abend im Jahr 1991 gefragt wird, ob er Weihbischof in Wien unter Kardinal Hans Hermann Groër werden will. Bei seiner Arbeit am Katechismus hatte Schönborn immer wieder mit Johannes Paul II. zu tun – der ihn, wie es damals heißt, gerne in Wien sehen würde. ›Ich war ziemlich erschrocken über diese Message‹, sagt der Kardinal heute, der im Gespräch immer wieder in englische Ausdrücke abgleitet: ›Message‹, ›Ups and Downs‹ und ähnliche Ausdrücke gehen ihm locker von der Zunge. Damals nimmt er sich einige Tage Bedenkzeit bei einer schon länger geplanten Fahrt nach Mariazell – und sagt schließlich zu.
Sein Amtsantritt, als er vier Jahre später vom Weihbischof zum Erzbischof aufsteigt, wird turbulent. 1995 veröffentlicht das Magazin Profil Vorwürfe gegen Groër wegen sexuellen Missbrauchs am Knabenseminar Hollabrunn. Schönborn verteidigt den Kardinal zunächst und vergreift sich massiv im Ton – in einer Aussendung vergleicht er die Berichte mit der Verleumdung und Verfolgung von Priestern im Nationalsozialismus. Eine Aussage, die er Wochen später zurücknehmen wird und dafür um Entschuldigung bittet. Der Vatikan bestellt zwei Wochen nach dem Bericht Schönborn zum Ko-Erzbischof, im September 1995 nimmt er formell Groërs altersbedingtes Rücktrittsgesuch an.
Es wird allerdings noch bis zum Jahr 1998 dauern, bis Schönborn gemeinsam mit drei anderen Bischöfen offen eingesteht, sie seien zu der ›moralischen Gewissheit‹ gelangt, dass die Vorwürfe gegen Groër ›im Wesentlichen zutreffen‹. Noch länger, bis 2010, wird es dauern, bis die Bischofskonferenz unter Vorsitz Schönborns schließlich die Klasnic-Kommission für Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch im kirchlichen Bereich einrichtet.
Der damalige Profil-Herausgeber Hubertus Czernin, verstorben 2006, warf Schönborn vor, von Anfang an gewusst zu haben, dass die Vorwürfe gegen Groër zutreffen – und ihn trotzdem verteidigt zu haben; entsprechende Dokumente wurden in der Wochenzeitschrift Falter abgedruckt. Schönborn selbst bestreitet das, er sei von den Vorwürfen völlig überrascht gewesen: ›Ich hatte vor meiner Ernennung zum Weihbischof im Ausland gelebt und nie einschlägige Gerüchte gehört. Ich war daher zunächst ehrlich überzeugt, dass es sich um Verleumdungen handeln müsse‹, schreibt Schönborn in einem Leserbrief an den Falter. ›Tatsache bleibt freilich, dass wir damals viel zu lang gebraucht haben, um mit einer Situation fertig zu werden, für die es keinen Präzedenzfall gab.‹
Auch, wenn die Nachrichten über Missbrauchsfälle immer wieder zu Spitzen bei Kirchenaustritten geführt haben: Schönborn übernahm von Beginn an ein schrumpfendes Haus. 2001, bei der letzten Volkszählung, bei der die Konfession der Österreicher verbindlich erhoben wurde, diagnostizierte die Statistik Austria, dass der Anteil der Katholiken an der Gesamtbevölkerung seit Beginn der Aufzeichnungen zurückgehe: Waren 1910 noch fast neunzig Prozent Katholiken, waren es 2001 nur noch 73 Prozent.
Seit die Konfession nicht mehr erhoben wird, ist man für Daten auf die Religionsgemeinschaften angewiesen; mit Ende 2017 meldet die Kirche 5,1 Millionen Mitglieder in Österreich, rund 58 Prozent der Bevölkerung. Während der Schrumpfungsprozess eher langsam passiert, ist es das Engagement, das der Kirche zu schaffen macht: Während die österreichischen Diözesen an einem so genannten Zählsonntag 2003 noch 856.000 Besucher in Gottesdiensten meldeten, waren es 2015 nur mehr 545.000 – mehr als ein Drittel weniger binnen zwölf Jahren.
Schönborn übt sich in Pragmatismus: ›Wir sehen hier den Übergang von einer Volkskirche zu einer Entscheidungskirche.‹ Das sei schmerzhaft, aber nun einmal Realität: Sei die Dorfkirche von Schruns früher dreimal am Sonntag voll gewesen, wären die zwei Gottesdienste jetzt an einem Sonntag nur noch schütter gefüllt. ›Der Unterschied ist: Warst du damals nicht in der Kirche, wurdest du schräg angeschaut. Wenn ich in Schruns heute Messe feiere, weiß ich, die Menschen sind da, weil sie wirklich überzeugt sind.‹
Vorschläge, wie sich die Kirche ändern müsste, um relevanter zu werden, gibt es viele – progressivere Kritiker wünschen sich die Aufweichung von Dogmen, besonders in den medialen Brennpunktthemen: Frauen, Zölibat, Partizipation, Verhütung, Geschiedene. Den Konservativen wiederum gehen die zaghaften Schritte, die in der Kirche passieren, schon viel zu weit, sie wünschen sich Rückbesinnung auf alte Werte und die viel schärfere Durchsetzung ebendieser Dogmen.
Mit sechs Jahren erlebt er das erste Mal, was es heißt, nach Hause zu kommen.
Schönborn entscheidet sich nach jahrelanger Vorarbeit für eine Lösung, die in der Mitte beider Lager liegen könnte: Nein, Frauen werden weiterhin keine Messen halten, Priester nicht heiraten dürfen, eine Revolution gibt es in Wien nicht. Jedoch läuft seit einigen Jahren ein ›Entwicklungsprozess‹, den Schönborn und seine Mitarbeiter ›APG 2.1‹ genannt haben, nach der Apostelgeschichte, in der die Jünger nach Jesu Tod in die Welt gegangen sind, um das Wort Gottes zu verbreiten.
Statt vieler einzelner Pfarren mit einem Priester soll es größere Gebietspfarren geben, in denen mehrere mobile Priester gemeinsam Dienst tun. Parallel werden Laien ausgebildet, um innerhalb dieser Großpfarren Teilgemeinden zu leiten und zu betreuen. Keine Revolution, keine Rebellion – aber eine Ermächtigung der Laien, die bisher praktisch überall den Priestern untergeordnet waren. Die Hoffnung des Erzbischofs: Durch diese neue Verantwortung – und Kurse, die eigens dafür angeboten werden – sollen Laien motiviert werden, aktivere Rollen in der Gemeinde zu spielen und andere (wieder) für die Kirche zu begeistern. Eines der erklärten Ziele: ›Möglichst viele Menschen sollen am Sonntag den Pfarrgottesdienst besuchen.‹
Schrumpfungsprozesse gehen nie ohne Reibungsverluste: So hat die Erzdiözese in den vergangenen Jahren mehrere Kirchen an orthodoxe Gemeinden weitergegeben, weil die katholischen Gemeinden so klein geworden waren, dass sie die Kirchen schlicht nicht mehr erhalten konnten. ›Das ist mir lieber, als wenn dort ein Shoppingcenter oder ein Pub hineinkommt‹, sagt Schönborn. ›Es blüht sehr viel christliches Leben in Wien, das nicht direkt zur katholischen Kirche gehört, aber christlich ist.‹
Als zusätzliche missionarische Tätigkeit, um als Kirche möglichst viele Menschen zu erreichen, können die neuen digitalen Kommunikationskanäle verstanden werden, die in den vergangenen Jahren aufgebaut wurden. Auch der Kardinal persönlich inszeniert sich etwa facebooktauglich beim Sonntagsspaziergang mit einem Lamm auf den Schultern. Zusätzlich gibt es etwa Portale wie meinefamilie.at, die junge Eltern in ihrem Alltag abholen sollen – und erst auf den zweiten Blick mit kirchlichen Inhalten daherkommen.
Es ist eine Zeitenwende für die Kirche, das sieht man an allen Ecken und Enden – auch in Schönborns Büro: Himmelblau ausgemalt, in der Farbe der Heiligen Maria, prägt den Raum neben dem barocken Interieur der 15 vergangenen Erzbischöfe auch die moderne Fotokunst seines älteren Bruders Philipp Schönborn. Während sich auf dem Schreibtisch des Kardinals ausgedruckte Dokumente, Bücher und Ikonen türmen, stellt er zu Beginn unseres Gesprächs ein Tablet neben sich, um die Zeit im Auge zu haben und bei Bedarf etwas nachzuschlagen.Auch in anderen großen Fronten im kirchlichen Reformprozess hat Schönborn die Extreme, ob progressiv oder konservativ, immer gemieden. Zwar geht er mit den Vorgaben Roms einher, sein Credo lautet aber: Immer den Einzelfall genau anschauen und nachdenken, wie er sich mit den von Bibel und Vatikan vorgegebenen Regeln in Einklang bringen lässt. Kein Fall hat das so exemplarisch gezeigt wie jener von Florian Stangl. Stangl, ein junger, in der Pfarre sehr engagierter Mann, war 2012 bei der Pfarrgemeinderatswahl in Stützenhofen, einer der kleinsten Pfarren der Erzdiözese im äußersten Weinviertel, mit achtzig Prozent gewählt worden. Der Haken, aus Sicht der Kirche: Stangl lebte mit einem Mann in eingetragener Partnerschaft – der örtliche Pfarrer wollte die Wahl daher nicht anerkennen. Schönborn nahm sich Zeit für ein Gespräch mit den Partnern und befand schließlich, gegen den Willen des Priesters an Ort und Stelle, die Wahl sei anzuerkennen. ›Ich war von seiner gläubigen Haltung, seiner Bescheidenheit und seiner gelebten Dienstbereitschaft sehr beeindruckt‹, schrieb Schönborn damals über Stangl. Allerdings: Das sei kein Präjudiz für andere Fälle; es komme auf den Einzelfall an.
Ein Motiv, das sein Vorgesetzter, Papst Franziskus, mit ihm teilt. In dessen Rundschreiben ›Amoris Laetitia‹, das besonders auf die Rolle wiederverheirateter Geschiedener eingeht, empfiehlt er genau eine solche Vorgehensweise: Einen maßvollen Mittelweg zwischen übertriebenem Rigorismus und ›Verwässerung‹ der Ehe. Schönborn verfasste das Vorwort – und erwähnte, dass er mit dem Thema persönlich vertraut ist: Seine Eltern ließen sich in den 1960er Jahren scheiden. Gerüchten zufolge kann Schönborn mit Papst Franziskus, der ihn einen ›großen Theologen‹ nennt, sehr gut. ›Er ist in Rom immer wieder im Gespräch‹, sagt Michael Landau, als Caritasdirektor der Erzdiözese einer von Schönborns ältesten Mitarbeitern und Kenner der kirchlichen Hierarchie. Mit Franziskus teile Schönborn die Abneigung gegen die Schwarzweißmalerei, die Liebe zum genauen Hinschauen, zur Unterscheidung im Einzelfall. Die Haltung der katholischen Kirche vertritt Schönborn dennoch entschieden, wenn es um Familie geht. Fragen, die er sich stellt, die in seinen Schriften und Predigten immer wieder auftauchen, betreffen die Öffnung der Ehe für Homosexuelle; die Verbreitung von Verhütungsmitteln; die Liberalisierung von Abtreibung und Euthanasie – Fragen, die für Schönborn die Demografie, den Fortbestand Europas, gefährden. Schon 1998, kurz nach Österreichs Beitritt zur EU, schrieb er in seinem programmatischen Buch ›Die Menschen, die Kirche, das Land‹: ›Es muss uns mit Sorge erfüllen, wenn das Europaparlament eine Empfehlung abgibt, gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit gleichen Rechten auszustatten wie die Ehe.‹ Und 2007 erklärte er: ›Unser Kontinent sagt zu seiner Zukunft nicht Ja. Und das hat mit der Pille begonnen.‹
Ähnlich seine Position, wenn man ihn auf den wachsenden Einfluss des Islam in Europa anspricht: ›Ich stelle unermüdlich die Frage: Wie schaut die Demografie aus, in Bezug auf die Nachwuchszahlen der Muslime und die Nachwuchszahlen der anderen? Das ist eine Realität‹, erklärt der Kardinal und klingt dabei eine Spur besorgter, als es seine pragmatische Analyse hergeben würde. ›Warum tritt die Kirche nicht gegen den Islam auf, werde ich immer wieder gefragt. Ich zitiere dann gerne Joseph Weiler, einen jüdischen Europarechtler aus New York, der auf die Frage »Herr Professor, was raten Sie Europa?« die Bibel zitiert hat: »Grow and multiply«, also »Wachst und vermehret euch«! ‹
Wie wichtig klare Entscheidungen und deren Kommunikation für seine Aufgabe sind, ist Schönborn erst im Lauf seiner Amtszeit bewusst geworden: Als er Helmut Schüller, seinen ersten Generalvikar, also jenen kirchlichen Beamten, der die täglichen Geschäfte der Diözese leitet, im Jahr 1999 seines Amtes entheben wollte, suchte er kein direktes Gespräch. Er schlich stattdessen nachts zu dessen Wohnung im Erzbischöflichen Palais und schob ein kurzes Kündigungsschreiben unter seiner Tür durch. Das Echo war verheerend – medial und innerhalb der Kirche.
Ein einziges Mal wird der Kardinal politisch: Bei der Wahl zum Bundespräsidenten im Jahr 2016.
›Er ist sicher niemand, der gern Entscheidungen trifft‹, beschreibt den Kardinal ein Priester, der seit Jahren mit und unter ihm arbeitet. ›Konflikte sind sicher nicht sein Charisma. Aber der Kardinal versucht stets, nicht schwarz und weiß zu malen, sondern in Grauschattierungen ein paar Schritte Richtung Helligkeit zu führen.‹
Das mag mit ein Grund sein, dass Schönborn Politik öfter hinter den Kulissen als auf offener Bühne macht: Mit allen Regierungschefs hatte er in den 23 Jahren, die er jetzt im Amt ist, immer sehr persönlichen und direkten Kontakt, sagt der Kardinal. Was genau das heißt? ›Zum Beispiel, dass man gegenseitig die Telefonnummern hat und auch nutzt, sich Sorgen direkt mitteilt‹, sagt Schönborn. Wenn er über die weltliche Politik spricht, wird er immer wieder indirekt, erörtert lieber, wie es Priester gerne tun, anhand von Anekdoten und Zitaten von und mit anderen, erzählt von Abendessen mit Václav Klaus (›Wer sind die Berater des Präsidenten? Anwort: Die, die auf seinen Rat hören.‹) oder intensiven Gesprächen mit Heinz und Margit Fischer.
Das einzige Mal, als Schönborn politisch dann doch so etwas wie laut geworden war, und das auch noch höchst öffentlich, geschah bei der (ersten) Bundespräsidenten-Stichwahl zwischen Norbert Hofer und Alexander Van der Bellen im Jahr 2016. Damals hatte der Salzburger Weihbischof Andreas Laun aktiv für Hofer geworben. Van der Bellen sei ein ›Gottes- und Kirchenfeind‹, der ›in allen heiklen und gefährlichen Fragen, vom Lebensschutz über die Gottesfrage bis Gender‹ auf der falschen Seite stehe. Katholiken, die ihn wählen, seien ›gehirngewaschen‹. Schönborn wollte das nicht als höchstrangigen kirchlichen Kommentar stehen lassen und antwortete mit der Aussendung: ›Katholische Kirche gibt keine Wahlempfehlung ab‹ – die sich jedoch wenig anders als eine Wahlempfehlung für Van der Bellen interpretieren lässt.
›Ich habe versucht, das zu machen, was, glaube ich, Aufgabe der Bischöfe ist: Es geht nicht um konkrete Wahlempfehlungen, es geht um Kriterien, nach denen alle, die zur Wahl aufgerufen sind, entscheiden sollen‹, sagt Schönborn dazu heute. ›Manche haben dann gemeint, ich hätte Kriterien genannt, von denen ziemlich deutlich ist, dass sie von einem Bundespräsidenten Van der Bellen besser wahrgenommen werden als von einem Bundespräsidenten Hofer.‹
Der ÖVP-Europaabgeordnete Lukas Mandl kennt Schönborn schon seit langem. ›Ein großartiger Mensch‹, schwärmt er über Schönborn – und vorrangig sei der Kardinal immer Seelsorger geblieben: ›Wenn man ihn wegen einer politischen Angelegenheit anruft, kann es sein, dass man ein paar Tage auf eine Antwort warten muss. Als ich ihn um einen Segen für eine Freundin gebeten habe, kam sofort ein SMS, wann ich wo vorbeikommen soll.‹
A
uch Schüller, seit seiner Absetzung als Vikar Pfarrer einer Weinviertler Gemeinde und medienwirksam präsenter Mitinitiator der rebellischen ›Pfarrerinitiative‹, streut Schönborn Rosen: Ein ›sorgfältig abwägender Mensch‹ sei der Kardinal – jedoch innerkirchlich unter massivem Druck der Zentrale und mit Mühe, Entscheidungen zu treffen. Für Schönborns Nachfolge wünscht sich Schüller jemanden, der mutig vorangehe, wenn es darum gehe, Reformen in den Pfarren voranzutreiben; das sei Schönborn nicht. Ein Urteil, das Schönborn zweifelsohne zu undifferenziert wäre. Was wird bleiben von Kardinal Christoph Schönborn, wenn der Vatikan in einigen Jahren einen Nachfolger ernennt, wenn er sich auf seinen Alterssitz im Retzer Land zurückzieht? Schwer zu sagen in einer Institution, die in Jahrzehnten und Jahrhunderten ›tickt‹, in der lokale Reformen und Ideen entweder schnell wieder passé sein – oder, wenn der Papst und die Zeit richtig sind, weltweit Früchte tragen können. Gut möglich, dass Schönborns ›Apostelgeschichte‹-Prozess und seine Theologie der Differenzierung zum Vorbildschema wird, wie die Kirche mit schrumpfenden Gemeinden und den Widersprüchen zur Lebensrealität in Mitteleuropa umgeht. Genauso möglich, dass er einer von vielen Verwaltern in einer Kirche bleibt, die in diesem Übergangsstadium eher Revolutionen als einen differenzierten Weg der Mitte gebraucht hätte. Aber mit Revolutionen hat Christoph Schönborn schon vor Jahrzehnten abgeschlossen.