Die Frau und das Meer
Patrizia Maiorca ist die Tochter eines Apnoe-Pioniers und hat selbst Rekorde ertaucht. Heute kämpft sie für den Schutz der sizilianischen Ostküste.
Ro’ scogghiu. Die auf dem Fels Geborene, wird Patrizia Maiorca, 66, von den Einheimischen genannt. Denn sie zählt zu den Wenigen, die noch im eigenen Elternhaus auf Ortygia geboren wurden, einer rund einen Quadratkilometer großen Insel, über drei Brücken mit Sizilien verbunden, ›mit Palazzi, weiß-rosa wie die Gischt‹, sagt sie. Sie öffnet die Tür zum Palazzo Via Larga Nummer 24, ihrem ehemaligen Elternhaus, das sie heute an Touristen vermietet, und steigt die breiten Marmorstufen hinauf. Früher sei sie die Treppen mit Gewichten an den Beinen hinauf- und hinabgerannt. ›Bei schlechtem Wetter‹, sagt sie, ›war das mein Training‹. Man brauche Kraft in den Beinen, um aus der Meerestiefe wiederaufzutauchen.
Von ihrem ehemaligen Kinderzimmer blickt man aufs Meer. ›Bei Sturm‹, sagt Maiorca, ›konnte ich die Brandung hören‹. Am Gang hängt ein Poster ihres verstorbenen Vaters und Apnoe-Trainers Enzo Maiorca, ›Lord der Abgründe‹ tauften die italienischen Zeitungen den mehrfachen Weltrekordhalter im Apnoe-Tauchen. Einer der ersten, der an einem Metallschlitten ein Seil entlang hinab in die Meerestiefen glitt, per Hebesack wieder auftauchte und Luc Besson dadurch später zum Kultfilm ›Im Rausch der Tiefe‹ inspirierte. ›Mein Vater erzählte uns oft von seinen Erlebnissen im Meer‹, sagt Maiorca. Sie wollte das Gleiche erleben: Hinabtauchen mit nur einem einzigen Atemzug. Ohne Atemgerät. Losgelöst. Frei. Nach der Arbeit fuhr der Vater mit ihr und der Schwester oft nach Plemmirio, zum Capo Murro, dem südöstlichsten Zipfel Siziliens, wo das Meer Bögen, Schluchten, Spalten, Grotten in die weißen Kalksteinklippen geschlagen hat. Und wo der Leuchtturm steht, der nachts seinen weißen Lichtstrahl über das Meer nach Ortygia hinüberschickt, alle fünf Sekunden.
Rund 60 Jahre später steht Maiorca wieder am Kap, ihre blauen Augen strahlen, die kurzen Locken sind ergraut, statt Tauchflossen trägt sie Trekkingschuhe. Vom Leuchtturm blättert die weiße Farbe in großen Schuppen ab. Direkt vor ihr stürzen weiße Kalksteinklippen senkrecht ins Wasser. Maiorca blickt auf das türkisgefleckte Meer unter sich, das hier Tiefen von bis zu fünfzig Metern erreiche, sagt sie. Unter der Meeresoberfläche erhebe sich vom Meeresgrund ein 30 Meter hoher Berg. Orangefarbene Sternkorallen wachsen an ihm empor, Muränen, Barrakudas, Medusen und der stark gefährdete braune Zackenbarsch leben in seinen Höhlen. Manchmal schwämmen Tümmler vorbei. Sie selbst sei oft zum Unterwasserberg hinabgetaucht.
Durch Training hat Maiorca gelernt, ihren Atem-Reiz bis aufs Äußerste hinauszuzögern. Wie alle Freitaucher hat auch sie ihren Tauchreflex reaktiviert, der bei erwachsenen Menschen verkümmert ist, den Meeressäuger aber besitzen, damit der Druck im Wasser ihre Lungen nicht zerquetscht. Der Gehirnnerv löst den Reflex beim Eintauchen ins Wasser aus. Dann sinkt die Herzfrequenz, der Körper fährt auf Energiesparmodus herunter und reduziert so den Sauerstoffverbrauch, so dass man länger unter Wasser bleiben kann. ›Ohne Tauchgerät und Luftblasen reagiert die Unterwasserwelt ganz anders auf dich‹, sagt sie. ›Die Stille im Meer, wenn kein Boot über dir fährt. Die Zeit dehnt sich. Du fühlst dich selbst wie ein Meerestier.‹

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