Die Vorstadtengel
Die katholische Organisation ›Le Rocher‹ schickt bürgerliche Franzosen in Banlieues, um dort zu leben. So wollen sie die Risse in Frankreichs Gesellschaft kitten und den Menschen vor Ort helfen. Ist das mehr als ein Tropfen Wasser auf den heißen Stein?
Pierre Thomas ist ein drahtiger, gepflegter Mann mit Hornbrille. Er sucht gerade nach Menschen, die er auf eine Tasse Minztee einladen kann, als er die Straße hinunterspaziert und auf Jean-François, einen hageren Mann mit eingefallenem Gesicht trifft. Die vielen Zigaretten haben seinen Zeigefinger gelb verfärbt, und irgendwie passt sein Äußeres nicht in den idyllischen Buchenpark, in dem er hier steht. Als er gerade Plastikflaschen vom Gehsteig aufsammelt, unterbricht ihn Thomas höflich. Jean-François legt seinen Kopf ein Stück in den Nacken und kneift die Augen zusammen. Lächelnd streckt ihm Thomas einen Pappbecher entgegen, aus dem heißes Teewasser dampft.
Jean-François greift zu. Warum er denn in seiner Freizeit den Müll hier aufsammle, fragt ihn Thomas. ›Na, weil uns heute die neue Premierministerin in Les Mureaux besucht‹, antwortet der stolz und deutet die Allee entlang. Dann wolle er ihn nicht länger aufhalten, sagt Thomas und schlendert mit seiner Teekanne weiter die Straße hinunter. Er wartet einen Moment und sagt: ›Es ist kein Zufall, dass sich die frisch angelobte Premierministerin ausgerechnet diese Gemeinde für ihren ersten Amtsbesuch ausgesucht hat.‹
Lex Mureaux ist eine von 15 Banlieues rund um Paris, die der Staat die letzten Jahre über für viel Geld aufgehübscht hat. Die Gegend sollte grüner werden, die Chancen gleicher. Deswegen riss der Staat alte Plattenbauten nieder, ersetzte sie durch kleinere Neubauten und begrünte einen Großteil der gewonnenen Flächen. Mittlerweile wirkt Les Mureaux mit seinen Vier-Familien-Häusern zumindest von außen mehr wie ein moderner Teil von Wien-Donaustadt als eine klassische Banlieue. Auch auf der Wiese, neben der Thomas gerade Tee ausschenkt, stand ein Plattenbau, der gut hundert Menschen beherbergte.
Schon Mitte Mai hängen hier die ersten Wahlplakate, denn einen Monat später wird Frankreich ein neues Parlament wählen. Premierministerin Élisabeth Borne ist auch danach noch in ihrem Amt. Doch das neugegründete, links-grüne Bündnis ›NUPES‹ von Jean-Luc Mélenchon bekam in Les Mureaux beim ersten Wahlgang 24 Prozentpunkte mehr als ›En Marche!‹, die Partei um Borne und Präsident Emmanuel Macron. Das liegt auch daran, dass die Banlieues für den kürzlich wiedergewählten Macron – wie für viele Präsidenten vor ihm – ein blinder Fleck sind.
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