Editorial September 2022
Diese Zeilen schreibe ich Ihnen aus Alpbach, jenem kleinen Tiroler Ort, in dem seit 1945 das Europäische Forum Alpbach stattfindet. Ich pflege zu dieser Veranstaltung ein ambivalentes Verhältnis – nirgendwo war in den vergangenen Jahren hochgeistiges Hirnfutter und plattes Adabei-Fastfood so nah beieinander. Von einer Diskussion über die Ukraine möchte ich Ihnen kurz erzählen, weil sie zeigt, was Alpbach sein kann – ein Brennpunkt der Impulse und der Reflexionen von zeitgeschichtlicher Dimension. Im Zentrum des Sesselkreises im Alpbacher ›Schulhäusl‹: Der US-Historiker und Ukraine-Auskenner Timothy Snyder, die stellvertretende Generaldirektorin für Erweiterung und Nachbarschaftspolitik in der Europäischen Kommission, Katarína Mathernová, und Jana Barinowa, die nach Österreich geflüchtete ehemalige Leiterin des Kulturamtes der Stadt Kiew. Im Publikum befand sich eine Gruppe junger ukrainischer Frauen – und der Harvard-Ökonom Jeffrey Sachs.
Ebendieser sorgte mit einer Wortmeldung für heftige Irritationen. Zunächst argumentierte Snyder ausführlich, weshalb es für die Europäische Union von existenzieller Bedeutung sei, zu verhindern, dass Russland den Krieg gegen die Ukraine gewinnt. Stark verkürzt: Als einzigartiges post-imperialistisches Projekt würde die EU die Folgen eines auf ihrem Kontinent erfolgreichen imperialistischen Krieges schlicht nicht überleben. Es sei auch ihr Krieg. Dann stand Sachs auf, richtete sich mit betroffener Miene an die jungen ukrainischen Frauen und sagte: ›Bitte glaubt nicht, was Timothy euch sagt – auch, wenn es schön klingt. Russland kann diesen Krieg nicht verlieren. Mit seinen tausenden Nuklearwaffen kann Putin nicht bezwungen werden.‹
Snyder konterte mit faktenbasierter Coolness. Praktisch keinen Krieg der jüngeren Vergangenheit hätte das jeweils größere Konfliktland gewonnen und, was die Nuklearwaffen betrifft, so seien die USA das beste Beispiel dafür, dass man Kriege auch mit vollen Atomwaffenarsenalen verlieren könne. Weniger cool, aber um nichts weniger überzeugend kam die Antwort einer jungen Ukrainerin aus Nikopol im Süden des Landes, wo gerade Granaten einschlagen – in der Nähe von Europas größtem Atomkraftwerk. Um die Schultern hatte sie die blau-gelbe Flagge ihres Heimatlandes. Eindringlich erinnerte sie Sachs an den wahren Grund, weshalb Putin seine Aggressionen auf die Ukraine lenkt, nämlich die selbstbestimmte, EU-orientierte Demokratiebewegung, die in den Maidan-Protesten im November 2013 kumulierte. Sachs schwieg. Gänsehaut im Bergdorf.
Später an diesem Tag saß Timothy Snyder mit Erste-Group-Chef Willibald Cernko auf der Bühne. Dort nahm er besonders Deutschland in die Pflicht. Zu zögerlich, zu unentschlossen reagiere man in Berlin auf Russlands Imperialismus. ›Deutschland muss jetzt handeln, denn die nächsten Monate sind entscheidend‹, so Snyder. Und Österreichs Rolle? Kanzler Nehammers Besuch bei Putin? Die offene Hinterfragung der Sanktionen durch ÖVP-Landespolitiker? Darauf hatte Snyder bereits am Vormittag im Schulhäusl bemüht höflich und auf Deutsch geantwortet. Wie sich Österreich verhält, sei nicht so wichtig. ›Nur: Deutschland darf nicht Österreich sein, und muss es auch nicht. Denn diese Rolle erfüllt bereits Österreich – makellos.‹ Ein kecker Witz, eine traurige Wahrheit. Ein Impuls zur Reflexion. •
Ich wünsche Ihnen viel Freude mit diesem Heft und uns allen einen Herbst, der nicht hält, was er verspricht.
Ihr Sebastian Loudon