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Ein Jaukerl fürs Korn

Ein Tullner Startup will Saatgut so widerstandsfähig machen, dass es weniger Düngemittel benötigt. Das wäre gut für Boden, Klima und Mensch. Aber Green Technology ist ein hartes Geschäft.

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Fotografie:
Susi Mayer
DATUM Ausgabe Mai 2023

Hier wird das Saatgut vom Bolzen gehalten‹, sagt Nikolaus Pfaffenbichler, über die schräge Drehscheibe des Seed-Injectors gebeugt. ›Danach kommt die Säge, macht einen Schlitz ins Korn oder die Bohne. An der nächsten Station werden die Mikroorganismen hineingespritzt. Die sind sehr sensibel, das geht nicht mit Druck. Und danach wird das Saatgut verklebt, fährt durch eine kleine Trockenstation und kann abgepackt werden.‹ Pfaffenbichler zeigt mit einem Schraubenzieher auf die verschiedenen Teile der Maschine. Der Prozess wurde von seinem Startup Ensemo entwickelt, dauert weniger als eine Sekunde und soll erhebliche Mengen an mineralischem Stickstoffdünger einsparen. Was das bringt, wenn es funktioniert? Nichts Geringeres als eine Revolution in der konventionellen Landwirtschaft.

Denn in den zehn Minuten, die Pfaffenbichler braucht, um seine Konstruktion zu erklären, werden nicht weniger als zwei Millionen Kilogramm Düngemittel hergestellt. Über hundert Millionen Tonnen mineralischen Stickstoffdüngers laufen jährlich von den Förderbändern der Düngemittelindustrie. Und richten dabei erheblichen ökologischen Schaden an. Das Nature Magazine bezifferte in einer im Februar 2023 erschienenen Studie den Anteil der Düngemittelindustrie an den weltweiten Treibhausgasen mit fünf Prozent. Das spielt in einer Liga mit der Stahl-, Plastik- oder Zementindustrie. Die Energie dafür kommt hauptsächlich aus Gas, was große Mengen CO2 freisetzt: ›Für ein Kilogramm Ammoniak brauchen Sie zwei Kilogramm Gas‹, erklärt der Grüne EU-Parlamentarier und Landwirtschaftsexperte Thomas Waitz.

Dabei verursacht die Herstellung sogar noch weniger Emissionen als die Umwandlung nicht verbrauchten Stickstoffdüngers auf den Feldern. Was die Pflanze nicht aufnimmt, kommt als Lachgas in die Atmosphäre – ein Treibhausgas, das 300 Mal stärker wirkt als CO2. Und das in rauen Mengen: Für rund 50 Prozent aller weltweit geernteten landwirtschaftlichen Produkte kommen Stickstoffdünger zum Einsatz. 

Mit langen, schweren Schritten geht Nikolaus Pfaffenbichler nach der Demonstration des Seed-Injectors aus der Werkshalle, durch einen Gang mit ­farbigem Leitsystem an den Wänden, einige Stufen hinauf und biegt schließlich in eines der lichtdurchfluteten Klassenzimmer der ehemaligen Tullner Landbaufachschule ein. Pfaffenbichler ist ausgebildeter Agrartechniker und Biotechnologe. Über 1,90 Meter groß, breite Schultern, Vollbart. Tiefe ruhige Stimme, einnehmender Scheibbser Dialekt. Er ist der Mann fürs Grobe, technisch versiert und mit der Saatgutindustrie gut vernetzt. Im Klassenzimmer übergibt er an seine Co-Founderin Birgit Mitter, Expertin für Mikrobiologie und auf den Patenten von Ensemo als Erfinderin der Technologie gelistet. Schmale, drahtige Figur, schnelle wendige Bewegungen unter wachen Augen, leise Stimme und vorsichtige Wortwahl: Mitter ist das mikrobiologische Mastermind von Ensemo. Seit über 20 Jahren beforscht sie das Pflanzenmikrobiom, also alle Kleinstlebewesen, die (im besten Fall) symbiotisch mit, in und auf ihren Wirtspflanzen leben.

Seed Injection nennt das Tullner Startup seine Technologie. Damit werden Mikroorganismen, sogenannte Stickstofffixierer, direkt ins Saatgut injiziert. Sie helfen der Pflanze, den für ihr Wachstum so wichtigen Stickstoff zu binden. So sollen große Mengen mineralischen Düngers eingespart werden. Ist Seed Injection nur für das Einbringen von Stickstofffixierern geeignet? Nein, sagt Mitter. Der Grund für den Fokus auf Stickstoff sei, dass dort das größte ökologische und ökonomische Potenzial vorhanden sei. Prinzipiell könne die Technologie für alles verwendet werden, das als Flüssigkeit direkt ins Saatkorn injiziert wird: ›Stickstofffixierer, Pathogenabwehr, es gibt auch Bakterien, die das Wurzelwachstum von Pflanzen anregen und sie dadurch resistenter gegen Trockenheit machen‹, sagt Mikrobiologin Mitter.

Selbst wenn Mitter den Einsatz solcher Bakterien nicht als Wunderwaffe sehen will – die Landwirtschaft könnte derart behandelte Pflanzen gut gebrauchen, ist sie doch  für 70 Prozent des weltweiten Wasserverbrauchs verantwortlich. Der Grund für den starken Wasserrückgang, der zurzeit etwa beim Neusiedlersee und beim Zicksee zu beobachten ist: Wassernutzung für die Landwirtschaft und starke Verdunstung durch anhaltende Hitzeperioden. 

Unter dem übermäßigen Einsatz von Düngemitteln leidet außerdem die Wasserqualität. So kommt es immer wieder zu Nitrit- und Nitratausschwemmungen. ›Landen die schädlichen Stoffe nicht im Grundwasser, sondern durch Flüsse im Meer, entstehen an den Mündungen sogenannte Todeszonen: sauerstoffarme Gebiete, in denen kein Tier mehr überleben kann‹, erklärt Landwirtschaftsexperte Waitz. 

Beim Düngemittelhersteller Yara mit einem jährlichen Umsatz von 24 Milliarden US-Dollar ist man sich der­ ­Umweltschädlichkeit mineralischer Stickstoffdünger bewusst. Zu starken Bodenbelastungen käme es laut Marco Fleischmann, Geschäftsführer und Vertriebsleiter von Yara im DACH-Raum, aber hauptsächlich bei (zu) viel organischem Dünger, etwa in Regionen mit intensiver Tierhaltung. ›Schon aus betriebswirtschaftlichen Überlegungen sind Landwirte bemüht, mineralischen Stickstoffdünger auf das notwendige Minimum zu reduzieren‹, sagt Fleischmann. Denn: Dünger kostet. Die Energiekrise im Zuge des Ukrainekriegs und die dadurch explodierenden Gaspreise haben 2022 zur Schließung eines Ammoniakwerks von Yara in Belgien geführt. Der Düngemittelpreis stieg von 350 auf tausend Euro pro Tonne. Momentan werde viel Zeit und Geld in die Herstellung grünen Ammoniaks gesteckt, sagt Fleischmann. Denn auch Yara will und muss – nicht zuletzt wegen Nachhaltigkeitsbestrebungen der EU – langfristig den Einsatz fossiler Brennstoffe drosseln. 

In Tulln hofft man indes, dass viele Landwirte in Zukunft auf mit der Ensemo-Technologie behandeltes Saatgut umsteigen. Bereits jetzt sehe man bei der Sojabohne eine Ertragssteigerung von bis zu zehn Prozent, sagt Agronom Pfaffenbichler. Im besten Fall setzen die Endabnehmer aber nicht auf Ertragssteigerung, sondern Düngemitteleinsparung und investieren wieder mehr in den Aufbau der Böden. Das seien zwei verschiedene Denkschulen, sagt Pfaffenbichler. Bei Ensemo wolle man, dass die Landwirtschaft insgesamt ökologischer wird: ›Da haben wir beim mineralischen Stickstoffdünger einen starken Hebel.‹

Mikroorganismen sind in der Landwirtschaft gut erprobt. Im Sojaanbau geht ohne die sogenannten Rhizobien nichts. Rhizobien sind Knöllchenbakterien, die an erbsengroßen Kügelchen im Wurzelwerk der Sojapflanze dafür sorgen, dass genügend Stickstoff aus der Luft fixiert und der Pflanze zur Verfügung gestellt wird. Sie sind Mikroorganismen, die den Ertrag nachweislich steigern. Mit der Sojabohne und den Rhizobien sei man schon sehr weit, meint Mitter. Man müsse die Landwirtinnen und Landwirte also nicht mehr von der Biologie überzeugen, sondern lediglich von der Technologie. Die ist aber das Entscheidende.

Denn Mikroorganismen sind hochsensible Lebewesen und gedeihen nicht unter allen Bedingungen. Derzeit werden sie entweder durch Beizen des Saatguts – also Auflösen des Mikroorganismenpulvers in Wasser und Vermischen mit dem Saatgut – oder durch das direkte Einbringen in den Ackerboden zugeführt. Der zeitliche Ablauf muss dabei genau gesteuert werden: ›Und wenn etwas schiefgeht, sind die Landwirtinnen und Landwirte selbst dafür verantwortlich‹, erklärt die Mikrobiologin. Saatgut, das mit Ensemo behandelt wurde, wäre somit eine Ready-to-use-Lösung. Es würde Zeit sparen, Aufwand, Herumrechnerei und das Warten auf die richtigen Witterungsbedingungen für die Mikroorganismen bei Aussaat und Beizung. Darum injiziert das Startup, das sich nach langen Forschungsjahren 2021 aus dem Austrian Institute of Technology (AIT) gegründet hat, die Mikroorganismen direkt ins Saatgut. Dort überleben sie besser. Dadurch erreichte Ertragssteigerungen beziehungsweise Einsparungen beim Düngemittel  sollen die Mehrkosten des Ensemo-Saatguts übersteigen. 2025 sollen die ersten Säcke voll seed-injected Saatgut von den Förderbändern laufen.

In fünf Jahren sollen die Umsätze so skalieren, dass auch ordentlich in die Maschinenentwicklung investiert werden kann. Und in zehn Jahren will Nikolaus Pfaffenbichler die konventionelle Landwirtschaft Europas so verändert haben, dass Mikroorganismen als Alternative zur Agrochemie zum Einsatz kommen. ›Das Körndl soll schon beim Aussäen alles haben, was es einmal zum Leben braucht: kein Nachdüngen mehr, keine Pestizide, kein Pflanzenschutz‹, sagt er. Seine Kollegin Birgit Mitter wiegt den Kopf. Die grüne Revolution in der Landwirtschaft wäre ohne den Einsatz von Düngemitteln nicht geglückt, meint sie. Wir hätten viel mehr Hunger auf der Welt. Eine Reduzierung werde man schon bewirken, sagt sie. Aber: ›Ob wir die Chemie ganz wegbekommen, da bin ich skeptisch.‹

Die Vermarktung von Ensemo wird direkt über die Saatgutproduzenten laufen. Nach der Reinigung und Auf­bereitung des Saatguts in den Hallen der Produzenten behandeln mehrere Seed-Injectors jedes einzelne Saatkorn, jede Sojabohne, jedes Maiskorn mit Mikroorganismen. So die Theorie. Der Saatgutmarkt ist mächtig, aber klein. Christian Gladysz leitet die Produkt­entwicklung bei Saatbau Linz, dem Kooperationspartner von Ensemo. Der Saatguthersteller ist mit Tochterunternehmen in zwölf Ländern vertreten, erreichte 2022 einen Konzernumsatz von über 275 Millionen Euro und investiert im Bereich Saatgut nach eigenen Angaben zehn Prozent des Umsatzes in Forschung und Entwicklung. In der Kooperation mit Ensemo beteiligt sich der Saatguthersteller an den Feldversuchen. Die Einbringung von Mikroben in das Innere des Saatguts sieht Produktentwickler Gladysz dabei als großen Vorteil: ›Seed-Injection könnte eine Art Missing Link darstellen‹, so Gladysz.  Dabei ginge es gar nicht (nur) um schnöde Umsatzsteigerungen, denn: ›Die Menge des eingesetzten Stickstoffdüngers zumindest teilweise durch Mikroorganismen zu reduzieren, ist seit Jahrzehnten ein Traum von vielen Forschungsgruppen weltweit.‹ 

Diesen Traum jahrelang zu entwickeln und zu begleiten, muss sich jedoch auch jemand leisten können. Zwar boomt der Markt für Agritechnologie: 2022 wurden in Europa 1,4 Milliarden US-Dollar in den Sektor investiert, im Vergleich zu 1,1 Milliarden im Jahr 2021. Das größte Fragezeichen bei Startups dieser Art sei aber der Zeitpunkt der ersten Erlöse, sagt Startup-Mentor Hans-Peter Blahowsky, der Ensemo 2021 bei der Gründung half. Über das Start­up-Credo ›Fail fast‹ kann man bei Ensemo nur müde lachen. Anders als bei anderen Industrien sind Erfinderinnen und Erfinder in der Agrikultur oft abhängig von den Vegetationsperioden der Pflanzen. Was über den Winter entwickelt wird, trägt erst am Ende des Sommers sprichwörtliche Früchte. Und erst nach mehrmonatiger Evaluierung im Herbst wissen Pfaffenbichler, Mitter und ihre beiden Mitarbeiter, ob die Feldversuche ein Erfolg waren.

Dennoch sieht Blahowsky großes Potenzial bei Ensemo. Die Industrie warte geradezu auf Technologien, die dabei helfen, auch in Zukunft die Agrarsicherheit zu gewährleisten: ›Wenn man also eine technische Entwicklung hat, die bei der Einsparung von Düngemitteln ansetzt – dann her damit!‹ 

Aber: Die Zeit drängt. Startups sind dazu angehalten, schnell neue Prototypen ihrer Produkte und Lösungen herzustellen, statt an der Perfektionierung einer Ausgangsidee zu arbeiten. Während weltweit von den Feldern tonnenweise Lachgas in die Atmosphäre steigt, ist man im Labor in Tulln über Petrischalen gebeugt, man studiert und probiert. ›Trichoderma harzianum – einer meiner Lieblinge‹, sagt Mikrobiologin Mitter und hält strahlend eine fuchsiafarben bewachsene Petrischale ins Licht. Derzeit beforscht Mitter die Struktur von Maiskörnern und anderem Saatgut, um den Injektionsprozess und die Mikroorganismen zu perfektionieren, sodass auch die Behandlung des schnellwachsenden Kukuruz bald Marktreife erlangt.

Zurück in der Maschinenhalle tüftelt Agronom Pfaffenbichler weiter am Seed Injector. 500.000 Euro kostete die Entwicklung der Maschine bereits. Dabei ist der Prototyp schon längst überholt, der neue Injector ist präziser, schneller, besser. Es sei frustrierend, sagt Pfaffenbichler, schon beim Planen der neuen Maschine zu wissen, dass es nur eine Übergangslösung, ein ewiges Ausprobieren ist: ›Von der Aerodynamik über Lasertechnologie – es ist sehr teures Legospielen für Erwachsene.‹ An der Reinigungsstation der Maschine ist eine Zahnbürste befestigt. Eine Spezialanfertigung hätte zu lange gebraucht: Dr. Best tut’s auch.

Ensemo befindet sich mit seinen Bemühungen nicht allein auf weiter Greentech-Startup-Flur. Vertical Farming, modulare Pilzzuchten, das Erschließen neuer pflanzlicher Proteinquellen, der Einsatz von IOT (Internet of Things) zur automatischen Vernetzung unterschiedlicher landwirtschaftlicher Maschinen, Drohnentechnologie und: Daten, Daten, Daten. Unzählige der neuen Agritech-Startups machen es sich zur Aufgabe, mit eingesetzten Ressourcen schonender umzugehen, indem mit Sensoren etwa der Wasserverbrauch, Düngemitteleinsatz und Pflanzenschutz, Feuchtigkeit und Temperatur punktgenau gemessen, gesteuert und optimiert werden. Aber auch Pflanzenhilfsmittel stehen in der Entwicklung hoch im Kurs. Derzeit wird etwa an Konzepten gearbeitet, die ›ants-as-a-service‹ anbieten, um die Biofungizid-Wirkung von Ameisen zu nutzen und weg von chemischen Fungiziden zu kommen. Man forscht an sogenannten extremophilen Mikroorganismen, die den extremen Klimabedingungen trotzen und Pflanzen auch auf teils erodiertem Boden beim Wachstum helfen sollen. 

Sogenannte biologische Pflanzenhilfsmittel wie Mikroorganismen sind in der Theorie einfacher auf den Markt zu bekommen als Pflanzenschutzmittel – also Chemie, die etwas abtötet. Bei Letzterem laufen lange Zulassungs- und Ökotoxikologieverfahren, bevor Produkte verkauft werden dürfen. Und: Die EU will grüner werden. Große Unternehmen müssen bald ihren ökologischen Fußabdruck von der Herstellung (sogenannte Scope-1-Emissionen) bis zur Verwendung bei den Endkunden (Scope 3) abbilden. CO2-Steuern sollen außerdem dafür sorgen, dass ökologisches Wirtschaften auch ökonomische Vorteile mit sich bringt.

Trotz dieser an sich günstigen Rahmenbedingungen gibt es für alle Startups im Agrikulturbereich ein großes Problem: Bei der Markteinführung muss alles glatt laufen. Sobald Ensemo veredeltes Saatgut herstellt, ist das Start­­up auf Landwirtschaftsberater angewiesen, denen die Landwirte ›normalerweise vertrauen‹, sagt Nikolaus Pfaffenbichler. Während der Entwicklungsphase hat das Startup noch jeweils einen Versuch pro Jahr, um alles richtig zu machen. Beim Launch wird es nur einen einzigen ›Schuss‹ haben: ›Geht der schief, sind wir weg vom Fenster‹, sagt Pfaffenbichler. •

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