›Jo mei‹

Wie leben Menschen in Österreich im hohen Alter, zum Beispiel Grete? Ein Buchvorabdruck.

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Fotografie:
Florian Rainer
DATUM Ausgabe September 2017

Um 07.30 Uhr läutet der Wecker. Zuerst die Medikamente: Trigelan 50mg zur Behandlung von Parkinson. PK Merz 100mg zur Vorbeugung von Zittern, Bewegungsstörungen und Körperstarre. Furon 40mg zur Förderung der Wasserausscheidung. Und Motilium 10mg gegen Übelkeit. Dann Körper­hygiene. Zum Frühstück eine Scheibe Brot oder eine Semmel, manchmal ein Stück Striezel und immer Caro-Kaffee, koffeinfrei. Blutdruckmessen, meist ist er niedrig, rund 115/70. Eine Stunde Schlaf, dann Fernsehen. Alle 45 Minuten ein Glas Leitungswasser. Um 11 Uhr die Suppe, meistens eine cremige. Dann Xarelto 20mg zur Vorbeugung von Thrombosen und Embolien, Trigelan 50mg, PK Merz 100mg. Um 12 Uhr Mittagessen, Gemüse, manchmal Fisch, Fleisch nur am Sonntag. Dazu täglich Obst, Birnen, Äpfel, Bananen, alles püriert. Ihre falschen Zähne passen nicht mehr, neue zahlen sich nicht mehr aus. Nach dem Mittagessen zwei Stunden Schlaf. Um 15.15 Uhr ›Sturm der Liebe‹, ORF2. Dazu Kaffee und Kuchen oder Joghurt mit Biskotten und Honig versüßt. Ein Nachmittagsschlaf. Um 18 Uhr das Nachtmahl, Blutwurst mit Kren, Brot mit Aufstrich, Tee. Um 19.30 Uhr Zeit im Bild. Abends: Trigelan 50mg. Um 20 Uhr Nachtruhe bis 07.30 Uhr.

So sieht Gretes Tag aus, jeder Tag im vorletzten Stadium, wie ihre Pflegerin Zuzana es nennt. Die Grete hat Parkinson und Demenz, immer wieder Depressionen und immer seltener Schmerzen. Mit ihrem vollen schwarzen Haar und den hohlen Wangen liegt sie da, ein dünner, langer, starrer Körper. Das Bett verlässt sie nur mehr, wenn die Zuzana sie zur Abwechslung in den Rollstuhl setzt – oder sie ins Krankenhaus muss. Viermal musste sie im letzten Jahr. Ein jedes Mal hat man sie dort aufgegeben, ein jedes Mal ist sie zurückgekehrt. Ihr Körper kann nicht mehr so, ihr Geist will nicht mehr so. Sie ist schon noch da mit dem Kopf, sagen die Ärzte, die Pflegerinnen, sagt der Sohn. Manchmal nickt die Grete, wenn man sie etwas fragt, meistens aber nicht. Sie selbst sagt nicht mehr viel, einen Satz alle paar Tage, den dafür öfters, weil niemand ihn gleich versteht. Heute ist es ein einziger Satz, den sie mehrmals sagt, zu ihrem Sohn Peter, der sich freut darüber wie über ein Geschenk: ›Peta, iss wos!‹

Ein Festnetztelefon mit Schnur, Albrecht Dürers betende Hände, der Geruch von Klostein im Vorraum. Es ist alles wie früher, nur die Jahreszahl der Sternsinger ändert sich: 20 C+M+B 17 steht kreidebleich über der Eingangstür. Im Schrank Bücher über Otto Schenk und Christiane Hörbiger, die Schauspieler, und über Morbus Parkinson, die unheilbare Krankheit. Daneben zwei Puppen aus Stoff, ein Engel aus Ton, Pflegecremes und Fotos von Verwandten, die lange tot sind oder kurz oder einmal im Jahr zu Besuch kommen. Auf ein weißes Stofftuch an der Wand steht gestickt:

›Wenn sich der Eltern Augen schließen
Ihr milder Blick im Tode bricht
Dann ist das schönste Band zerrissen
Denn Elternlieb vergisst man nicht.‹

Grete ist jetzt 82 und lebt zu Hause, in einem kleinen Dorf im Süden von Niederösterreich. Sie hat die 5er-Pflegestufe und seit acht Jahren eine 24-Stunden-Pflege aus der Slowakei. Zwei Damen, die sich jeden zweiten Dienstag abwechseln, wenn ein Fiat Ducato die eine bringt und die andere holt. Dass das einmal so kommen würde, dass der Staat und die Gesellschaft solch ein Leben im Alter einmal ermöglichen, das hätte sich damals, vor 82 Jahren, wohl niemand gedacht.

Margareta Fornix, die alle nur Grete nennen, ist am 17. März 1935 in die Welt gekommen. Sie ist zu Hause geboren worden, Tochter des Johann Fornix und der Leopoldine Fornix, geborene Pichler, eines von drei Kindern. Der Vater Sozialist, Schutzbündler, Eisenbahner, die Mutter Küchenhilfe bei unterschiedlichen Wirten im Dorf.

Als Kind im Krieg spielte Grete auf den Wiesen hinter den Häusern und in den Wäldern hinter den Wiesen, und wenn der Bach überschwemmt war, dann hat sie sich in einen Waschtrog gesetzt und sich die Wiesen hinunter fast bis nach Hause schwemmen lassen. Und als der Krieg zu Ende war, stand bald der erste ›Russ‹ in der Tür, kein Monster, sondern ein ›Kel‹, das hat Grete oft erzählt, ›a afocha Kel‹, ein einfacher Kerl, der niemanden an die Wäsch oder den Kragen, sondern nur was zum Essen wollt.

Zu acht haben sie damals im Haus gelebt, die Kinder, die Eltern, die Großeltern, die Urgroßmutter, auf Zimmer-Küche-Dachboden-Kabinett. Im Garten eine Kuh, Hendln, ein paar Schafe und Teddy, der Hund, den irgendwann irgendwer zusammengeführt hat. Von den acht ist Grete als einzige noch da. Der Johann, der große Bruder, fünf Jahre älter, hat Schlosser gelernt im Steinkohlebergwerk und ist bald weggegangen, nach Vorarlberg, in die Schweiz, nach Dänemark, und dort ein Fabriksdirektor geworden. Ein gemachter Mann mit geschneiderten Anzügen, der sich neben dem Elternhaus ein eigenes gebaut hat, in das er dann nicht gezogen ist. Drei Jahre lang ist der Hans jetzt tot. Und der Walter, der kleine Bruder, fünf Jahre jünger, Busfahrer, ein Raufer und Wirtshausgeher, ist mit 52 gegen einen Baum gefahren. Er war betrunken und gleich tot, 1992 war das.

Acht Jahre ist Grete in die Volksschule gegangen. Unter der Küchenbank liegt noch ein Diktat: ›Der Erlkönig, 10.1.1948‹, steht darauf, ›5 Fehler. Befriedigend‹. Grete hat ihr Lebtag nicht Hochdeutsch gesprochen, sondern die alte Sprache aus dem Tal: Marandanna. Gspoaßiga Kel. Mi fruist. Valuist des ned. Beri aufi. Hidau, hibei. Wenn sich die, die sich noch erinnern, zurückerinnern, dann sind es vor allem Kraftausdrücke aus dem Mund der Grete, an die sie sich gern erinnern: Hundsbua. Gromruss. Dass da Sau graust. Headreck. Sumpanölla. Pücha. Nie hat sie es ganz ernst gemeint, wenn sie so etwas gesagt hat, und nie nur lustig.

Nach der Schule ist Grete zu einer Schneiderin nach Neunkirchen gefahren. Früh morgens ist der Bus gefahren, jeden Tag, drei Jahre lang. Die Schneiderin hat die Grete angelernt – Abstecken, Rollen, Schneiden, Nähen – die Nähmaschine hat sie mit dem Fuß betrieben. Wie die Schneiderin geheißen, wie viel Grete damals verdient hat, wann der Bus genau gefahren ist – solche Details sind längst verschüttet. So spät im Leben kennen sie nur mehr die Toten und die Schweigenden.

Eine Jugend lang ohne Urlaube, einmal im Jahr Themen-Maskenball und mit der Zahnradbahn auf den Berg fahren, ab und an ins Kino gehen. Damals kamen noch die Sommerfrischler aus der großen Stadt, und eines Tages kam der Schani aus dem übernächsten Tal, da war die Grete 18 Jahre, vielleicht 19.

Der Schani ist zum Arbeiten gekommen, zerstritten hatte er sich mit seiner ganzen Familie, vom großen Erbe hat er später nicht einen Groschen gesehen. Beim Sägewerk, direkt gegenüber von Gretes Elternhaus, ist er mit dem Lastwagen gefahren. Im Keller stehen zwei Wäschekörbe voll mit Fotografien, Schwarz-Weiß und Sepia, verbogen von der Zeit: Pomade im Haar, gebügelte Hosen, 3er-Zigaretten im Mund, eine schmale Krawatte und einen Hut mit kurzer Krempe. Der Schani war ein gepflegter Mann, als Junger und sein Leben lang.

Morbus Parkinson, hat der Arzt damals gesagt, und die Grete hat zunächst geglaubt, so heißt jemand, der ihr nichts Gutes will.

Grete ist bald schwanger geworden. 1955 ist der Peter zur Welt gekommen, der erste Sohn, und drei Jahre später der Walter. Peter war der ruhige, der brave, Walter der „ohdrahte“, aufgeweckt und schlau. Als ihn das Auto beim Spielen zusammengeführt hat, war der Walter fünf Jahre alt. Auf der Eckbank in der Küche steht ein Foto vom toten Walter, dem Kind, und dem toten Walter, dem Bruder, beide Schwarz-Weiß. Und wenn Grete erzählt hat von denen, die zu früh gestorben sind und für deren Fotos auf dem kleinen Eck über der Eckbank kaum mehr Platz war, dann hat sie am Schluß ›Jo mei‹ gesagt.

Was vom Leben bleibt? Was gut war und was nicht? Was sie anders machen würde und was genau so? Solche großen Fragen, die die Jungen den Alten gerne stellen, die waren nichts für Grete. Selbst wenn sie heute noch reden würde, sie würde die Fragen wegwischen mit einem ›Marandanna‹ oder mit ›Jo mei‹.

Der Peter war eines der ersten Kinder aus dem Ort, das sie in die Stadt auf das Gymnasium geschickt haben. Der Sozialismus hat es versprochen und sein Großvater, der Sozialist und Lokführer, der hat darauf bestanden: Aus dem Peter soll einmal was werden. Die Lehrer haben ihn seine Herkunft spüren lassen. Heute ist der Peter ein Herr Doktor und im Leben der Grete für alles zuständig: Für die Konten und die Unterschriften, für das Einkaufen und die Entscheidungen, für das Rasenmähen und die Telefonate, die man führen muss, wenn ›die Mama‹ ins Spital kommt; für die Telefonate, wenn es zum Sich-Verabschieden ist; und für die Telefonate, wenn die Mama dann doch wieder heimkommt aus dem Spital, jedes Mal ein bisserl schlechter.

Der Peter nimmt jetzt neben Grete Platz. Das Radio spielt Radio Niederösterreich: ›Jambalaya, alles geht vorbei, sogar das Leben‹. Was Peter so erzählt von ihrem Leben, das ist eine Geschichte vom sozialen Aufstieg seiner Mama und ihrer ganzen Nation.

Die Grete und der Schani haben am gleichen Tag Geburtstag, am 17. März, also haben sie da auch gleich geheiratet. Auf dem Hang hinter ihrem Elternhaus haben sie ein Haus gebaut, Zimmer, Küche, Kabinett. Niemals hätten sie auf dem schiefen Gelände bauen dürfen, aber der Bürgermeister hat sie leiden können.

Der Schani ist dann bald ferngefahren, nach Tricesimo, Italien, von dort hat er das Rohöhl nach Kagran gebracht, und nach Hause die Gehpuppen und die Korbflaschen, die im Dorf sonst keiner hatte. ›Gsoffn wia die Kiah‹ haben die Männer damals, und die Frauen haben in den Wirtshäusern angerufen, ›schickts dei Mauna ham‹. Das hat die Grete oft erzählt.

Als der Schani eines Nachts im Juni 1976 vom Wirten heimgekommen ist – der Alkohol, die offene Tür –, ist er die Treppe in den Keller hinuntergefallen. Gehirnquetschung, Schädelbasisbruch, letzte Ölung, und dann ist der Schani doch noch aufgewacht. Er ist dann nicht mehr Lkw gefahren. Vom Bett in die Küche ist er gegangen, auf die Veranda zum Rauchen und zurück ins Bett, jahrzehntelang, stets einen Hut mit kurzer Krempe am Kopf. Und einmal, so erzählt es der Peter, wie er am Bettesrand neben seiner Mama sitzt, einmal ist der Schani so lange unbewegt am Küchenfenster gesessen, dass die Sonne seinen modischen Hut zum Brennen gebracht hat. Da lacht der Peter laut, wie er das erzählt, und, wirklich wahr, die Grete lacht ganz leise.

Der Schani hat nach dem Unfall nicht mehr geredet, nur mehr Geräusche gemacht, glückliche, wenn der Kaffee fertig war, weniger glückliche, wenn die Grete geschimpft hat mit ihm. Zwei Packerln Falk hat der Schani am Tag geraucht, sein letztes offenes hat die Grete aufgehoben, es liegt in der obersten Küchenschublade. Die Grete und der Schani, die haben sich geliebt.

Sie selbst hat in einer Kammgarnfabrik gearbeitet, an einer Maschine hat sie Garnspulen eingespannt, ausgespannt, eingespannt. Schichtarbeit, vier Wochen Urlaub im Jahr, bezahlter Krankenstand. Grete war eine stolze Arbeiterin, die jeden Tag in aller Herrgottsfrüh mit anderen stolzen Arbeiterinnen in den betriebseigenen Autobus gestiegen ist. Die Arbeiterinnen aus dem Dorf sind einmal im Jahr für eine Woche nach Caorle, Italien, gefahren. Auf den Kellerfotos sieht man Frauen, die Bikinis tragen, auf Strandliegen sitzen und kudern. Irgendwann kamen dann die ersten türkischen Arbeiter und irgendwann wurde die Kammgarnfabrik ins Ausland verlegt und irgendwann ist die Grete dann in eine andere Fabrik gefahren. Fließbandarbeit, Pickerl kleben auf Taschentücher, Klopapierrollen, Servietten. Aber irgendwann kamen die Maschinen und irgendwann ein anderer Autobus in aller Herrgottsfrüh und die Grete ist ins Semperitwerk gefahren, wo sie Reifen gemacht haben. Zusammenräumen, herrichten, ›zuarocha‹, Hilfsarbeit. Im Haus hängen heute noch Handtücher, auf denen Semperit steht. Das ist Lateinisch und heißt: Es ist für immer.

Es hat in den 1980er Jahren angefangen, mit einer Gangstörung. Den Fuß hat sie nachgezogen. Die Ärzte mutmaßen, dass es die Dämpfe in der Semperit waren, die Gretes Krankheit ausgelöst haben. Aber wissen wird das nie jemand. Es hat damals nur einen Experten gegeben in Wien, ein Neurologe und großer Nazi, zu dem ist sie einmal im Monat gefahren. Morbus Parkinson, hat der gesagt, und die Grete hat zunächst geglaubt, so heißt jemand, der ihr nichts Gutes will. Im Fernsehen war der erste Mensch mit Parkinson der Alois Mock, ein Außenminister und stolzer Mann, dem immer der Körper ausgekommen ist. Und im Dorf war Grete der erste Mensch. Wenn sie im Auto vorbeigefahren ist, ein roter 1er Golf, auf allen Seiten verbeult, dann haben sie gewunken und einen Schritt zur Seite gemacht.

Im Dorf war die Grete wohlgelitten, gesellig und lustig. Die Alten erinnern sich, dass man mit ihr ›immer ein Theater ghabt hat‹, dass sie ›a Goscherte‹ war und viele Witz erzählt, ganze Tische unterhalten hat. Heute bekommt die Grete kaum mehr Besuch. Der Manfred, der Nachbar, kommt ab und an herauf, eine Seele von einem Menschen. In der Küche hat sie Ansichtskarten gesammelt, dutzende aus aller Welt, vor allem aus Italien von den Freundinnen und aus Dänemark vom Hans. Auf die Postkarten war Grete stolz. Wenn sie früher alleine in der Küche gesessen ist oder gemeinsam mit dem Schani, dann hat sie sie auf den Tisch gelegt und gelesen. Ab und zu kommt noch eine Karte, wenn eines der Enkerln in Thailand ist oder in Amerika, aber irgendwann, sagt der Peter, hört sich dann alles auf.

Grete ist in Selbsthilfegruppen für Parkinsonpatienten gegangen und zwei Mal sogar nach Jordanien geflogen. Es gibt ein Video, auf dem ist Grete zu sehen, wie sie im Toten Meer schwebt. Sie hat es früher oft vorgespielt, ›Uh!‹ schreit sie auf dem Video und muss viel lachen, ›Uh! Uh!‹ Die Grete im Toten Meer, das hätte sich früher niemand gedacht.

Im Jahr 2000 ist sie operiert worden, tiefe Hirnstimulation hat das geheißen, acht Stunden ohne Vollnarkose hat das bedeutet. Als die Grete damals nach der Operation im AKH gelegen und das Zittern zum ersten Mal nach langer, langer Zeit einfach weg gewesen ist, da hat sie gemeint, dass es doch Wunder gibt. Seither hat sie einen Hirnschrittmacher im Kopf, man fühlt zwei Beulen, links und rechts des Scheitels. Grete war nicht geheilt, die Krankheit war nicht weg, nur die Symptome waren auf Null gesetzt. Mit den Jahren sind sie wieder stärker geworden und die Medikamente mehr, zwölf verschiedene waren es eine Zeitlang pro Tag.

Irgendwann hatte Grete eine Armbanduhr mit einer Notruftaste auf dem Handgelenk gehabt. Irgendwann ist die Volkshilfe zwei Mal am Tag gekommen. Und irgendwann hat das alles nicht mehr gereicht. Sie konnte noch gehen, sich noch bewegen, aber nicht mehr kontrolliert. Es war die Zeit der Stürze, der blauen Flecken im Gesicht, und im März 2009 hat der Peter „aus“ gesagt. So ist dann eben die Zuzana ins Haus gekommen.

Grete hat die Slowakinnen zuerst abgelehnt, sie war nicht mehr daran gewöhnt, dass da jemand ist im Haus, Ausländer noch dazu. Also hat die Grete die Starke gespielt, die Selbstständige, wollte alles kochen, alles alleine machen und hat das doch nicht mehr gekonnt. Und die Zuzana hatte Angst, Angst, dass Grete stürzt, Angst einkaufen zu gehen, Angst eine Pause, Angst etwas falsch zu machen. Sie konnte ein bisschen Deutsch und ein bisschen Kochen, für die Grete einerseits nicht genug und andererseits doch zu viel. Also haben sich die beiden zusammengestritten, tags in der Küche, wenn der Boden voller Scherben, und nachts am Klo, wenn alles naß gewesen ist.

›Wos wüst du do?‹
›Ich passen auf!‹
›Des brauch i ned!‹

›I wü di nimma!‹
›Ich kommen nicht mehr!‹

›I heng mi auf!‹
›Ich zuerst!‹
›Na i!‹
›Nein ich!‹

Grete hat den Kampf längst verloren, jenen gegen ihren Körper und jenen gegen ihren Stolz. Die Zuzana pflegt Grete so wie Grete ihre Mama gepflegt hat und Gretes Mama deren Mama: Sie hebt sie und sie bettet sie, füttert und tätschelt, streichelt und hätschelt, wischt und wechselt sie, sie mahnt und lobt sie, sie befragt sie und, seit Grete nichts mehr sagt, antwortet sie sich selber. Nach all den Jahren könne sie schon „Frau Gretes“ Gedanken lesen, sagt Zuzana.

Zunächst 45 Euro, seit zwei Jahren 55 Euro, jetzt 60 Euro bekommt die Zuzana pro Tag, 840 Euro sind das für 14 Tage. Das ist das Gehalt einer Krankenschwester in der Slowakei. Peter zahlt zusätzlich das Fahrtgeld und 210 Euro für die Sozialversicherung im Monat. Nicht wenig und doch nicht viel. Wenn von der Volkshilfe oder vom Hilfswerk jemand kommt, drei Mal am Tag für jeweils eine Stunde, dann ist das glimpflich teurer.

Die jeweils andere Pflegerin hat in den vergangenen acht Jahren oft gewechselt, Zuzana ist geblieben. Als sie 2009 angefangen hat, da ist es eine Fahrt von Plaskova Bistria ins südliche Niederösterreich alle zwei Wochen gewesen. Heute ist es eine Fahrt alle zwei Tage. 150 Kunden hat Zuzanas Agentur in Gretes Dorf und den drei angrenzenden. Und jünger werden die Menschen ja nicht. Für Peter geht sich das dank des Pflegegeldes vom Bund, dank des Pflegezuschusses vom Land und dank Gretes Pension alles ganz knapp aus – mit der Pflege, dem Öl, dem Strom, dem Essen und der Gemeindeabgabe. Und seine Mama muss so nicht ins Heim.

Grete ist jetzt im vorletzten Stadium. An schlechten Tagen ist sie unruhig, nervös, zittrig, sie hat dann Überbewegungen mit den Armen und den Beinen und den Augen. An guten Tagen ist sie schmerzfrei und entspannt. Grete hat mehr gute Tage. Im letzten Stadium wird sie nicht mehr schlucken können, nicht mehr essen. So, sagt Zuzana, so endet es dann.

Nachts hört es sich schon jetzt manchmal an, als würde sie ersticken. Ein Glucksen, ein Räuspern, ein Gurgeln, und schließlich ein Husten, kurz und kräftig. Dann ist Grete wieder ruhig. Es ist weit nach Mitternacht. Der Nachthimmel ist unbedeckt. Ich rauche eine Zigarette auf der Veranda, der Aschenbecher vom Schani steht noch da. Schneewehen umrahmen das allein stehende Haus. Die nahen Berge sind dunkelgrün, die fernen dunkelgrüner. Die Holztüre ist beim Schließen laut, der Boden knarrt. Die Tür zu Gretes Zimmer ist offen. Ihre Augen sind es auch, sie schauen nicht oder ins Nichts. Auf die kalte, rauchige Hand an der Wange reagiert sie doch. Ihr Blick wird fest. Sie spricht mit den Augen. Aber ich verstehe nicht, was sie sagen, also antworte ich nur: Oma, ich hab dich lieb.