Datum Talente

Das Geschenk

Dank eines Implantats können gehörlos geborene Kinder hören. Nicht alle Eltern wollen das.

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Illustration:
Markus Waltenberger
DATUM Ausgabe November 2019

Als Baby bekommt Tobias eine Rassel geschenkt. Oder ein Hörspiel. Sein Vater Frank weiß nicht mehr genau, was es war. Er weiß aber noch ganz genau, was er damals dachte : Der kann das nicht hören, der wird nie hören können, der wird nie was davon haben. Denn sein Sohn Tobias ist taub zur Welt gekommen. Seit seiner Geburt hört er : nichts. 

Seine Eltern, Frank und Simone, sind nicht überrascht, als sie das erfahren. Denn Tobias’ Großeltern, die Eltern von Simone, sind auch gehörlos, sie selbst hört aber. Meine Muttersprache, sagt Simone, ist die österreichische Ge­bär­densprache, die Sprache der Gehörlosen. Irgendwann als junge Frau fragt sie sich dann : Wie wahrscheinlich ist es eigentlich, dass auch ich einmal gehörlose Kinder kriege ? Sie geht zum Arzt und will es wissen. Fifty-fifty, sagt der Gentest. Ihrem Mann Frank erzählt sie es gleich zu Beginn ihrer Beziehung. Er geht in sich, denkt darüber nach und beschließt, dass man entweder Kinder will oder nicht und dass er sie auch dann wollen würde, wenn sie nichts hörten. 2013 kommt dann sein erster Sohn Tobias in Innsbruck auf die Welt. 

Am dritten Tag nach der Geburt wird ein Hörscreening bei Tobias durchgeführt – eine Routineuntersuchung, die dazu dient, angeborene Hörstörungen bei Babys zu erkennen. Die Geräte sind kaputt, Ihr Sohn wird wahrscheinlich nichts haben, wir probieren es morgen noch einmal, versuchen die Krankenschwestern die Eltern zu beruhigen. Die wissen aber : Die Geräte sind nicht kaputt. 

Frank und Simone gehen nach Hause, holen einen Topf aus der Küche, beginnen auf den Topf zu schlagen und beobachten, ob Tobias reagiert. Er reagiert nicht, er macht überhaupt nichts. Sie schnipsen und klatschen und bilden sich ein, dass er diesmal doch reagiert hat. Oder nicht ?, denkt Frank, Aber jetzt ! Da hat er doch reagiert ! Oder war das nur Zufall ? 

Einige Wochen später gehen sie mit Tobias in die HSS, die Klinik für Hör-, Stimm- und Sprachstörungen in Innsbruck, wo sie erfahren, dass ihr Sohn fast nichts hört. Er bekommt Hörgeräte, die nicht helfen. Erst im sechsten Monat erfahren Frank und Simone, warum das so ist: Tobias hat auf einem Ohr gar keine Hörschnecke, auf dem anderen nur ein sackartiges Gebilde. 

Sie verlassen die Klinik und schauen sich erst einmal an. Ich hätte dir gerne ein hörendes Kind geboren, sagt Simone zu Frank. Sie redet sich Schuldgefühle ein, und er redet sie ihr aus. Viel Zeit bleibt ihnen dafür aber nicht, denn ab sofort stehen sie vor einer Frage, die alle Eltern beantworten müssen, wenn sie ein gehörloses Kind zur Welt bringen : Wollen wir unserem Baby ein CI implan­tieren ? 

Die Geschichte von Simone und Frank und ihrem gehörlosen Sohn Tobias handelt von einer sehr kleinen Minderheit, der Gehörlosengemeinschaft, und ihrem Verhältnis zum sogenannten Cochlea Implantat, kurz : CI genannt. Das Cochlea Implantat ist eine medizinische Erfindung, die es – vor allem seit den 1990er-Jahren – tauben und schwerhörigen Menschen ermöglicht, zu hören. In ganz Österreich leben derzeit ungefähr 8.000 gehörlose Personen, genaue Zahlen gibt es nicht, weil Gehörlosigkeit in Österreich nicht meldepflichtig ist. Der Anteil an gehörlosen Menschen verhält sich auf der gesamten Welt sehr ähnlich wie hierzulande : Jeder Arzt, jeder Forscher würde sagen, dass er ungefähr ein Promill der Weltbevölkerung ausmacht. 

Seit Jahrzehnten, nein seit Jahrhunderten, kämpft diese verschwindend kleine Minderheit für Barrierefreiheit, Chancengleichheit und die Anerkennung ihrer Sprache, der Gebärdensprache. Denn : Für viele, wenn nicht sogar für die meisten taub geborenen Menschen ist Gehörlosigkeit keine Behinderung, sondern Teil ihrer Identität und Kultur, die von der hörenden Mehrheitsgesellschaft missachtet, diskriminiert und bedroht wird. In diesem Kampf um Anerkennung hat sich die Gehörlosencommunity wahrscheinlich selten so bedroht gefühlt wie Anfang der 1990er-Jahre, als das Cochlea Implantat in Österreich eingeführt wurde. 

Ein CI besteht im Grunde aus zwei Teilen : dem Implantat und dem Soundprozessor. Das Implantat wird bei einer Operation am Gehirn hinter dem Ohr eingesetzt und übernimmt teilweise die Funktion der beschädigten Hörschnecke. Der Soundprozessor hingegen wird hinter dem Ohr getragen und kann von den betroffenen Personen jederzeit wieder abgenommen werden : wie eine Brille, die vor dem Schlafengehen aufs Nachtkästchen gelegt wird. Nach der Implantation beginnt dann die eigentliche Arbeit : In jahrelangem Training mit Logopäden, Frühförderern und mit der Hilfe von Audiologen wird – Schritt für Schritt – das Hören und Sprechen erlernt. Wie erfolgreich dieser Lernprozess ist, hängt vor allem davon ab, wann die Implantation erfolgt. Je früher ein CI implantiert wird, desto besser ist die Hör- und Sprachentwicklung eines Kindes, sagen die Ärzte. Im Idealfall erfolgt die Operation noch im ersten Lebensjahr. Deswegen müssen Eltern sehr bald nach der Geburt entscheiden, ob sie ihrem Kind ein CI implantieren lassen wollen oder nicht. 

Die Frage  CI, ja oder nein ? haben Simone und Frank in stundenlangen Autobahnfahrten immer wieder und wieder diskutiert. Frank ist dafür, er denkt sich : Warum a net ? Ein zusätzlicher Sinn schadet nicht. Simone ist dagegen, sie ist mit gehörlosen Eltern aufgewachsen und denkt sich : Für was eigentlich ? Er ist ganz a normaler, gsunder Mensch und hat die Gebärdensprache ! Die Diskussion zwischen Frank, einem Mann, der hört und immer gehört hat, und Simone, einer Frau, die mit gehörlosen Eltern aufgewachsen ist, steht stellvertretend für den Konflikt zwischen einer hörenden Mehrheitsgesellschaft, die es gut meint, und einer gehörlosen Minderheit, die sich dadurch bevormundet fühlt. Er steht aber auch stellvertretend für den Konflikt zwischen Ärzten, die helfen wollen, und gehörlosen Menschen, die keine Hilfe wollen, weil sie sich nicht hilflos fühlen. In extremen Fällen kann dieser Konflikt sogar so weit gehen, dass er vor einem Gericht landet, wie es letztes Jahr, 2018, in Deutschland der Fall war. 

In der niedersächsischen Stadt Goslar verklagt das Klinikum Braunschweig die gehörlosen Eltern eines eben­falls gehörlosen Buben, weil diese eine CI-Implantation für ihren eineinhalbjährigen Sohn ablehnen. Die Klinik sieht in dieser Ablehnung eine Ge­fährdung des Kindeswohls des gehörlosen Buben, dem die Teilnahme an der hörenden Welt damit verwehrt werde. In der Gehörlosencommunity bricht eine große Empörungswelle aus, der deutsche Gehörlosenbund veröffentlicht eine Stellungnahme, in der von längst überwunden geglaubten behindertenfeindlichen Tendenzen die Rede ist. Erst über ein Jahr später fällt dann das Urteil : Das Familiengericht in Goslar entscheidet im Sinne der Eltern. In einem zehnseitigen Beschlussschreiben argumentiert das Gericht seine Entscheidung unter anderem damit, dass die Implantation eines CIs kein lebensnotwendiger medizinischer Heileingriff ist, der das Überleben des Kindes sichert, und : dass auch Gehörlose ein glückliches Leben von hoher Lebensqualität führen. 

Fälle wie jener aus Deutschland sind nicht die Regel. Die meisten Ärzte würden sagen, dass CI-Implantationen ohne Zustimmung der Eltern sinnlos sind – auch Wolf-­Dieter Baumgartner, HNO-Oberarzt und CI-Spezialist aus Wien, der in der Vergangenheit selbst immer wieder mit scharfen Vorwürfen aus der Gehörlosencommunity konfrontiert wurde. Wir sind Naziärzte und rotten die Gehörlosenkultur aus! Das ist zum Beispiel so ein Vorwurf, der fällt, als er in den 90er-Jahren als einer der ersten Ärzte weltweit beginnt, CI-Implantationen an tauben Babys durchzuführen. Der Name Dr. Baumgartner ist ein Name, den jeder lesen oder hören wird, wenn er sich mit Cochlea-Implantaten und Gehörlosigkeit in Österreich beschäftigt. 

Baumgartner ist der geschäftsführende Oberarzt an der HNO-Abteilung im AKH in Wien. Er gibt Interviews über das CI, schreibt medizinische Aufsätze über das CI und ist Präsident des Hearrings, eines internationalen HNO-Forschernetzwerks, das an der Weiterentwicklung von Behandlungsmethoden für gehörlose Menschen ar­­beitet. Es wird Wochen dauern, bis er Zeit für ein Interview im 15. Stockwerk des AKH findet. Dort sitzt er in einem weißen Arztmantel auf seinem Bürostuhl und sagt gleich zu Beginn des Gespräches, wie wichtig es ihm ist, dass Cochlea Implantate und die Menschen, die sie tragen, hier nicht verunglimpft werden. Ständig, gefühlte 30 Mal im Jahr, muss er Interviews geben, in welchen er das CI gegen Vorurteile verteidigt, sagt Baumgartner. Er ist es gewohnt, über das CI zu referieren und seine Effektivität zu betonen und tut das aus tiefer Überzeugung. Das merkt man daran, dass er ungeduldig und genervt reagiert, wenn man ihn unterbricht und mit den Kritikpunkten des österreichischen Gehörlosenbundes zum CI konfrontiert : Weil sie nicht richtig sind und ich diesen Nonsens schon gar nicht mehr hören kann, sagt er. 

Diese Vorwürfe, die Baumgartner als › Nonsens ‹ bezeichnet, hören sich ungefähr so an : Ärzte drängen Eltern dazu, ihren gehörlosen Babys Cochlea Implantate einsetzen zu lassen. Ärzte klären zu wenig über Alternativen zu einer solchen Maßnahme auf – wie zum Beispiel die sprachliche Förderung der Gebärdensprache. Ärzte versprechen zu viel : Nicht immer funktionieren CIs so, wie vor der Implantation angekündigt. Ärzte betrachten Gehörlosigkeit als Defekt, der um jeden Preis behoben werden muss und konzentrieren sich dabei zu sehr auf die Hörstörung und zu wenig auf den betroffenen Menschen. 

Baumgartner ärgert sich nicht nur über diese Vorwürfe, sondern kann sie auch nicht verstehen : Wir wollen aus unseren ursächlichsten beruflichen Motivationen den Menschen helfen, ihre Lebenssituation zu meistern. Für ihn geht es bei all den Behauptungen des Gehörlosenbundes auch nicht um die Sorge, ob ein CI funktioniert oder nicht, weil das tut es, sonst würden die Leute nicht Schlange stehen. Er sieht dahinter vielmehr die Angst der Gehörlosengemeinschaft vor dem Verschwinden ihrer Sprache und Kultur : Aber was soll ich denn machen ? Ich kann ja nicht aufhören, Mumps und Röteln zu impfen, nur damit ich mehr Gehörlose im Jahr produziere ! 

Was Baumgartner hier sagt, wurde natürlich nie vom österreichischen Gehörlosenbund gefordert. Dass er sich im Gespräch zu derartigen Aussagen hinreißen lässt, zeigt aber gut, wie oft sich Baumgartner in der Vergangenheit schon gegen die Vorwürfe der Gehörlosencommunity verteidigen musste. Und : dass er nach wie vor nicht verstehen kann, warum er das überhaupt muss.Trotzdem ist es Baumgartner wichtig zu betonen, dass er den Gehörlosenbund nicht als Gegner sieht: Der Gehörlosenbund hat einen ganz anderen Job als ich, und der ist nicht weniger wichtig als meiner. Er vertritt gehörlose Menschen, die über die Gebärdensprache kommunizieren, und das soll er ungestört machen können. Ich helfe Menschen, die hören wollen. 

Als Tobias’ Großeltern, Theresia und Gottfried, erfahren, dass ihr Enkelsohn – so wie sie selbst – gehörlos ist, sind sie traurig. Nicht, weil sie Gehörlosigkeit als Defizit betrachten, sondern weil sie aus eigener Erfahrung wissen, welche Hürden auf Tobias warten : in einer Gesellschaft, die nicht auf Gehörlose ausgerichtet ist. Vor diesen Hürden sind Theresia und Gottfried schon in ihrer Schulzeit gestanden.  

Damals gibt es das CI noch nicht, viele ihrer Mitschüler tragen stattdessen Hörgeräte, die nicht helfen und unangenehm sind. Einige von ihnen schmeißen die Hörgeräte absichtlich die Treppen hinunter, weil ihnen schwindelig ist und sie sie nicht mehr tragen wollen. Auch Tobias’ Großvater wirft sein Hörgerät eines Tages in den Teich und erzählt seinem Lehrer, dass die Fische es heute brauchen, um ihr Futter zu finden. Das Gesicht seines Lehrers damals bringt Tobias’ Großvater bis heute zum Lachen. Heimlich bringen sich die Schüler in den Pausen die Gebärdensprache bei, die an ihrer Schule offiziell verboten ist. 

Die Anforderungen der Schule lauten : Lippenlesen, Sprechen üben, fit sein für die hörende Mehrheitsgesellschaft. Die Pflicht der Lehrer ist es, diese Anforderungen mit allen Mitteln durchzusetzen. Im Unterricht werden die Kinder zum Sprechen gezwungen : Theresia, Tobias’ Großmutter, wird die Tage nie vergessen, als sie stundenlang vor dem Spiegel stand, Hals nach vor gestreckt, Handrücken unter dem Kinn, um die richtige Aussprache von Konsonanten zu üben – ein › m ‹ sieht aus wie ein › p ‹, aber ein › m ‹ vibriert, ein › p ‹ nicht, lernt sie damals. Sie lernt aber auch, was die Wissenschaft schon bewiesen hat : dass sich nur etwa 30 Prozent aller Wörter an den Lippen ablesen lassen. Die restlichen 70 wird Theresia ohnehin nie verstehen, egal wie sehr sie sich bemüht.

Die Erinnerungen an die Schulzeit sind schmerzhaft und legen den Grundstein dafür, wie Tobias’ Großeltern im Laufe ihres Lebens immer wieder von der hörenden Mehrheitsgesellschaft behandelt werden : Arbeitskollegen, die ihnen vorwerfen, unverantwortlich zu sein, weil sie als gehörlose Eltern Kinder kriegen, abfällige Blicke auf der Straße, wenn sie in der Gebärdensprache kommunizieren, rollende Augen am Amt, wenn sie wieder einmal etwas nicht verstanden haben – all das hat Gottfrieds und Theresias Misstrauen in die hörende Mehr­heits­­­gesellschaft verstärkt und dazu geführt, dass sie sich noch mehr in die Gehörlosenwelt zurückzogen. 

Der amerikanische Psychologe Harlan Lane, der ein Buch über die Geschichte der Gehörlosengemeinschaft geschrieben hat, fasst es in seinem Vorwort zu › When the Mind Hears ‹ so zusammen : Die Geschichte der Beziehungen zwischen der hörend-sprechenden Gesellschaft und den gehörlosen und per Gebärdensprache kommunizierenden Menschen ist eine ausgezeichnete Fallstudie darüber, welche Motive und Mittel am Werk sind, wenn die Angst vor Diversität zur Unterdrückung von Minderheiten durch die Mehrheit führt. 

Das Buch von Harlan Lane ist wie ein Manifest in der Gehörlosenwelt : Jeder, der sich mit der Gehörlosenkultur auseinandersetzt, wird früher oder später darauf stoßen. Es handelt von der Geschichte des taubstummen Laurent Clerc und dessen Kampf um die Anerkennung der Gebärdensprache. Dieser Kampf ist immer noch nicht zu Ende. Wahrscheinlich ist er noch intensiver geworden, seitdem Cochlea Implantate existieren. 

Und so wollen Tobias’ Großeltern – trotz oder gerade wegen all der Diskriminierung, die ihnen widerfahren ist – nicht, dass ihr gehörloser Enkelsohn ein Implantat bekommt : Er kann ja alles außer hören !, sagen sie zu Frank und Simone. Tobias ist gehörlos geboren, seine Muttersprache ist die Gebärdensprache, er muss nicht › repariert ‹ werden, denken sie. Wenn sie andere Kinder mit Implantaten sehen, haben sie Angst, dass die Gebärdensprache irgendwann ganz aussterben könnte und mit ihr : die Identität der Gehörlosen.

Helene Jarmer, die Präsidentin des Gehörlosenbundes und ehemalige Grüne Abgeordnete, ist das Gesicht der Gehörlosencommunity in Österreich. Seit Jahren setzt sie sich für Menschen wie Tobias’ Großeltern ein. Jarmer selbst hat im Alter von zwei Jahren bei einem Unfall ihr Gehör verloren und kann sich nur noch daran erinnern, dass die Kirchenorgel plötzlich zu spielen aufgehört hat. 

Heute ist Jarmer 48 Jahre alt und kämpft für die Rechte der Gehörlosen in Österreich. In ihrem Büro in der Waldgasse im zehnten Bezirk sitzen ihr ein Dolmetscher und eine Dolmetscherin gegenüber, die abwechselnd übersetzen, was Jarmer während des Interviews gebärdet. Sie ist eine Ausnahmeerscheinung in der Gehörlosencommunity, denn nicht viele schaffen es, den Bildungsweg zu gehen, den Jarmer im Laufe ihres Lebens zurückgelegt hat : Volksschule, Hauptschule, Pädagogik-Studium, Lehrerin, Politikerin. Viele gehörlose Menschen, sagt Jarmer, arbeiten als Gemeindebedienstete, machen Kopierdiens­te, erledigen Postwege. Einige wenige schaffen es, als pädagogische Assistenten, Lehrer oder Dolmetscher zu arbeiten, eine glänzende Karriere bleibt den meisten aber verwehrt: wegen des eingeschränkten Zugangs zu umfassender Bildung, so Jarmer. 

Nicht, weil gehörlose Menschen kein Interesse an Weiterbildung hätten, sondern, weil es meistens niemanden gibt, der ihnen das Wissen in ihrer Sprache, der Gebärdensprache, vermitteln kann. Denn, was viele nicht wissen : Die österreichische Gebärdensprache  (ÖGS) ist nicht einfach irgendeine Zeichensprache, die deutsche Wörter in Bilder übersetzt, sondern hat ihre eigene Grammatik, ein standardisiertes Vokabular und ist seit 2005 sogar als eigenständige Sprache in der österreichischen Bundesverfassung verankert. Gehörlose Menschen, die gebärden, können nicht automatisch deutsche Sätze schreiben, weil Deutsch für sie eine Fremdsprache ist, die sie erst erlernen müssen, so wie Österreicher Spanisch lernen. Dazu brauchen sie aber jemanden, der ihnen die deutsche Schriftsprache in ihrer Muttersprache erklärt. 

Bis heute aber müssen Lehrer, die in Österreich gehörlose Kinder unterrichten, keine Gebärdensprache an­wenden – das tun sie meist auch nicht, weil sie sie oft gar nicht wirklich beherrschen. Und so, meint Jarmer, ist der Grund für die mangelhafte Bildung von Gehörlosen nicht ihre Gehörlosigkeit, sondern die fehlende Barrierefreiheit an Schulen und Universitäten. Es wäre die Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft, der Politik, für diese Barrierefreiheit zu sorgen. Sie will das System ändern, nicht die Gehörlosigkeit abschaffen. Seit Jahren setzt sie sich deswegen für die Anerkennung der österreichischen Gebärdensprache als zweite Unterrichtssprache an Schulen und Universitäten ein. Das Cochlea Implantat, welches tauben Kindern ermöglicht zu hören, ist sicher keine große Hilfe in diesem unermüdlichen Kampf, den Jarmer führt. Denn : Es wird angenommen, dass Kinder mit Implantat die Gebärdensprache nicht brauchen, weil: sie können ja hören. Das sei zumindest oft das Argument der Medizin, was Jarmer ärgert: Tatsache ist: Ein CI garantiert nicht, dass die Träger des Implantats sich wie hörende Menschen ausdrücken können. Sie kennt Personen mit Implantat, die trotz CI nicht gut sprechen, die Gebärdensprache aber nie gelernt haben, weil Ärzte nach einer Implantation nur die Sprach- und Hörentwicklung des Kindes fördern : Diese Menschen sind heute erwachsen und haben keine Sprache, in der sie sich ausdrücken können, und so fühlen sie sich weder in der gehörlosen noch in der hörenden Welt zu Hause, sagt Jarmer, die Ärzte sehen oft nur : okay, defekt, Reparatur – fertig. Wie’s danach und davor ist, ist ihnen egal. Ihr ist wichtig, dass es nicht nur um die Frage geht, wie man die Hörstörung so schnell wie möglich beseitigen kann, sondern auch darum, wer dieser Mensch ist und was er braucht, um eine gesunde Identität zu entwickeln. 

Wolf-Dieter Baumgartner könnte sich stundenlang über diese Vorwürfe aufregen, weil sie schlicht und einfach falsch sind. Seit Jahren, ja seit Jahrzehnten, betont er, liegen die Informationsbroschüren und Folder des Ge­hör­losenbundes bei ihm in der Ambulanz auf. Bei jedem CI-Beratungsgespräch, das er mit Eltern führt, verweist er auch immer auf die Gebärdensprache, aber ich kann Ihnen garantieren, dass 99,9 von hundert Eltern sagen : nein, Implantat, morgen, sofort! 

Aber ist das, was Eltern sich wünschen, auch immer das Beste für ihr Kind ? 

Jennifer findet nicht. Vor 25 Jahren ist sie in Wien gehörlos zur Welt gekommen und bekam als Zweieinhalbjährige am linken Ohr, als Sechsjährige am rechten Ohr ein Implantat. Das ist, aus medizinischer Sicht, schon relativ spät. Trotzdem kann Jennifer heute problemlos hören und sprechen, auch wenn ihre Stimme anders klingt : etwas hell, ein bisschen piepsig. Ihre Kindheit fasst sie so zusammen : Sprechen üben. Ich musste immer nur Sprechen üben. Zeit für Freundschaften hatte sie fast nicht, außer an Geburtstagen, das bedauert sie bis heute. 

In der Volksschule besucht sie eine Integrationsklasse in Wien, wo sie nicht die einzige gehörlose Schülerin ist. Eines Tages zeigt ihr ein gehörloser Klassenkollege die Gebärde für das Wort › Auto ‹. Während Jennifer erzählt, hebt sie ihre beiden Hände als Fäuste in die Luft und schiebt sie abwechselnd nach oben und unten – als würde sie gerade hinter dem Lenkrad sitzen. Es ist ihr erstes Wort in der Gebärdensprache und der Moment, in dem Jennifer bemerkt, dass ihr das irgendwie leichter fällt als sprechen. 

Sie geht nach Hause und äußert zum ersten Mal einen Wunsch, der sie seitdem nicht mehr loslassen wird : Du, Mama, ich will das auch lernen. Aber ihre Mutter lässt sie nicht. Sie ist immer noch von den Worten eines ehemaligen Schuldirektors verunsichert : Mit der Gebärdensprache kommt ihre Tochter sowieso nicht weiter. Sie bleibt deppert, so wie alle anderen Gehörlosen auch. In diesem Moment fasst Jennifers Mutter einen Entschluss : keine einzige Gebärde, nur sprechen, nur so kommt sie weiter. 

Jennifer hört aber nicht auf ihre Mutter und lässt sich von den anderen gehörlosen Kindern in ihrer Schule immer mehr Gebärden beibringen, bis sie sich irgendwann problemlos in der Gebärdensprache unterhalten kann. Und so gebärdet Jennifer in der Schule, was sich leicht anfühlt, und spricht zu Hause mit ihren Eltern, was sich schwer anfühlt. Doch auch im Umgang mit Gehörlosen hat es Jennifer nicht leicht. Als Teenager macht sie ihre ersten schlechten Erfahrungen mit der Community : Du bist CI-Trägerin, du bist nichts wert, du bist unnatürlich !, sagen sie zu ihr. Jennifer will unbedingt dazugehören, aber mit ihrem CI stößt sie bei ihren gehörlosen Klassenkollegen nie auf vollständige Akzeptanz. Für die ist Jennifer jemand, der ihre Identität und Kultur leugnet – eine › CI-Trägerin ‹ und somit keine von ihnen. Es ist ein Phänomen, das sich immer wieder in der Gehörlosengemeinschaft beobachten lässt : die misstrauische, manchmal fast ablehnende Haltung gegenüber Menschen, die hören. 

So beginnt für Jennifer ein Leben an zwei Fronten : An einer kämpft sie gegen die Vorurteile ihrer gehörlosen Klassenkollegen, an der anderen gegen die ihrer Mutter, die es nicht gerne sieht, wenn ihre Tochter gebärdet. Sie ist wahrscheinlich eines dieser Beispiele, die Jarmer, Präsidentin des Gehörlosenbundes, meint, wenn sie von Menschen mit Implantat und Identitätskrisen spricht. Bis heute, sagt Jennifer, fühlt sie sich weder in der gehörlosen noch in der hörenden Welt zu Hause. Für sie ist die Gebärdensprache ihre Muttersprache : die, die sich natürlich anfühlt. Die Lautsprache hingegen ist › Luxus ‹ und zugleich unverzichtbar, weil sie nur so mit ihrer Mutter kommunizieren kann. Ansonsten hätte Jennifer das CI wahrscheinlich schon abgelegt, glaubt sie, denn erst abends nach der Arbeit, wenn das CI ab ist, kann sie entspannen und wieder sie selbst sein : Es ist so, als würde es klick machen, und ich bin endlich wieder zu Hause und muss mich nicht mehr anstrengen. 

Wie die Präsidentin des Gehörlosenbundes, betont auch sie immer wieder, wie wichtig es ist, dass gehörlose Kinder, die ein Implantat erhalten, parallel dazu die Gebärdensprache lernen. Damit ihnen nicht dasselbe passiert wie ihr. Sie wünscht sich aber vor allem auch mehr Akzeptanz und Offenheit von der Gehörlosengemeinschaft, die selbst mehr für ihre Integration in der Gesellschaft tun sollte. Aber, und das darf man nicht vergessen : Jennifer ist nur eine von mehreren tausend CI-Trägern in Österreich, und ihre Erfahrung ist es auch.

Das Gegenteil zu Jennifer ist männlich, 18 Jahre alt, blond und heißt : Emil. Wenn Emil nicht erwähnen würde, dass er CI-Träger ist, würde sein Gegenüber es gar nicht bemerken. Seine blonden Locken sind genau so lang, dass sie das CI darunter verdecken. Er ist zwar stolzer CI-Träger, sagt er, will aber trotzdem nicht auf der Straße angestarrt werden. Seine Stimme könnte die Stimme jedes anderen 18-jährigen Maturanten aus Wien sein. In dem einstündigen Gespräch im Café Blaustern gibt es keine Frage, die Emil nicht hört oder falsch versteht. Wenn er das CI nicht jeden Tag vor dem Schlafengehen ablegen müsste, würde er manchmal selbst vergessen, dass er taub ist, sagt Emil scherzhaft. Und das glaubt man ihm, denn : Wenn man so vor ihm sitzt und mit ihm plaudert, kann man fast nur staunen, wozu die Medizin heute schon fähig ist. 

Das liegt wahrscheinlich daran, dass Emil schon im neunten Lebensmonat, also wesentlich früher als Jennifer, ein Im­plantat erhalten hat. Sein Alter ist laut Ärzten der perfekte Zeitpunkt für eine Implantation.

Emil sieht sich selbst wie alle anderen. Er ist ein Mensch, der hört, immer schon gehört hat und keine Identität als Gehörloser hat oder wünscht. In seiner Freizeit macht er dasselbe wie jeder andere Maturant in seinem Alter : Freunde treffen, Fortgehen, sich auf die Matu­ra­reise freuen. Nur schwimmen, das kann er mit CI nicht. 

Anders als Jennifer hat Emil keine integrative Klasse besucht, sondern war immer in einer Regelschule. Am wichtigsten ist es, das implantierte Kind ganz normal zu erziehen – wie jedes andere, ist er überzeugt, so wie mei­ne Mama das bei mir gemacht hat. Mit gehörlosen Menschen hat er genauso wenig zu tun wie die meisten anderen Teenager in seinem Alter. Er kann nicht verstehen, dass es Eltern gibt, die sich freiwillig gegen eine Implantation entscheiden : Wenn ich kein Bein habe und eine Prothese brauche, würde ich sie ja auch nicht ablehnen. Er weiß, dass die Gehörlosencommunity ihn wahrscheinlich nicht mit offenen Armen empfangen würde : Für die sind CI-Träger Menschen, die aus ihrer Familie – der Ge­hörlosencommunity – ausgetreten sind, sagt er und ver­dreht die Augen. Emil ist seinen Eltern dankbar, dass sie ihm mit der Implantation die Möglichkeit gegeben haben zu hören und an der hörenden Welt teilzunehmen, denn : Ich gehe auf Social Media, schau’ mich um und sehe überall nur hörende Menschen. Wo wäre ich jetzt ohne mein CI ?, fragt er sich manchmal. Seinem eigenen Kind die Möglichkeit auf ein normales Leben zu nehmen, findet er ziemlich gemein. 

Dass Tobias seinen Eltern später einmal vorwerfen könnte, ihm die Teilnahme an der hörenden Welt verwehrt zu haben, macht Frank Angst. Was, wenn er mich irgendwann fragt : Warum, Papa, hat jeder ein CI außer ich ?, sagt er und will, bevor die endgültige Entscheidung fällt, wissen, ob ein CI bei Tobias überhaupt in Frage kommen würde. 

Gemeinsam mit Tobias fahren sie zu Dr. Sprinzl, ein HNO-Arzt in Niederösterreich, der ihnen von Freunden als einer der zwölf besten CI-Chirurgen weltweit  vorgeschlagen wurde. Dort angekommen sitzen sie vor einem Mann, der, das hat man ihnen so gesagt, etwa 600 CI-Implantationen im Jahr durchführt. Sprinzl sieht die CT- und MRT-Bilder von Tobias, kratzt sich am Kinn und sagt, dass Tobias ein schwieriger Fall ist. Eine Implantation wäre möglich, ja, aber nur auf einem Ohr, und selbst da könnte es Probleme geben : Tobias’ Gleichgewichtsorgan könnte im Zuge einer OP beschädigt werden. Für Frank sind das zu viele › könnte ‹ und › würde ‹ in einem Satz. 

Der Besuch bei Dr. Sprinzl markiert ein Ende der Diskussionen – Frank und Simone entscheiden sich gegen die Implantation. Ihnen ist wichtiger, dass Tobias Ski fahren kann, als vielleicht irgendwann hören zu können. Im Gegensatz zu vielen anderen Eltern beherrschen sie die Gebärdensprache und haben viele gute Kontakte zu gehörlosen Personen, von denen die meisten ein glück­liches Leben führen. Er schafft das, denkt Frank, und wir schaffen das auch. 

Heute ist Tobias fünf Jahre alt, hat blonde Haare, braune Augen und einen zwei Jahre jüngeren Bruder, der hört. Noch nie hat einer der beiden gefragt, warum Tobias nichts hört. Für sie ist es normal, dass es auf dieser Welt Menschen gibt, die hören und solche, die nicht hören. Tobias gehört eben zur zweiten Sorte, so wie Opa und Oma. Das erste Mal gebärdet hat Tobias mit ungefähr elf Monaten – › Licht ‹ war seine erste Gebärde : Die Hand wird ungefähr auf Augenhöhe angehoben, die Fingerspitzen fallen leicht nach unten und werden abwechselnd auf und zu gemacht : Licht an. Licht aus. Das ist eine ganz typische erste Gebärde bei gehörlosen Babys und zeigt, sagt Frank, wie wichtig Licht für gehörlose Kinder ist. Mittlerweile kann Tobias so gebärden, wie ein Kind seines Alters sprechen kann. Er weiß, dass ihn nur ganz wenige Menschen auf dieser Welt verstehen : seine Eltern, sein Bruder, seine Großeltern, seine gehörlose Assistentin im Kindergarten.  

Wenn Tobias weint, hat er einen ganz speziellen Blick, das ist Frank aufgefallen. Er macht die Augen nicht zu, wie man das von weinenden Kindern gewohnt ist, sondern zieht die Augenbrauen hoch und hält seine Augen angestrengt offen. Das macht er, weil er sich in der Verzweiflung nach einer Person umsieht, die ihn tröstet. Kinder mit gesunden Ohren können im Gegensatz zu Tobias die vertrauten Stimmen ihrer Eltern hören. Sie können ihre Augen beruhigt schließen. Für Tobias existiert in so einem Moment nur, was er sieht. Schlösse er die Augen, wäre er ganz allein in seiner Verzweiflung. 

Bis vergangenen Sommer hat Tobias noch einen integrativen Privatkindergarten in Innsbruck besucht, wo seine gehörlose Assistentin Mariya vier Mal in der Woche alles für ihn übersetzt hat. Das ist nicht etwa der Politik, sondern einzig und allein dem Engagement seiner Eltern zu verdanken. In einem mühsamen Kampf gegen und mit den Behörden in Innsbruck haben sie es geschafft, das Land Tirol davon zu überzeugen, Mariya im Kindergarten anzustellen. Wie machen das Eltern, die weniger Geld und Zeit haben , fragt man sich, wenn  Simone und Frank von diesem Kampf erzählen. 

Seit diesem Herbst besucht Tobias eine Volksschule in Innsbruck, wo er in einer integrativen Mehrstufenklasse unterrichtet wird. Er ist dort der einzige Schüler, der nichts hört. Mariya ist mit ihm mitgekommen und hat ihre Stelle im Kindergarten dafür aufgegeben. Auch das wurde von Simone und Frank erkämpft. Wenn sie an die Zukunft ihres gehörlosen Sohnes denken, haben sie zwei Sorgen : Tobias’ Ausbildung und seine sozialen Kontakte. Tobias wird nie passiv Erfahrungen sammeln oder sich Wissen aneignen, sagt Frank. Wenn er im Bus sitzt, wird er nie nebenbei mithören, worüber die anderen Menschen gerade sprechen. Er wird auch nie – so wie sein jüngerer Bruder Lukas – nebenbei mitbekommen, was es heute zu essen gibt, wenn Frank und Simone in der Küche darüber sprechen. Wenn alle zur Tür laufen, weil sein Opa gerade angeläutet hat, weiß nur Tobias nicht Bescheid. Deswegen haben seine Eltern im Wohnzimmer vor kurzem Blinkanlagen installiert. Wenn es an der Tür läutet, leuchtet es jetzt auch, und Tobias weiß : Es kommt jemand. 

Für Tobias sind Treffen mit gleichaltrigen gehörlosen Kindern wichtig, weil sie ihn auf eine andere Ebene transportieren, sagt Frank. Er merkt, dass sein Sohn nach nur einer Woche auf einem Gehörlosencamp seinen Wortschatz erweitert, mehr erzählt, Witze macht, offener wird. Deswegen versuchen Frank und Simone so selten wie möglich Veranstaltungen wie Kindergeburtstage oder Skiausflüge mit gehörlosen Kindern zu verpassen und nehmen dafür weite Wege auf sich. Für Simone ist das ganz normal, sie kennt es schon von ihren Eltern, die auch immer bemüht darum waren, ihre Kontakte zur Gehörlosenwelt aufrechtzuerhalten. So ist das bei gehörlosen Menschen : Weil sie nicht viele sind, scheuen sie auch keine Mühen, Freundschaften über Landesgrenzen hinweg aufzubauen und zu pflegen. So wird es vermutlich auch für Tobias sein. 

Wenn er seinem Vater dann den Vorwurf machen sollte, dass er sich nicht für ein Implantat entschieden hat, kann Frank ihm sagen : Wir haben alles probiert, aber es wäre bei dir nicht sinnvoll gewesen. Und auch wenn er nicht glaubt, dass der Vorwurf wirklich kommt : Frank und Simone haben jetzt zumindest eine Antwort.