Flagge zeigen
Wie das Foto eines ›Stringers‹ zum Symbol der Proteste in Georgien wurde, dessen Bevölkerung sich als Teil Europas begreift.
Mit diesem Foto bebildern die New York Times, der Guardian und die Frankfurter Allgemeine Zeitung ihre Artikel, und plötzlich schaut die Welt wieder nach Georgien. Im Zentrum steht eine von Menschen umringte Frau, die selbst nicht so recht zu erkennen ist. Ihre Hand umklammert mit aller Kraft eine behelfsmäßig wirkende Fahnenstange. Über dem Geschehen thront, als einziges Element nicht vom Wasserwerfer in die linke, untere Bildecke verdrängt, die EU-Flagge.
Am Abend des 7. März steht Nana Malashkhia vor hunderten Polizisten. Hinter ihr tausende Menschen, die gegen einen neuen Gesetzesentwurf demonstrieren, der nach russischem Vorbild die Pressefreiheit weiter einschränken soll. Die 47-jährige Beamtin ist direkt aus dem Wartezimmer ihres Arztes zu den Protesten gegangen, hat die letzte EU-Flagge gekauft und schwenkt sie nun unaufhörlich. Schnell hat sich um sie und ihre Fahne eine Menschentraube gebildet.
Zurab Tsertsvadzé will Malashkhia zuerst auch helfen, überlegt es sich aber anders und macht seinen Job. Er schießt ein Foto, das um die Welt geht. ›Die Szene war so überwältigend, dass ich mehrere Sekunden lang nicht in der Lage war zu fotografieren‹, sagt er. Als ›Stringer‹ fungiert Tsertsvadzé als Augen und Ohren internationaler Medien, die selbst wenig bis gar nicht in Georgien vertreten sind. Die Bildsprache seines Fotos erinnert ihn selbst an das berühmte französische Gemälde ›La Liberté guidant le peuple‹, die Freiheit führt das Volk, von Eugène Delacroix.
Bei genauerer Betrachtung überwiegen aber die Unterschiede: Delacroix’ Bild zeigt die barbusige Marianne mit ihrer Trikolore inmitten der Barrikadenkämpfe der Juli-Revolution von 1830, flankiert von bewaffneten Männern. Dennoch gibt es vergleichbare, symbolisch aufgeladene Kernelemente: Die starke Frau, die den Aufstand des Volkes anführt; und die ramponierte, aber tapfer weiterwehende Fahne, der Staatsgewalt einer Waffe gleich entgegengestreckt.
Fotograf Tsertsvadzé erkennt in seinem Bild vor allem den Kampfgeist der Georgier: ›Unsere Leute haben die EU-Fahne mit ihren Körpern beschützt – sag, Europa, wer hat je so für deine Flagge gekämpft?‹
Eine berechtigte Frage, die sich auch schon 2013 auf dem Kiewer Maidan stellte, als junge Ukrainer erstmals für das Symbol Europas ihr Leben riskierten. Zehn Jahre später hat die EU-Flagge außerhalb der Union noch immer nichts von ihrer demokratischen Strahlkraft eingebüßt.
Der Wasserwerfer hat die georgische Marianne, Nana Malashkhia, am Ende doch umgeworfen, die Flagge jedoch nicht. Wer sie heute hat, weiß niemand. ›Ich denke, dass die Fahne jetzt in den Händen des georgischen Volkes ist‹, sagte sie später in einem Interview. Die Demokratisierungsforscherin Katié Shoshiashvili warnt jedenfalls davor, die nun wieder ruhigere Lage misszuverstehen. ›Nur weil wir gerade nicht vor dem Parlament stehen, hat sich unsere Meinung nicht geändert‹, sagt sie. ›Das war ein kleiner Sieg, dieser Kampf geht weiter.‹ •
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