Ode an eine Unbekannte

Warum Ondřej, ich und 20 Millionen Japaner nicht irren können.

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Illustration:
Blagovesta Bakardjieva
DATUM Ausgabe April 2023

Meistens spielen wir es nachts. Wenn Ondřejs Kinder schlafen und in seinem Arbeitszimmer Rauchschwaden zwischen den Bücherregalen schweben, holt er das tschechische Bier aus dem Kühlschrank, während ich die Steine aufstelle. Manchmal schaltet er noch ein trauriges Lied seiner Lieblingssängerin Dōji Morita ein, bevor wir die Schachuhr starten. Wir knien beim Spielen nicht auf einer Matte, verneigen uns nicht rituell voreinander, und in Japan waren wir beide auch noch nie. Aber wir lieben Shōgi.

Damit sind wir in Europa Teil einer mikroskopisch kleinen Minderheit. Denn das dem Schachspiel verwandte Shōgi (vermuteter gemeinsamer Ursprung: das indische Tschaturanga) ist außerhalb Japans, wo es geschätzt 20 Millionen Menschen spielen, so gut wie unbekannt. Daher die Basics: Shōgi ist ein Spiel für zwei Personen auf einem 9 x 9 Felder großen Brett. Das Ziel lautet, den gegnerischen König mattzusetzen (no na), dafür stehen nebst einigen aus dem Schachspiel geläufigen Figuren auch sogenannte Gold- und Silbergeneräle sowie Lanzen zur Verfügung.

Die Möglichkeit, geschlagene gegnerische Steine für die eigene Streitmacht zu recyceln sowie die äußerst großzügigen Umwandlungsregeln (es verwandeln sich nicht nur Bauern, sondern alle Figuren außer Kaiser und Goldgeneral) machen Shōgi enorm dynamisch und komplex. Spätestens im Endspiel wird der Kampf darum, wer brutaler angreift und schneller mattsetzt, so richtig fetzig. 

Nicht-japanische Shōgi-Literatur ist ziemlich spärlich gesät. Ein paar englischsprachige Youtube-Videos von Exil-Japanern sind noch die beste Info-Quelle für den ehrgeizigen Adepten außerhalb Nippons. Das ist einerseits schade, weil Shōgi neben Schach so ziemlich das beste Strategiespiel sein dürfte, das der Menschheit in den letzten paar tausend Jahren eingefallen ist. Andererseits hat es auch etwas für sich, seinem König um drei Uhr Früh eine supersichere Anaguma-Burg zu bauen und dabei zu wissen, dass in dieser Stadt außerhalb von Ondřejs verqualmtem Arbeitszimmer kaum jemand verstünde, was das bedeutet. Es hört hier ja auch keiner Dōji Morita. • 

쉥펙 (Shōgi) · Autor: unbekannt · Verlag: rechtefrei

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