Gestatten, Maestra
Dirigenten sind weiß, männlich und Genies. Nazanin Aghakhani nimmt das nicht hin.
Wenn Nazanin Aghakhani das tut, was ihr das Liebste ist, dreht sie dem Publikum den Rücken zu. Man sieht nur ihre schwungvollen Bewegungen. Ihre linke Hand, die stumme Anweisungen gibt. Forte. Mezzoforte. Piano. Ihre Rechte, die den Taktstock führt. Auf. Ab. Zur Seite. Auf. Ab. Zur Seite. Nur das Orchester sieht den entsprechenden Gesichtsausdruck. Das stolze Grinsen, den konzentrierten Blick und, für einen flüchtigen Moment, eine Träne.
Es ist ein Herbstnachmittag, und im großen Saal der königlichen Musikhochschule in Stockholm steht die Luft. Der Raum ist auf der Bühne hell ausgeleuchtet und sonst in ein dunkles Schwarzrot gehüllt. Die Architektur ist modern und kantig, der Klang rund. Zum vierten Mal schon spielen die Streicher das Grundmotiv von Mahlers erster Symphonie an, zum vierten Mal bricht Aghakhani nach wenigen Takten ab. ›Ihr müsst euch mehr miteinander verbinden. Stellt euch vor, ihr seid Wölfe. Da ist jeder wichtig. Nicht nur der Alpha-Wolf.‹ Die Cellisten stützen frustriert ihre Ellbogen auf den Instrumenten ab, und zwischen Geigenbögen werden vielsagende Blicke gewechselt. Beim fünften Versuch verlässt sie abrupt die Konzertbühne und bedeutet dem Orchester, ohne sie weiterzumusizieren. Mit ungeahnter Intensität treiben die jungen Musiker das Motiv auf die Spitze. Aus der Distanz hört sie dabei gelassen zu, dann dreht sie sich mit einem Schulterzucken zum verwunderten Publikum, als wolle sie sagen: ›Na, geht doch.‹ Generalprobe geglückt.
Erst als Aghakhani in ihrer schlichten Künstlergarderobe sitzt und mit großen Schlucken Ramlösa Citrus, ein schwedisches Mineralwasser, trinkt, merkt man ihr die Anspannung der letzten Tage an. Sie ist eine zierliche Frau, mit langen, gewellten braunen Haaren, in schwarzer Hose und weißem Hemd, nur die petroleumfarbenen Netzstrümpfe stechen heraus. Wenn Aghakhani spricht, hört man im melodischen Singsang ihrer Stimme das Wienerische durch. Jene Stadt, in der sie aufgewachsen ist. Jene Stadt, die sie die Liebe zur Musik lehrte und ihr zugleich verwehrte, was sie immer werden wollte, seit ihrer Kindheit, immer schon. Nur das eine: Dirigentin. ›Ich war acht Jahre alt, als ich die große g-Moll von Mozart im Radio hörte. Das vergisst man nicht‹, sagt sie.
2018, in jenem Jahr, in dem Deutschland immer noch von einer Kanzlerin geführt wird, in dem den Briten ebenfalls eine Frau vorsteht, mehr als ein Jahr, nachdem #metoo einen gesellschaftlichen Diskurs über Frauenrollen angestoßen hat, ist Aghakhani mit ihrem Taktstock vor allem eines: eine Ausnahme. Wenn am 1. Jänner wieder 50 Millionen Menschen dem Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker lauschen, werden sie das traditionelle Programm in traditioneller Aufmachung präsentiert bekommen: mit einem Mann am Dirigierpult. Die Wiener Philharmoniker wurden in ihrer gesamten Geschichte erst drei Mal von einer Frau dirigiert. Bei den Wiener Symphonikern durften bisher zwölf Dirigentinnen am Pult stehen. Und bei den Berliner Philharmonikern sieht es mit 16 Dirigentinnen sehr ähnlich aus. Während sich die Reihen der Musiker langsam auch mit Frauen füllen, bleibt der Platz ganz vorne dem maskulinen Genius vorbehalten.
Man kann diese Geschichte als die persönliche Biographie von Nazanin Aghakhani erzählen, in der sich eine Frau allen Widerständen entgegensetzt. Man kann diese Geschichte aber auch als Zerrbild der Musikbranche erzählen, die sich schwertut, Althergebrachtes zu hinterfragen. In beiden Fällen beginnt die Geschichte bei den Salzburger Festspielen. Und sie beginnt mit einem Jubelschrei. ›Ich dachte, meine Gebete wurden erhört.‹ Sie ist 28 Jahre alt, frisch von der Universität, als sie erfährt, dass eine der größten Agenturen Mitteleuropas sie engagieren will. Ein Agent hat das Video von Aghakhanis Diplomkonzert – sie gab Igor Strawinskys Feuervogel – im Internet gesehen und will sie haben. Der erste Auftrag: Sie soll bei den Salzburger Festspielen assistieren. Auf dem Programm steht Mozarts Oper Don Giovanni mit den Wiener Philharmonikern. Aghakhani fühlt sich angekommen. Sie hat einen doppelten Master, einen im Orchesterdirigieren und einen im Dirigieren von Opern – erworben an der Sibelius Academy in Helsinki, der finnischen Dirigentenschmiede. In Schweden, an der königlichen Musikhochschule in Stockholm, studiert sie davor. An der mdw, der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien, bricht sie das Studium ab: Zu wenig fühlt sie sich hier als Frau ernstgenommen.
Aghakhani ist ein Mensch, der auf andere zugeht. Zu den Studenten, die sie in Stockholm auf das gemeinsame Konzert vorbereitet, findet sie sofort einen Draht, hat ein offenes Ohr für die Hornistin, die sich übergangen fühlt, und ein paar aufmunternde Worte für die nervöse Frau an der Harfe. Aghakhani ist aber auch eine vorsichtige Person. Sie gibt ihre Telefonnummer nicht heraus und trifft sich mit Leuten nur an öffentlichen Orten. Am liebsten an solchen, die sie kennt. Das Café Schwarzenberg in Wien etwa, an einem Herbstnachmittag: Sie grüßt den Kellner wie einen alten Freund, bestellt sich zum Soda Zitron einen Espresso dazu. Die Nacht ist zur zweiten Schicht geworden, wie so oft vor einer Konzertreise. Die Gesten des Dirigierens haben sich längst in ihren Alltag eingeschlichen. Wenn sie spricht, fahren ihre Finger, mal legato, mal fugato, in der Luft herum. Stillhalten tun sie nicht.
›Frau Aghakhani, worum geht es Ihnen?‹
›Es geht darum zu sagen: ›Leutln, schaut’s, wir Frauen sind schon lange weg vom Herd. Es gibt Tiefkühlpizza, und ihr könnt’s alle ein Schnitzel selber backen.‹
Aghakhani ist in Wien geboren. Die Eltern stammen aus dem Iran. Ihr Vater, der Ingenieur, wollte eigentlich Schauspieler werden, und ihre Mutter, die Englisch studiert hat, ist mehr die Naturwissenschaftlerin. Die Mozart-Symphonie, die Aghakhani als junges Mädchen zur Musik bringt, hört sie in ihrem einfachen Haus am Stadtrand, im zwölften Bezirk. Die Eltern, die über ihre Berufswahl nicht frei entscheiden konnten, geben ihrem Drängeln nach, fördern das musikalische Talent des Mädchens: Klavierunterricht mit sieben, Privatunterricht im Dirigieren mit zwölf. Eine Kindheit für die Musik. Wenn andere Kinder auf Schullandwoche fahren, sitzt Aghakhani um 6.30 Uhr vor einem Flügel am Wiener Konservatorium und übt Partiturspielen. Wenn andere lernen, wie man Ski fährt, macht sie ihre ersten Schritte im Komponieren. Mit 15 Jahren beginnt sie, Soloabende am Klavier zu spielen. Am Wiener Musikgymnasium hat sie eine besondere Vereinbarung mit dem Direktor. Sie kann so oft fehlen, wie sie möchte. Sie muss nur die Schularbeiten schreiben.
›Die Kunst ist das größte Geschenk Gottes‹, so hat es 2001 der österreichische Dirigent Nikolaus Harnoncourt beim Neujahrskonzert gesagt. Für sie als Frau ist ihre Kunst Knochenarbeit, sagt Aghakhani. Und Demütigung: Als ausgebildete Dirigentin muss sie bei den Salzburger Festspielen erst einmal Notenblätter kopieren. Der Chefdirigent geht mit ihr vor versammeltem Saal nicht zimperlich um, geht mit den Musikern nach den Proben aus, während er ihr Arbeit anschafft. Den Taktstock nimmt sie erst gar nicht in die Hand.
Mythos Maestro, so nennt die Musikwissenschaftlerin Anke Steinbeck das Konstrukt, das es Frauen so schwer macht, in den Beruf des Dirigenten einzusteigen. Es ist ein männlicher Geniekult, der sich in allen Sparten der Kunst wiederfindet, aber beim Dirigieren besonders ausgeprägt ist. Das Bild ist das eines betagten weißen Mannes, der mit seinem Taktstock gebieterisch über das Orchester herrscht. In seinem Werk ›Masse und Macht‹ schreibt der Schriftsteller Elias Canetti: ›Es gibt keinen anschaulicheren Ausdruck für Macht als die Tätigkeit des Dirigenten.‹ Der Dirigent ist der Gott im Frack. Und eine Aghakhani? ›Es geht nicht um Macht, sondern Verantwortung‹, meint Aghakhani, die findet, dass ihr Beruf oft missverstanden wird. ›Ich sehe mich als eine Art DJ. Wir haben jetzt bald einen coolen Gig, und ich muss nur schauen, ob in dem Saal mit der Lautstärke alles passt und wir die Beats gut hinkriegen. Es ist nichts anderes.‹ Aghakhani ist nicht die einzige, die so denkt. Sie gehört einer Generation junger Dirigentinnen und Dirigenten an, die sich vom Taktstock als Rohrstock verabschiedet. Doch hört sie jemand?
›Für bürgerliche Frauen war die Musik historisch betrachtet nur zur Zierde da. Allein der Mann durfte einen Broterwerb daraus machen‹, sagt Andrea Ellmeier von der Stabstelle für Gleichstellung, Gender Studies und Diversität an der mdw. Dennoch haben in der Geschichte immer wieder auch Frauen Orchester geführt: Nadia Boulanger, Antonia Brico, Ethel Leginska waren in ihrer Zeit durchaus berühmt, heute kennen ihre Namen selbst Berufsmusiker nicht mehr. Für viele ist der Beruf des Dirigenten bis heute so stark männlich besetzt, dass sie sich auch Dirigentinnen nur in einem Frack vorstellen können. Auch wenn an den Musikuniversitäten im Fach Orchesterdirigieren schon ein Drittel Frauen studieren.
In vielen anderen Berufen sind Frauen, die dort vor 50 Jahren noch als Ausnahme galten, schon zur Normalität geworden. Weshalb tut sich da gerade die Musikwelt so schwer? Vielleicht hat es mit dem Setting zu tun: Die klassische Musik ist eine Erfindung des Bürgertums. Bach, Mozart, Haydn sind in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Inbegriff einer Musikgattung geworden, die es zu ihrer Zeit noch nicht gab. Die Klassik, ein Kanon, mit dem sich das aufstrebende Bürgertum ein kulturelles Selbstverständnis schafft. Der Beruf des vorne am Pult stehenden Dirigenten entsteht erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Daher manifestieren sich die bürgerlichen Werte in der klassischen Musik, am Dirigentenpult, wohl besonders stark. ›Das bürgerliche Geschlechtermodell. Daran müssen wir uns heute noch abarbeiten‹, sagt Ellmeier. Man kann es auch so sagen: Das Musiktheater, die Oper, der Opernball, das sind die letzten Rückzugsorte des vom liberalen Mainstream geplagten Bürgersmenschen.
Musik ist unsichtbar, unantastbar, aber die Branche dahinter nicht. Dahinter gibt es Menschen, die bestimmen, was wir im Radio hören und welche Konzerte wir erleben. Dahinter gibt es Veranstalter, Intendanten, Konzerthäuser, Agenturen. Dahinter gibt es private Vereine und öffentliche Institutionen. Subventionen und Förderungen, aber auch Sparmaßnahmen und Kürzungen. Vor allem aber gibt es dahinter Netzwerke, die nicht allen zugänglich sind. Sabine Reiter ist Geschäftsführerin des österreichischen Musikinformationszentrums (mica). ›Nichts ist so stark wie bestehende Netzwerke‹, erklärt sie. Wenn man als Nachwuchskünstler nach oben möchte, führen nur ganz bestimmte Wege dorthin. Als Dirigent kommt man an den Agenturen nicht vorbei.
Je mehr man mit Musikschaffenden spricht, umso klarer wird das Bild: Wo es früher ältere weiße Männer mit Taktstock waren, sind es heute vor allem die Agenturen, die über die Klassikwelt herrschen. Der Frack ist dem Anzug gewichen. ›Die wollen immer Jüngere haben. Da geht es nicht um Kunst, sondern Marketing‹, sagt Mark Stringer, seit 2005 Professor für Orchesterdirigieren an der mdw. Mit überkreuzten Beinen sitzt er im Raum D0163 zwischen zwei Bösendorfer-Flügeln, schlägt sich mit den Fingern auf den Handrücken, während er aufzählt, bei welchen Agenturen er seine Studenten untergebracht hat. Es sind nur eine Handvoll. Worauf es dabei ankommt? ›Das ist ein Lottospiel. Die Agenturen kommen zu dir. Nicht umgekehrt‹, sagt er. Zu Aghakhani ist man gekommen. Und lässt sie dann fallen.
Nach dem vorzeitigen Ende bei den Salzburger Festspielen wirft Aghakhani sich in die Arbeit für ein neues Projekt, bei dem sie ein Orchester neu aufbauen soll. Ihre Agentur gibt sie dafür unter die Fittiche eines angesehenen Dirigenten. Er wird zu ihrem Mentor, einer Vaterfigur. Bis es zu dem Zwischenfall kommt. Ein Privatjet, eine Grenzüberschreitung, die von Seiten der Agentur unkommentiert bleibt. Mehr noch: Die Agentur stellt die Zusammenarbeit mit ihr ein, was einem Berufsverbot nahekommt. Acht Jahre lang hält sich Aghakhani ohne Agentur über Wasser. Um an Aufträge zu kommen, reist sie auf eigene Kosten zu den Konzerthäusern. Die Türen bleiben ihr verschlossen. ›Früher ging es vielleicht noch ohne Agentur. Heute nicht mehr, weil die Konzerthäuser nur mehr den Agenturen trauen‹, sagt sie. Ohne den Rückhalt ihrer Familie hätte sie es nur schwer durchgestanden. Erst als eine skandinavische Agentur sie vor zwei Jahren unter Vertrag nimmt, kann sie aufatmen, 20 Prozent ihrer Einkünfte muss sie abgeben, dafür übernimmt die Agentur Planung, Buchung, Abwicklung. ›Ich werde aber nach wie vor nicht gebucht in Wien‹, sagt sie. Und nicht nur ihr geht es so. Im Jahr 2017 haben im Wiener Musikverein acht Veranstaltungen Frauen und 393 Männer dirigiert. Im Wiener Konzerthaus war die Saison 2017/2018 mit 25 Dirigentinnen und 173 Dirigenten ein wenig ausgewogener. Dabei wird nicht zwischen Miet- und Eigenveranstaltungen unterschieden. Aghakhani ist für zwei Konzerte in der nächsten Saison dort eingemietet. Es sind Benefizveranstaltungen. Eingeladen wurde sie noch nie.
Wenn man sich in Klassikkreisen umhört, durch Konzertprogramme und Musikmagazine blättert, kann allerdings auch der gegenteilige Eindruck entstehen. 2018 haben es Frauen endlich geschafft, sich am Dirigentenpult zu behaupten. Schon ein Jahr lang ist die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv Chefin an der Grazer Oper. Susanna Mälkki, eine finnische Dirigentin, ist in der kommenden Spielsaison mehrmals ins Wiener Konzerthaus eingeladen. Und hat man nicht gerade mit Marin Alsop eine Frau zur Chefdirigentin des Radiosymphonieorchesters Wien (RSO) ernannt? Was hat es damit auf sich, dass man Musiker sogar schon sagen hört, derzeit ›helfe‹ es, eine Frau zu sein? Christoph Becher, Intendant des RSO, sitzt mit hinter dem Kopf verschränkten Armen im Untergeschoss des ORF-Funkhauses in der Argentinierstraße im vierten Wiener Gemeindebezirk. Das Engagement Alsops will er nicht mit zu viel Symbolik aufladen. Ihre Agentur hat ihn auf sie aufmerksam gemacht. Er hat einen Star, keine Frau nach Wien geholt. Zu dem Mangel an Dirigentinnen sagt er, was neben ihm auch andere sagen: ›Das Angebot stimmt da noch nicht. Es gibt nach wie vor viel mehr Dirigenten.‹ Zumindest letztere Aussage lässt sich mit Zahlen belegen: Laut der Musikdatenbank des österreichischen Musikinformationszentrums (mica) gibt es nach aktuellem Stand 36 Dirigentinnen und 224 Dirigenten in Österreich. Wer sich bei ausländischen Agenturen umhört, wird oft hören, dass das österreichische Musikpflaster besonders hart für Frauen sei. Und wer es nach oben schafft, muss tunlichst vermeiden, darauf aufmerksam zu machen. Auf der anderen Seite hat die Branche mit Simone Young, Speranza Scappucci, Julia Jones, Keri-Lynn Wilson, Susanna Mälkki und Marin Alsop einige wenige weibliche Stars kreiert, die in den großen Häusern dirigieren. Und mit denen man den Vorwurf der Diskriminierung gut an sich abperlen lassen kann.
Jenen, die noch in der zweiten Reihe stehen, hilft das nicht. ›Das Leben ist manchmal einfach ein Schlachtfeld‹, sagt Aghakhani. 38 Jahre ist sie jetzt alt, liest gerne über chinesische Kriegsstrategien. Nie hätte sie sich vorstellen können, dass es so schwer wird, mit Talent, Motivation und Durchhaltevermögen ausgestattet, ihrer Berufung zu folgen. ›Ich bin erst rückblickend draufgekommen, dass ich einen Vogel hab. Man muss wahnsinnig sein, als Frau Dirigentin zu werden‹, sagt sie. ›Ich bin alleinerziehend, alleinverdienend mit zwei Kindern.‹ Der Bub geht in die Volksschule, das Mädchen in den Kindergarten. Die Beziehungen haben ihrem Beruf nicht standgehalten. Die 2008 vom Kunstministerium veranlasste Studie zur sozialen Lage von Künstlerinnen und Künstlern in Österreich zeigt: Frauen in der Kunst sind öfter alleinstehend und haben weniger Kinder als Männer. Zudem schneiden Frauen mit einem geringeren Einkommen ab, und Betreuungspflichten stellen ein größeres Mobilitätshindernis dar. Eine Studie des Deutschen Kulturrates zu Frauen in Kultur und Medien aus den Jahren 2010 und 2014 kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: In beiden Jahren ist die Einkommensschere mit 44 Prozent zwischen Dirigenten und Dirigentinnen in der Berufsgruppe Musik am größten.
1997, in jenem Jahr, in dem die Wiener Philharmoniker erstmals einwilligten, Frauen aufzunehmen, veröffentlichte die Ökonomin und Harvard-Professorin Claudia Goldin eine Studie, in der sie zeigt, wie sich der Frauenanteil in amerikanischen Top-Orchestern durch die Einführung des Probespiels hinter dem Vorhang erhöht hatte. Bei den Wiener Philharmonikern spielen trotz Vorhangs erst 16 Frauen unter 143 Musikern, bei den Symphonikern sind es 25 Frauen. Für Aghakhani gibt es diesen Vorhang nicht. Nicht einmal ein Probespiel. Wo sich die Auswahlprozesse für Orchestermusiker mit der Zeit demokratisiert haben, werden Dirigenten immer noch handverlesen. Ob sie hierbleiben wird, weiß sie nicht. ›Meine Koffer sind immer in Abrufbereitschaft, bei den Schuhen am Ausgang‹.
Der große Saal der königlichen Musikhochschule in Stockholm ist gut gefüllt. Angespannt bringen die jungen Musiker ihre Instrumente in Einklang, richten sich mit schwitzenden Händen die Noten. Aghakhani lässt sich Zeit und atmet dreimal tief durch, bevor sie die Bühne betritt. Sie trägt ihre Haare offen, eine goldglänzende Stola und roten Lippenstift. ›Ich dirigiere nicht mit meinem Geschlecht‹, sagt sie: ›Aber mein Frausein verstecken will ich auch nicht‹. •