Das Essen der anderen

Neugröschl, Tscholent, Fressanimateur: Was von Wiens koscherer Wirtshauskultur überlebt hat.

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Fotografie:
Andreas Klambauer
DATUM Ausgabe Dezember 2018 / Jänner 2019

Im Schaufenster des Wirtshauses schwimmen im Bassin schweratmend die Karpfen, daneben sitzt schwerschluckend ein dicker Mann und schiebt Essen nach, schiebt die übervolle Gabel wieder in den Mund, und als der Teller leer ist, verlangt er nach mehr. Er bestellt die Karte einmal rauf und runter, bestellt Tafelspitz, lobpreist das Gulasch und will dann noch Krautfleckerln haben. Ohne Unterlass bringen die Kellner die geforderten Gerichte durch die milchfarbige Doppelflügeltür aus der Küche, der Dicke nimmt sie stoisch entgegen. Er ist nicht zum Spaß hier, er macht nur seinen Job.

›Auf die Idee, sich einen Fressanimateur ins Schaufenster zu stellen, musst du erst einmal kommen‹, sagt Eva Guirea. Die 84-Jährige sitzt im blumigen Kostüm mit farblich abgestimmter Tasche und knallrotem Hut beim Kaffeekränzchen der jüdischen Pensionisten im Restaurant Alef Alef neben dem jüdischen Gemeindezentrum in der Wiener Seitenstettengasse. Von unten wummern die ersten Beats aus den Bierflatrate-Lokalen des Bermuda­dreiecks herauf. Vor der Tür des Restaurants steht ein Polizeikastenwagen mit Polizisten drinnen. Der ›Blade‹ aus dem Schaufenster des stadtbekannten Wirten Neugröschl ist die liebste Kindheitserinnerung von Eva Guirea, das Bild des Mannes hat sie als kleines Mädchen begleitet. ›Zum Neugröschl ist mein Vater oft gegangen. Selbst die Nichtjuden waren dort‹, sagt sie. Der Vater ging hin, weil der Neugröschl koscher kochte, die anderen, weil es preiswert und gut gewesen sein soll, dort in der Lilienbrunngasse im zweiten Bezirk, nur ein paar Schritte vom Donaukanal entfernt. So bekannt war der jüdische Wirt Neugröschl, dass man von seinem Tafelspitz in Wien noch lange nach dem Krieg schwärmte, und so berühmt soll er gewesen sein, dass die Hautevolee aus Budapest sich in den 1930er-Jahren einfliegen ließ, um bei ihm die Fladentorte zu kosten, diese süße Darbietung aus Mohn und Obst, kunstvoll in Schichten angerichtet. Wo es Fladentorte gab, das habe man gewusst, wenn man wer war, so schreibt Friedrich Torberg in der ›Tante Jolesch‹: ›Und wer es nicht wusste, war eben nicht wer.‹ Guirea weiß es. Sie ist im Augartenviertel im 20. Bezirk aufgewachsen, nicht um die Ecke, aber doch fußläufig zum Neugröschl, und spricht noch so, wie sie es früher eben taten: sagt Gojim zu Nichtjuden und Mameloschn, wenn sie ihre Muttersprache meint. Mit dem Vater hat sie Jiddisch gesprochen, die ›Omama-Sally‹, ›eine ganz Orthodoxe‹, hat den Gefilte Fisch noch in die Haut zurückgesteckt, und Gott möge sie – Eva Guiera – davor behüten, das auch tun zu müssen. Der Gefilte Fisch, Fischlaibchen im eigenen Sud geliert, kommt heute aus der Dose. Und dort, wo Gustav Neugröschl, der vierschrötige und grobe Wirt, wie Torberg ihn beschrieb, einst regierte, spielen jetzt ein paar Halbwüchsige auf dem mit glitschigem Herbstlaub bedeckten Basketballplatz. Ein Ballkäfig hat den koscheren Wirtshauskönig abgelöst.

Nicht nur in der Lilienbrunngasse ist die Vergangenheit ausgelöscht. Das Gebäude, das das Restaurant Tonello beherbergte, das selbstbewusst die ganze Bel­etage ausfüllte, wo man den Tscholent-Eintopf so herzhaft kochte, dass Zeitgenossen ob des Geruchs um die Marienstatue auf der benachbarten Brücke bangten, ist einem Asphaltplatz gewichen. Und wo der Würstel-Biel hinter der Oper die Schickeria – egal, zu wem sie betete oder nicht – zu koscheren Würsten empfing, wirtschaftet heute eine Coffeehouse-Kette in der Führichgasse. ›To Biel, or not to Biel‹, wie es ein Burgschauspieler einmal ausdrückte, ist keine Frage mehr.

Die koschere Gasthauskultur in der Stadt war vor 1938 so selbstverständlich, wie man heute nichts mehr von ihr findet. Die großen koscheren Häuser, Neugröschl, Tonello, der Würstel-Biel, haben es noch in die Literatur geschafft. Die anderen verschwanden stumm. Der Wirt Kalman Bibrieg etwa, der mit der Malzgasse 7 und der Leopoldsgasse 15 gleich zwei Standorte betrieb und mit seiner ›streng rituellen Küche‹ warb. Ebenso die kleineren Würstelgaststätten, keine gehobenen Speiselokale, aber doch mehr als ein Würstelstand, der Piowaty, Löwy, Deutsch und Theumann. Und all die Lieferanten: Koschere Gänse gab es beim Risner, Selchwaren hatte Ehrlich, koscheren Wein Knöpper. ›Niemand weiß, was da eigentlich verlorengegangen ist‹, sagt die Historikerin Ingrid Haslinger, die sich seit Jahrzehnten dem Wiener Gasthaus widmet. Das Klientel in den Wirtsstuben damals sei durchaus gemischt gewesen. ›Die Atmosphäre war locker, der Wiener polyglott.‹ In diesen Wirtshäusern traf die Mehrheit auf die Minderheit, der Staatsoperndirektor auf den Beamten von nebenan. Es war der Ort, die Schnittstelle, auf die sich die meisten, die Juden, die Christen, die Assimilierten jenseits aller Friktionen bei einem großen Stück Rindfleisch einigen konnten. Ein Ort der Mitte sozusagen, der diese stärkte. Die Ränder kamen ohnehin nicht hierher.

Die Gasthäuser mögen aus der alltäglichen Erinnerung der Stadt verschwunden sein. Doch finden sich noch Spuren? Nach welchen Gesetzen funktionierten sie und was lehrt uns ihr Beispiel bis in die Gegenwart?

Die koschere Küche leitet sich von den jüdischen Speiseregeln, der Kaschruth, ab. Dreimal erwähnt die Tora, dass man ›das Zicklein nicht in der Milch der Mutter kochen‹ soll, daraus resultiert die strenge Separierung von Milch- und Fleischprodukten. Schweinefleisch ist ganz verboten, Meeresfrüchte ebenso. Die Kaschruth ist ein theologisches Standbein des Judentums – auf der einen Seite. In der weltlichen Praxis bedingt sie eine Art Qualitätsmanagement, schließlich steht der Rabbiner, der die Produkte mit dem Koscher-Zertifikat versieht, mit seinem Namen für diese, für eine gesicherte Wertschöpfungskette, kurz: für den bedenkenlosen Verzehr gerade.

Auch bei Shalom Bernholtz, der das Restaurant Alef Alef führt. Die jüdischen Pensionisten haben Kaffee und Tee ausgetrunken, jetzt sitzt der kleine Mann mit Kugelbauch auf einem Barhocker und trinkt Ingwertee. Auf dem Handy leuchten abwechselnd neue Nachrichten und Push-Mitteilungen aus Israel auf. Aus dem Bundeskanzleramt wünscht man sich Gefilte Fisch für ein Galadinner mit Holocaustüberlebenden und deren Nachkommen, damit diese die alte Heimat auch schmecken können. ›Ein Schtetlessen für den Festabend‹, Bernholtz lacht. Er wird dem Gefilte Fisch ein paar Portionen Lachs mit Teriyaki zur Seite stellen. Einen Schlüssel zu seiner Küche hat Bernholtz nicht, den hat nur der Rabbi, der den Hechscher – den koscheren Stempel – vergibt. Seit fast 20 Jahren geht das so, wird Bernholtz vom Rabbinat kontrolliert, kocht er für die jüdische Gemeinde nach dem Schabbat-Gottesdienst, catert bei allen anderen Anlässen, einer Bar Mitzwa beispielsweise, und organisiert koschere Menüs für die Austrian Airlines – rund 4.000 im Monat. Von den koscheren Wirtshäusern seien nur die Rezepte und die Erinnerung geblieben, sagt er.

Der erste in den Wiener Urkunden namentlich genannte Jude hieß Schlom, Münzmeister von 1194, der wenige Jahre später gemeinsam mit seiner Familie von Kreuzrittern ermordet wurde. Im 14. Jahrhundert entsteht rund um den Judenplatz eine Gemeindeinfrastruktur mit Spital, Ritualbädern und einer koscheren Fleischbank in der heutigen Färbergasse. Damals soll es bereits die erste koschere Weinschenke in der Stadt gegeben haben. Es folgen zwei Vertreibungen, 1420 und 1670, das Toleranzpatent Joseph II. verbessert die Lage ein wenig. 1784 wohnen rund 60 jüdische Familien in der Stadt, die in Wohnzimmern beten, da ihnen die Anstellung eines Rabbiners und erst recht der Bau einer Synagoge verboten bleibt. Koscher einkaufen und speisen können sie schon: Die Stadt zählt den Fleischhauer, den koscheren Branntweinbrenner, zwei Judentraiteurs, Spezereien mit ausländischen Spezialitäten, sieben koschere Weinschenken und einen Bäcker. Das heutige Gasthaus Ofenloch soll da schon seit Jahrzehnten heimlich eine jüdische Gaststätte gewesen sein. Als die Juden nach dem Ausgleich mit Ungarn 1867 alle staatsbürgerlichen Rechte erlangen, leben rund 40.000 von ihnen in Wien. Die meisten immer noch auf der jetzt so genannten Mazzes­insel im 2. Bezirk, dem Viertel zwischen Donaukanal und Augarten, jene Gegend, die man den Juden malariaverseucht im 17. Jahrhundert als neues Ghetto außerhalb der Stadtmauern zugewiesen hatte. Ihre Zahl wird durch den Zustrom aus dem Osten, wo die Menschen den Pogromen und dem wirtschaftlichen Darben zu entfliehen versuchen, bis nach dem Ersten Weltkrieg in ganz Österreich auf mehr als 200.000 anwachsen. Ein Drittel davon lebt auf der Mazzesinsel.

In diesem Grätzel jenseits des Donaukanals hat sich das jüdische Leben heute wieder in die Stadt eingewoben. Hier finden sich koschere Restaurants neben koscheren Fleischhauern ebenso wie jüdische Schulen und Kindergärten. Wer heute in der früheren Nachbarschaft vom Neugröschl am Freitag spazierengeht, wird in der Lilienbrunngasse Juden in Trauben auf dem Gehsteig begegnen, die vor der winzigen Bäckerei Ohel um den Tscholent anstehen, jenen Eintopf aus Bohnen und Gerste, den Juden traditionell am Schabbat essen und den man schon am Freitag auf den Herd stellt, weil am Schabbat das Kochen verboten ist. Und weil Tradition Religion ausstechen kann, essen selbst diejenigen, die das Judentum in ihrem restlichen Alltag eher nur als Identität verstehen, ihn am Samstag gerne und oft. So war es schon in Neugröschls Zeiten, und so ist es geblieben.

Von den Menschen aber, die hier vor dem Krieg gelebt haben, sind nur mehr indirekte Spuren da. Von Wien aus hat das jüdische Bürgertum um die Jahrhundertwende Impulse in die ganze Welt geschickt, in der Kunst, in der Medizin, und kamen die geistigen Großtaten nicht von ihnen, so standen vielfach jüdische Mäzene dahinter. In Wien hat Theodor Herzl den Zionismus erfunden und der Bürgermeister Karl Lueger den politischen Antisemitismus. Von Wien aus hat man die österreichischen Juden ins Gas verschickt. 65.000 wurden in der Schoah ermordet. Wer es rechtzeitig außer Landes geschafft hatte, blieb dort. Die orientalischen oder zentralasiatischen Restaurants rund um die Taborstraße kennt die Stadt erst seit wenigen Jahrzehnten. ›Wir haben wieder aufgeholt, aber so wie es war, wird es nicht mehr werden‹, seufzt der ehemalige Wiener Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg.

Derart eingebettet waren die koscheren Gasthäuser in den Alltag der Menschen, dass sie sogar mit ihren Stammgästen in die Sommerfrische wanderten. In Ischl kümmerte sich das ›Sonnenschein‹ koscher um das Wohl der Gäste, in Baden bei Wien eröffnete der Tonello-­Wirt in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts eine Filiale. Und weil das Eindringen in fremde Reviere fast immer zu Auseinandersetzungen führt, weil die koscheren Lokalmatadore Rausnitz und Schey sich die jüdischen Kurgäste von der Wiener Konkurrenz nicht nehmen lassen wollten, kam es in Baden zum Krieg, zum sogenannten Tscholent-Krieg unter den Restaurants. Der Krieg wurde sodann in Worten und bösen Witzen ausgetragen. Man versuchte, den anderen schlechtzumachen, und erst die Zionisten von Theodor Herzl konnten den Konflikt befrieden: Sie reisten so zahlreich zu einem Zionistenkongress in Baden an, dass genügend Gäste für alle da waren. Es gab ›Farferlsuppe und den Rindskamm mit Ritschert, delikat wie immer, der Pfefferkarpfen gustiös, die Kreplachs und Fächertorte herrlich und dickmachend, wie eh und je‹, schreibt die Neue Illustrierte Welt, die Theodor Herzl noch persönlich gegründet hatte. Die Farfeln, eine Art Eiernockerl, kommen aus der österreichischen Bauernküche, das Ritschert ist der Tscholent, der Karpfen stammt aus Böhmen, die Kreplachs, gefüllte Teigtaschen, hat das Schtetl gebracht, und die Fächertorte die österreichische Zuckerbäckerkunst. Koscher zu essen, das bedeutet vor allem: Adaption.

Dass die Wiener sich damals vorrangig von Rindfleisch ernährten, kam den Juden gelegen. Sie passten die Rezepte gemäß ihrer Speiseregeln an, nahmen Gänseschmalz, wo die anderen mit Schweinefett kochten, und Mehl, wo Schlagobers in den Fleischsaucen verwendet wurde. Den Tafelspitz koscher zu servieren war also kein Problem. So gern aß der Wiener, an welchen Gott auch immer er glaubte, sein Rindfleisch, dass er mit den Schlachtabfällen rund 100 Kilogramm davon im Jahr verbrauchte. Jeden Tag kam es gekocht auf den Tisch, am Sonntag noch mit einem zusätzlichen Braten versehen. So viel Fleisch aß die Stadt, dass das Hinterland die Nachfrage gar nicht befriedigen konnte. 1828 verspeisten die Wiener knapp 85.000 Ochsen und 132.000 Kälber. In ganzen Herden wurden die Rinder aus der Bukowina und aus Ungarn in den St. Marxer Schlachthof getrieben und dort vor Ort gemetzgert – fehlende Kühlketten machten diesen Lebendtransport notwendig. Das Vieh musste die hunderten Kilometer bis zu seinem Tod selber laufen. Schweine oder Lämmer hätten das gar nicht geschafft. Und also aß man sie kaum. Der Rabbiner kontrollierte die Tiere vor Ort in St. Marx, prüfte, ob ihre Lungen glatt und frei von Tuberkulose waren. Und vielleicht hinterließ man manch ein hinteres Stück, aus dem man den nichtkoscheren Ischiasnerv nicht herausgeschnitten hatte, den Nichtjuden, so wie viele jüdische Metzgereien es heute mit den Muslimen tun.

Gefilte Fisch, der Tscholent, die Teigtaschen Kreplach sind Kindheitserinnerungen geblieben, wenn überhaupt. Dass die jüdische Minderheit – zumal die nicht-assimilierte – die Mehrheitsgesellschaft in den Essgewohnheiten gar nicht geprägt hat, ist aber unwahrscheinlich. Minderheiten und Mehrheiten stehen immer in kulinarischer Wechselwirkung, auch wenn die politische Stimmung dagegen ist. Um Spaghetti und Döner zu essen, muss man mit den zugewanderten Italienern und Türken noch nicht einmal verkehren. Annäherung funktioniert oft in einem ersten Schritt über den Gaumen. Und auch die Juden – vor allem die ostjüdischen Einwanderer – haben ihre Küche mit nach Wien gebracht.  Die eingelegten Gurken etwa, sagt die Historikerin Haslinger, habe es in der Wiener Tradition davor nicht gegeben, überhaupt kein eingelegtes Gemüse, auch wenn man die Salzgurken jetzt so gern im Beisl zum Gulasch dazulegt. Dass man Karfiol mit buttrigen Semmelbröseln verfeinert, kommt ebenfalls aus dem Osten. Und die Fadennudeln, die in keinem ›Altwiener Suppentopf‹ fehlen dürfen, haben nicht die ehemals italienischen Reichsgebiete dem Kaiser gebracht, sondern die Juden aus dem galizischen Schtetl.

Mitten in der Nacht stehen heute noch Wiener Nachtschwärmer am Würstelstand und stärken sich für die Stunden bis zum Sonnenaufgang. Sie bestellen Krainer, Bier, stecken sich zur Überbrückung ein jeder ein ›Krokodil‹, also eine Salzgurke, in den Mund. Den Tafelspitz vom Neugröschl kann man nicht mehr kosten. Die Spuren der jüdischen Küche aber sind präsent, wenn man sie denn sehen will. Das kulinarische Erbe ist wie der unbekannte Verwandte, den man im Fotoalbum der Mutter entdeckt, ein Onkel aus der Ferne, ein fremdes und doch nicht ganz unbekanntes Gesicht. Und wenn man näher blickt und ihn sich genau anschaut, dann erkennt man: Das habe ich ja von ihm.          •