Im Keller
Christoph Strasser lebt für das härteste Radrennen der Welt. Dafür gibt es weder Ruhm noch Geld. Was treibt ihn an?
Es ist kurz vor Mitternacht, am 17. Juni 2013, auf einem Walmart-Parkplatz in Athens, Ohio, als Männer in Warnwesten und Sportkleidung einen schlafenden Mann aus einem Wohnwagen tragen. Sie stellen ihn auf den Asphalt. Jetzt steht er da, ahnungslos, auf seinen steifen Beinen, wie ein verwirrter Nussknacker.
Sie hatten eine Schlafpause eingelegt. Eine Stunde, bei Kilometer 3.950. Doch Christoph Strasser dürfte man danach gerade nicht fragen. Er hat den Verstand verloren.
Wieso riecht er nach Waschmittel? Die gelb-weiße Radkleidung an seinem Körper, sie ist frisch gewaschen. Wieso haben die Männer sie ihm angezogen? ›Du vertraust uns, oder?‹ fragt einer von ihnen. Ein anderer leuchtet Strasser mit einer Stirnlampe ins Gesicht. ›Alles klar?‹ Strasser schüttelt den Kopf. ›Wir führen bei einem Radrennen und sind auf Rekordkurs!‹
Ein Radrennen? ›Ich habe seit sechs Tagen keinen anderen Radfahrer mehr gesehen, was soll das für ein Scheiß-Rennen sein?‹ denkt Strasser. Der Parkplatz, die Männer, er hat keine Ahnung, wer sie sind, wo er ist und warum, verdammt noch einmal, er einen Helm, Radschuhe und frisch gewaschene Radkleidung trägt.
Er schmollt. ›Komm, gehen wir zum Rad, durch Bewegung wird’s gut‹, sagt der Mann mit der Stirnlampe. Was für ein dummer Gedanke. Aber irgendwie, der Nebel in seinem Kopf lichtet sich langsam, beginnt er dem Mann doch zu glauben. Er lässt sich aufs Rad heben.
Und dann fällt es Christoph Strasser wieder ein: Er ist Radrennfahrer. Es stimmt.
Die Männer, das sind seine Betreuer, sie fahren in einem Auto und einem Wohnwagen hinter ihm her. Sie nennen ihn ›Straps‹ und das Rennen ›RAAM‹. Rund 1.000 Kilometer sind es noch bis zum Ziel, und Strasser liegt in Führung, beim Race Across America, dem härtesten Radrennen der Welt. Er kann etwas schaffen, was noch keiner zuvor geschafft hat: in weniger als acht Tagen ins Ziel kommen, mit dem Fahrrad vom Pazifik zum Atlantik.
Strasser tritt langsam wieder los, zur nächsten Kontrollstation in Chillicothe, Ohio, auf seinem Weg aus dem Wahnsinn.
Fünfeinhalb Jahre später hat Christoph Strasser das Race Across America fünfmal gewonnen. Er sitzt auf einem Hometrainer im Keller seines Hauses und trainiert für den sechsten Sieg. Seine Haare sind kurz geschoren, für einen 36-Jährigen hat er tiefe Falten in der Stirn. Die Anstrengung der vergangenen Jahre hat sein Gesicht gezeichnet.
Eigentlich, ja doch, weiß er nicht so richtig, wieso er sich das antut. Er spricht in einem liebenswerten steirischen Dialekt, ähnlich dem Schauspieler Michael Ostrowski. ›Ich gebe auf die Frage nach dem »Warum« oft unterschiedliche Antworten‹, sagt er. Auch sich selbst. Seinen sportlichen Ehrgeiz kann er sich eigentlich nicht erklären, niemand in seiner Familie ist Profisportler.
Es ist ein Donnerstagvormittag im vergangenen Dezember in Graz, auf dem Trainingsplan von Strasser steht heute eine Regenerationseinheit. Er fährt eine Stunde auf 150 bis 200 Watt, das ist die kleinstmögliche Anstrengung, die der Trainingsplan vorsieht.
Meistens sind es vier Stunden oder mehr, und die geforderte Wattzahl ist deutlich höher. Nach manchen Einheiten schafft Strasser es kaum, die Stiegen zur Wohnung hinaufzugehen. Tage ohne Trainings gibt es nur zu besonderen Anlässen. Weihnachten zählt nicht dazu.
So viel steht fest: Christoph Strasser ist besessen – vom Langstreckenradfahren und besonders vom Race Across America, einem Rennen, für das er rund acht Monate im Jahr trainiert, 30 Stunden in der Woche. Alleine im Keller. Wo er seine Schmerztoleranz hochtrainiert.
Der Hometrainer ist ein Rennrad seines Sponsors, rechts davon steht ein Ventilator, an der Wand hängt ein Regal, vollgeräumt mit Trophäen, Proteinshakes, Sportlerbiografien, einer Colaflasche für Zuckerschübe im Notfall, einer Soundanlage und einer Tastatur. Auf die Leinwand gegenüber wirft ein Beamer die Benutzeroberfläche eines Computers. Nebenan liegen in einer Dusche riesige Ölkürbisse aus dem eigenen Garten. Strasser tritt gemütlich in die Pedale.
›Ich kann es keinem übel nehmen, der sagt, dass es wahnsinnig ist, was ich tue. Es ist ja wahnsinnig‹, sagt er. Aber wenn man es jahrelang tue, sei es irgendwann Alltag. So hat er dem Wahnsinn seine feindliche Macht genommen. Er hat ihn zu seinem Weggefährten gemacht.
Es ist nicht so, als würden Christoph Strasser keine Antworten einfallen, wenn er nach seiner Motivation gefragt wird. Im Gegenteil, er hält viele Vorträge vor Publikum, über sich und darüber, was ihn motiviert: Da ist sein Team, das er nicht enttäuschen will. Da ist die Konkurrenz, die er schlagen will. Da ist die Inspiration, die er für andere sein möchte.
Doch, so scheint es, schöpft sich sein Antrieb auch aus etwas, das nicht mit Worten erklärbar ist. Es ist eher ein Gefühl als ein Gedanke. ›Sobald ein Traum da ist, ist er da, um verwirklicht zu werden. Warum er da ist, ist dann nicht mehr wichtig. Er ist wie eine Luftblase, die aus dem Wasser auftaucht‹, sagte Strasser 2009 in einer Radiosendung auf Ö1, kurz vor seiner ersten Teilnahme beim Race Across America. Nicht zu viel nachdenken, lieber tun. Motivation durch Intuition. Christoph Strassers Trieb ist schon erstaunlich, immerhin setzte er damals sein Leben aufs Spiel.
Um zu verstehen, wieso das Race Across America den Ruf des härtesten Radrennens der Welt hat, reicht es, sich ein paar Zahlen dazu anzusehen. Zwischen dem Start in Oceanside in Kalifornien und dem Ziel in Annapolis in Maryland müssen die Teilnehmer 4.900 Kilometer über 52.000 Höhenmeter zurücklegen. Rund 50 Starter fahren durch 14 Bundesstaaten, vier Zeitzonen, über die frostigen Rocky Mountains und durch die Wüste bei 45 Grad. Wer länger als zwölf Tage braucht, wird disqualifiziert. Das Race Across America ist die härteste Prüfung im Radsport. Es ist, als würde man in der Hölle in die Sauna gehen und um einen Aufguss bitten.
Die große Gefahr des Rennens ist weniger der körperliche Kollaps als der unbarmherzige Straßenverkehr. In der 37-jährigen Geschichte des Race Across America kam es bisher zu drei Todesfällen und einem Schwerverletzten, alle hatten Unfälle mit LKW oder Autos.
Radfahrer sind nicht auf allen US-amerikanischen Straßen gerne gesehen. Erst recht nicht bei Truckfahrern. In Missouri wurde Christoph Strasser einmal von einem Lastwagen absichtlich knapp überholt, der Fahrer schrie aus dem Fenster, drehte dann um und kam ihm auf Strassers Spur mit Lichthupe entgegen. Erst wenige Meter vor dem Zusammenprall wich der Trucker aus.
Auch beim Training in Österreich geht das größte Risiko von Autos aus. Im September 2015 fuhr ein Autofahrer seitlich in Strasser hinein. Eine Kniescheibe war gebrochen, an der linken Schulter ein Band eingerissen, die rechte Schulter war ausgekugelt, eine Gelenklippe abgebrochen und ein Band gerissen. Deswegen trainiert er inzwischen fast nur mehr im Keller.
Doch die Intensität des Race Across America entsteht erst durch die hohen Ambitionen der Teilnehmer. Weil Christoph Strasser gewinnen möchte, muss er seine Stehzeiten so gering wie möglich halten. Er schläft im Schnitt eine Stunde täglich. Jeden Tag nimmt er 12.000 Kalorien Flüssignahrung zu sich, und einen halben oder einen Liter Wasser pro Stunde. Trotzdem verliert er im Laufe der Woche drei bis vier Kilo.
Früher trank Strasser mehr und ausschließlich Wasser, bis ihm 2017 ein neuer Arzt in seinem Team zu Elektrolytgetränken sowie dazu riet, sich zurückzuhalten, selbst bei starkem Durst in der Wüste. Er erkannte einige Parallelen zwischen Intensivpatienten und Teilnehmern des Race Across America. Das Wasser könne sich im Körper sammeln und dort zu einer Lungenentzündung führen – so wie bei Christoph Strasser 2009.
Eigentlich fängt es gut an. Am 17. Juni 2009 fährt Christoph Strasser zum ersten Mal in seinem Leben über den aufgerissenen Asphalt durch die Wüste an der Grenze von Kalifornien nach Arizona, hinter ihm ein kitschorangefarbener Sonnenuntergang. Insekten zirpen am Straßenrand, es riecht nach ausgedörrtem Gras. Sein Traum ist wahr geworden. Durch den dritten Platz beim Race Around Slovenia 2007 hat er sich für das Race Across America qualifiziert – und jetzt ist er wirklich gestartet. Am La Manga Pass, dem ersten von drei Pässen in den Rocky Mountains, weint er vor Freude.
Doch dann, in der dritten Nacht, am zweiten Pass, bleibt ihm irgendwann die Luft weg. Sein Gesicht ist inzwischen stark aufgeschwemmt, wie das Michelin-Männchen sähe er aus, sagt er im Spaß zu seinem Team. Eine Bronchitis, diagnostiziert der Teamarzt. Er verschreibt Antibiotika, Strasser fährt weiter, auch trotz seines eitrigen Hinterns. Langsam verliert er den Verstand, wieder einmal. Sind das am Straßenrand Bäume oder Menschen? Schafe oder Steine?
Um sich vom Schmerz und dem Schlafentzug abzulenken, singt er laut Lieder von Josef Hader, die er auswendig kennt. Strasser verehrt Josef Hader. ›Und die Irmgard, und die Irmgard, war heut da wann sie da Franz net würgen tat … Und der Werner, und der Werner …‹ Das Lied von den Leuten, die nicht ins Kabarett gehen. In der Abfahrt von den Rocky Mountains. Nach sechs Stunden Schlaf in den vergangenen 75 Stunden. Schau RAAM, der Straps ist da, und er hat seinen Freund, den Wahnsinn, mitgebracht.
In Kansas, am fünften Tag, bei 38 Grad Außentemperatur, bricht er dann zusammen. Nach 2.367 Kilometern endet Christoph Strassers erstes Race Across America im Pratt Regional Medical Centre in Kansas. Aus der Bronchitis waren eine schwere Lungenentzündung und ein Lungenödem geworden. Der Traum, der aus dem Unbewussten auftauchte wie eine Luftblase in Wasser, hatte Christoph Strasser fast das Leben gekostet.
Was ihn nicht hindert, sich zwei Jahre später wieder fürs Race Across America anzumelden. 2010 setzte er unfreiwillig aus. Er musste damals eine 10.000-Dollar-Rechnung für den Krankenhausaufenthalt in Kansas abbezahlen. Die 6.000 Dollar Startgebühr konnte er sich nicht leisten. Selbst wenn er gewonnen hätte, wäre er mit einem Minus ausgestiegen. Beim Race Across America gibt es kein Preisgeld.
Warum er es noch einmal versuchte? Einfach weil er wollte. Die Luftblase. Das Wasser. Der Traum. Und die Irmgard … Und der Werner.
Vielleicht ist es das Verborgene, das die Geschichte von Christoph Strasser und dem Race Across America interessant macht. In ihr stecken drei große Fragen, die Menschen schon lange beschäftigen: Wie viel hält der menschliche Körper aus? Ist es der Kopf oder der Bauch, der entscheidet? Bin ich verrückt oder sind es die anderen?
An einem Donnerstagabend Anfang Jänner dieses Jahres sitzt Strasser in weiter Jogginghose in seinem Wohnzimmer, er isst Nudeln mit Thunfisch und Pesto. Inzwischen ist er fünfmaliger Sieger des Race Across America – keiner hat das Rennen öfter gewonnen. ›Wenn ich mir die Strecke vom Rennen auf der Landkarte ansehe, denke ich mir: Ich verstehe selber nicht, wieso das geht. Eigentlich unpackbar‹, sagt er.
Erschöpft füllt Strasser seinen Teller zum dritten Mal auf. Heute ist er hundemüde. Seine Augen tragen kleine Tränensäcke. Die Nudeln sind eine Ausnahme, eigentlich isst er keinen Weizen, weil er sich am Paleo-Prinzip orientiert. Aber die Trainingseinheiten seien derzeit intensiv, da brauche er schnelle Kohlenhydrate.
380 Watt, das ist die Leistung, die Strasser zurzeit länger halten kann. Im vierstündigen Intervalltraining sollte er möglichst lange in diesem Level fahren. Morgen wird es noch härter. Intervalle über 400 Watt sollen die Leistungsgrenzen seines Körper verschieben. Davor fürchte er sich schon seit gestern, sagt Strasser. Er fühle sich ein wenig wie vor einem Rennen. Leichtes Nervenflattern.
Die Betreuer nehmen sich für das Rennen Urlaub, und Strasser will ihnen etwas bieten.
Während des Trainings heute musste Strasser seinen Trainer Markus Kinzlbauer in Salzburg anrufen. Er bat ihn, das Tagesprogramm zu reduzieren. Normalerweise kommunizieren die beiden über die Kommentarfunktion des Online-Trainingsplans, den Kinzlbauer ein paar Tage im Voraus zusammenstellt. Darin schreibt Strasser, wie es ihm beim Training und im Allgemeinen geht. Kinzlbauer reagiert darauf, wenn es wichtig oder lustig ist, und erklärt die kommenden Trainingseinheiten. Es ist ein interaktives Fitnesstagebuch.
An einem Tag Ende Dezember schreibt Strasser: ›Ich trau mich das gar nicht sagen: Ein klein wenig hab’ ich mich heute aufs Vollgas-Hinhalten gefreut. Weil’s hart ist, aber nicht überhart. Und wahrscheinlich hab’ ich mit diesem Satz mein schmerzhaftes Schicksal für die nächsten Wochen besiegelt …‹
Das Katz-und-Maus-Spiel mit dem Trainer treibe ihn besonders an, sagt Strasser. ›Ich will niemanden enttäuschen, das ist meine Stärke und Schwäche‹, sagt er. Seine elf Betreuer würden sich alle für das Race Across America zwei Wochen Urlaub nehmen, Strasser kann die meisten nicht bezahlen. Dafür wolle er ihnen etwas bieten. Er sei sehr harmoniebedürftig. Das sei er immer schon gewesen.
Strasser ist in Kraubath an der Mur aufgewachsen, einer kleinen Gemeinde in der Steiermark, die auf ihrer Webseite zuerst mit ihrer Nähe zum ›A1-Ring‹ in Spielberg wirbt. Seine Mutter ist gelernte Verkäuferin, sie arbeitete in einem Bauernladen in Leoben. Sein Vater war als Schlosser Vorarbeiter im Anlagenbau. Als Christoph auf die Welt kommt, leben sie noch am Bauernhof seiner Großeltern, bis zu seinem vierten Lebensjahr.
Seine Kindheit ist beschaulich, alles, was er davon in seiner Biografie erzählt, ist durch und durch gewöhnlich. Er spielt beim örtlichen Fußballverein, ohne große Ambitionen. Er bastelt gerne, hat viele Freunde und kämpft in Latein ums Durchkommen. Öfters wird er von zwei Freunden gleichzeitig am Nachmittag zum Spielen eingeladen, dann möchte er am liebsten beiden absagen, um nicht einen von beiden enttäuschen zu müssen. Er begeht keine Dummheiten, nur einmal, als er sich für Politik zu interessieren beginnt und Musik-CDs aus einem Elektronikmarkt stiehlt. Aus Protest gegen die Konsumgesellschaft.
Nach der Matura und dem Zivildienst beschließt er, Industrielle Umweltschutz- und Verfahrenstechnik an der Montanuniversität in Leoben zu studieren. Das Studium langweilt ihn schnell. Es ist ihm zu technisch, er hatte davon geträumt, die Umwelt zu retten. In dieser Zeit findet er Gefallen am Langstreckenradfahren. Durch Zufall.
Im benachbarten Fohnsdorf findet 2002 ein 24-Stunden-Rennen statt. Mit drei Freunden meldet er sich an, sie möchten als Quartett an den Start gehen. Als zwei von ihnen absagen, beschließt er, alleine anzutreten, um das Startgeld nicht umsonst bezahlt zu haben. In Laufschuhen, einem T-Shirt, einer Fußballhose, mit dem Mountainbike, das ihm sein Großvater zur Firmung geschenkt hatte, stellt er sich an den Start. Die anderen Fahrer belächeln ihn. Strasser wird Neunter von zwei Dutzend Teilnehmern. Zwei Jahre später steht er als Dritter am Stockerl.
Strasser beschließt, das Studium ruhen zu lassen und professioneller Langstreckenradfahrer zu werden. Oder es jedenfalls zu versuchen, ein paar Jahre lang. ›Ich hab’ gemerkt, der Welt ist nicht zu helfen, aber ich kann ein Leben leben, das außergewöhnlich ist‹, sagt Strasser heute. ›Ich wollte nicht in einem stupiden System leben, in dem man zwar einen Job hat, aber unglücklich ist.‹ Er nahm den Bauch statt den Kopf.
Ganz ähnlich hören sich die Geschichten der anderen Race-Across-America-Teilnehmer an. ›Wenn man sich auf das Rennen vorbereitet, fokussiert man auf seine Empfindungen, aufs Essen, Trinken, Schlafen. Man lebt das Leben in seiner reinen, kondensierten Form‹, sagt David Misch. Er ist ein Freund von Strasser, Forscher an der Montanuniversität Leoben, ehemaliger Race-Across-America-Teilnehmer und Autor eines Buches, in dem er Extremsportler verschiedener Disziplinen porträtiert. Das Buch heißt ›Intensität‹. Wahrscheinlich sitzen jetzt viele Amateursportler vor diesem Heft und nicken wissend. Weil sie nachfühlen können, was David Misch mit diesem Gedanken meint. Die Idee, sich auf die Körperlichkeit zu reduzieren, seine Grenzen weiter und weiter vor sich herzuschieben, ist heute nicht mehr der Spitze im Ultraausdauersport vorbehalten. Sie ist ein Bedürfnis des Breitensports geworden. Selbst im Hobbybereich werden die Bewerbe immer extremer.
Der Ironman-Triathlon in Hawaii galt in den 1980er-Jahren als das schwierigste Rennen im Ausdauersport. Heute gibt es den Ultraman, der mehr als doppelt so lang dauert. Dabei sind die Teilnehmer heute körperlich nicht stärker als damals, die Evolution hat keine wesentlichen Fortschritte mehr gemacht. Was sich verändert hat, ist die Auffassung davon, was alles möglich ist. Entschlossenheit kann den Körper zu unfassbaren Leistungen treiben. Ultra-Athleten wie Christoph Strasser sind Vorbilder von Menschen, die Grenzenlosigkeit erreichen wollen.
Der Hauptsponsor? Ein Wurstfabrikant. Red Bull hat bei Fahrradfahrern Bauchweh.
Dabei sieht Christoph Strasser das gesellschaftliche Streben nach mehr kritisch. Trostlos sei der Zustand der Welt, sagt er, vor allem aus ökologischer Sicht. Als Gegenstrategie widmet er sein Leben dem Sport. Und daraus folgt: Grenzenlosigkeit. Wahrscheinlich ist die Motivation des Spitzensportlers vor allem eines: gegensätzlich.
Race-Across-America 2013: Sieben Tage, 22 Stunden, elf Minuten. 2014: Sieben Tage, 15 Stunden, 56 Minuten. Weltrekord im 24-Stunden-Fahren auf der Straße mit 896 Kilometern. Weltrekord im 24-Stunden-Fahren auf der Bahn mit 941 Kilometern. Ist das gut? Vielleicht hängt es von der Motivation ab.
Strasser hält Vorträge vor Unternehmen. Sie sind seine Einkommensquelle, neben einem Webshop, den seine Freundin betreibt, und Sponsorengeldern. Inzwischen kommt er gut aus, aber reich ist er bei Weitem nicht. Sein Hauptsponsor ist Wiesbauer, der Wursthersteller. Lange musste er neben dem Training als Radkurier arbeiten. Er ist weltweit der Einzige, der von seiner Sportart leben kann.
Leichter wäre das finanzielle Auskommen mit Red Bull, einem Sponsor, der in Extremsportler grundsätzlich gerne und viel investiert. Doch Radrennfahrer haben einen zweifelhaften Ruf. Es gibt keinen Wettbewerb, in dem es so häufig zu aufsehenerregenden Dopingfällen kommt, wie die berühmte Tour de France. Er habe mehrfach bei Red Bull um Sponsorings gefragt, sagt Strasser, doch sie hätten ihm geantwortet, dass sie bei Fahrradfahrern Bauchweh hätten.
Im Ultraradsport sei Doping wenig zielführend, sagt Strasser. Bei seinem schnellsten Race Across America 2014 war er mit 163 Watt Durchschnittsleistung unterwegs. Um das zu schaffen, braucht man grundsätzlich keine Aufputschmittel. Es kam noch nie zu einer positiven Dopingkontrolle beim Race Across America. Der Sport sei sauber, glaubt Strasser, vor allem, weil kein Geld im Spiel sei. Deswegen findet er es gut, dass es beim RAAM kein Preisgeld gibt. Und von Red-Bull-Sportlern hat er nicht die höchste Meinung. Zu viel Marketing. Viele seiner Auftraggeber würden gerne einen Motivationsvortrag von ihm hören. Doch das versuche er zu vermeiden. ›Ich will nicht dazu beitragen, dass Chefs von ihren Mitarbeitern noch mehr herauskitzeln‹, sagt er. Seine Leistungen im Sport könne man nicht ins Berufsleben übertragen. Er habe eine andere Botschaft. ›Man wird nicht glücklich, weil man sich Ziele setzt und diese erreicht. Ich bin glücklich, weil ich tagtäglich das mache, was mich erfüllt.‹
In seinem Keller bekommt man Christoph Strassers Glück zu sehen. Er pinkelt nach dem Aufwärmen kurz in den Garten, und dann geht es los. Heute ist der Tag des harten Trainings mit Intervallen über 400 Watt und des Fotoshootings für diese Geschichte. Den ersten Termin musste Strasser verschieben, weil er sich bei einem Spaziergang auf den Grazer Schloßberg einen Muskelkater zuzog. Seine Muskeln sind ausschließlich fürs Radfahren trainiert. Andere Bewegungen vertragen sie schlecht.
Es ist ein Freitagvormittag Anfang Jänner. Zehn Minuten lang muss Strasser die Belastung von über 400 Watt halten. Sechsmal hintereinander. Er zieht die Stirn hoch. Er presst die Augen so fest zusammen, als wäre es hinter den Lidern weniger anstrengend. Sein Schmerzgesicht. Schweiß tropft auf den Fliesenboden. Und dann, nach dem ersten Set: ein dickes Grinsen. Eins von sechs.
Noch 158 Trainingstage muss Christoph Strasser hinter sich bringen. Für sein nächstes großes Ziel, den sechsten Sieg beim Race Across America. Damit hätte er das Rennen so oft gewonnen wie noch nie jemand zuvor. Fünf Siege hat auch der Slowene Jure Robič geschafft, sein großes Idol, das 2010 bei einem Trainingsunfall mit einem Auto verunglückte. Ob Sieg oder Niederlage, in den Tagen nach dem Rennen wird es Strasser gehen wie immer: Er wird in ein Loch fallen. ›Ich komme dann in einen Zustand von starkem Selbstmitleid. Sponsoren, Medien, alle wollen was von mir. Ich will als Belohnung für acht Monate Training und acht Tage Radfahren am Limit einfach nur meine Ruhe haben‹, sagt er. Überhaupt könne er nicht gut mit Ruhm umgehen. Wenn er auf der Straße erkannt werde, mache ihn das manchmal grantig.
Christoph Strasser hat sich einen Sport ausgesucht, in dem ihm nie viel Aufmerksamkeit zukommen wird. Mit einem sechsten Sieg wäre Strasser die unumstrittene Legende des Race Across America. Einem Rennen, das er selbst sich niemals ansehen würde. Und beinahe allen Menschen auf der Welt geht es gleich.
Wenn er in den Zielraum einfährt, sind dort seine Betreuer, das offizielle Medienteam und vereinzelt Zuseher, die Liebhaber des Dadaismus sein müssen. Sie bekommen zu sehen, wie alle paar Stunden ein Mann im Schritttempo über eine schmale Ziellinie fährt und auf der Stelle einschläft. Ein Rennen, das dem Leben nahe ist. •