Väterchen Karl

Karl Renner war der österreichischste aller Politiker. Das macht seine Beurteilung heute so schwierig.

DATUM Ausgabe Februar 2019

Als die Rote Armee am 29. März 1945 die großdeutsche Grenze im Burgenland überschreitet, beginnt ein gewaltiger Poker um Österreich. Ein Wettbewerb zwischen Ost und West, zwischen alten und neuen politischen Lagern um Macht, Einfluss und Führungsposten. Für den 74-jährigen Karl Renner war an diesem Spieltisch der Weltpolitik eigentlich kein Platz mehr vorgesehen. Und niemand, außer womöglich er selbst, hätte wohl auch nur eine Sekunde lang daran gedacht, dass Renner aus diesem Machtpoker nur wenige Wochen später als Sieger hervorgehen wird.

Von allen großen österreichischen Politikern im 20. Jahrhundert war Karl Renner wohl der österreichischste. Im Positiven wie im Negativen. Wer sich heute mit dem zweifachen Begründer der österreichischen Demokratie beschäftigt, hat es trotz seiner unleugbaren Leistungen mit einem umstrittenen Mann zu tun. Das wurde auch im vergangenen Gedenkjahr sichtbar. Die Biografie keines zweiten Politikers ist mit den großen aktuellen Jahrestagen so eng verwoben wie die von Karl Renner. Hundert Jahre Republik, hundert Jahre Wahl der ersten Nationalversammlung, hundert Jahre Unterzeichnung des Staatsvertrages von St. Germain. Aber auch 80 Jahre sogenannter ›Anschluss‹ an NS-Deutschland. Überall war Renner nicht nur dabei, sondern mittendrin.

›Renner dachte zweifellos stets in Mehrheiten‹, schreibt der Historiker Walter Rauscher: ›Gegen den politischen Strom zu schwimmen, fiel ihm sehr schwer, und so war er eben auch konsensbereit bis zur Selbstaufgabe seiner Ideale, wandlungsfähig und anpassungsfähig. Ich meine, gerade das ist es auch, was ihn so ganz typisch österreichisch macht.‹

›Ein Mann für alle Jahreszeiten‹ sei Renner gewesen, schreibt wiederum der Politologe Anton Pelinka, und er helfe dabei, Österreich zu verstehen: ›Renner war deutschnational und zugleich österreichisch-patriotisch. Er war gegen und für den Anschluss an Hitler-Deutschland. Er rühmte die Sowjetunion und den »werten Genossen Stalin« und beglückwünschte dennoch Adolf Schärf zum unbedingten Antikommunismus der SPÖ. Er war ein Revisionist, der sich auf Karl Marx berief, und er konnte offenkundig nicht verstehen, dass diese Haltung als unauflöslicher Widerspruch erscheinen musste.‹

Renner, als 17. oder 18. Kind armer Bauern geboren, war ein Mann der Monarchie.

Renners ideologische Wendigkeit erwies sich jedenfalls als hervorragende Fassade, um dahinter geschickt Realpolitik zu machen. Er gleiche dem ›Eingeweihten‹ bei Karl Kraus, schreibt Pelinka weiter über Renner: ›Er zeigt Österreich und den Österreichern die Hintertür, die es ermöglicht, den Nachteilen, den Härten der österreichischen Geschichte auszuweichen.‹ Den Nachteilen und Härten der Geschichte ausweichen. Besser könnte man Renners politisches Meisterstück am Ende des Zweiten Weltkriegs wahrscheinlich nicht beschreiben.

Dabei war Karl Renner 1945 eigentlich schon ein Mann der Vergangenheit. Geboren 1870 als 17. oder 18. Kind verarmter südmährischer Bauern (ob er oder sein Zwillingsbruder zuerst auf der Welt war, wusste bald niemand mehr genau), war Renner voll und ganz ein Mann der Monarchie. Nicht die Republik, sondern das Reich der Habsburger prägte sein Denken und den Großteil seines Lebens. Seine Autobiografie nannte er 1946 dann auch ›An der Wende zweier Zeiten.‹

Renner lernte als Kind schnell und gut, besuchte das Gymnasium, erhielt exzellente Beurteilungen und bekam über das Geben von privater Nachhilfe Appetit auf die bürgerliche Welt, die ihn in ihrer Ungerechtigkeit aber auch abschreckte. Fürs Jus-Studium zog er ohne Geld in der Tasche nach Wien, lernte seine spätere Frau Luise bei der Zimmersuche kennen, wurde mit 21 Vater einer Tochter und nahm einen Job in der Bibliothek des Parlaments an, weil er dort viel zum Lesen und Schreiben kam. Sein ganzes weiteres Leben lang veröffentlichte Renner eine fast unglaubliche Menge an Texten, natürlich über Politik, aber auch Lyrik oder Werke über Rechtstheorie und Soziologie, die auf ihrem Gebiet teilweise bis heute als bahnbrechend gelten.

Während des Studiums schloss sich Renner der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei an, wohl auch als Reaktion auf das Schicksal seiner Eltern, die ihren Bauernhof verloren hatten und im Armenhaus verstorben waren. Renner erwies sich schnell als leidenschaftlicher Politiker. Lehrend und vortragend war er an der Basis aktiv, zog 1907 in den Reichsrat ein, war Mitbegründer der Naturfreunde und gründete eine Bank, die die sozialdemokratischen Genossenschaften von den bürgerlichen Banken unabhängiger machte. Mit den Genossenschaftern baute er sich auch eine Machtbasis auf.

Bereits in den letzten Jahren des Kaiserreichs galt Renner als Kandidat für den Posten des Staatskanzlers. Seine Politik zielte bis zum Zerfall des k. u. k. Staates darauf ab, die Monarchie zu retten. Als diese dennoch zerfiel, legte er seine Pläne zur Rettung des Vielvölkerreiches beiseite, gründete als Staatskanzler die Erste Republik, verhandelte für Österreich in Saint-Germain und diente später als Parlamentspräsident. Meist um Ausgleich, Mäßigung und Dialog bemüht, war er ein klassischer Vertreter des rechten Flügels der Sozialdemokratie.

Dementsprechend schlecht war sein Ruf beim linken Flügel der Partei. Unter Leuten wie Renner sei die Sozialdemokratie immer mehr ›verchristlichsozialisiert, nationalisiert und verkleinbürgerlicht‹, wetterte Friedrich Adler, der Sohn des Parteigründers Viktor Adler. Renners wiederum recht eindeutige Sicht auf die linken Ideologen rund um Adler junior und Otto Bauer erfährt man in seinem Bericht von einem Treffen mit Ignaz Seipel, dem erzkonservativen Bundeskanzler der Christlich-Sozialen: Seipel fragte Renner, warum dieser glaube, dass er, Seipel, sich so gut mit dem linken Sozialdemokraten Otto Bauer verstehe, aber so schlecht mit Renner. Die Antwort Renners: Weil Sie wie er ein Dogmatiker sind. Sollte die Geschichte nicht wahr sein, wurde sie von Renner zumindest gut erfunden.

Als Engelbert Dollfuß und die Christlich-Sozialen 1933 Parlament und Demokratie ausschalteten, schien Renners politische Zeit vorbei. Er durfte sich glücklich schätzen, dass er die kommenden zwölf Jahre – anders als viele seiner Genossen – überhaupt überlebte.

Am 12. Februar 1934 brach der österreichische Bürgerkrieg aus; Polizei, Militär und Heimwehr machten mit dem sozialdemokratischen Schutzbund kurzen Prozess. Renner wurde zum Staatsfeind, verhaftet und für hundert Tage im Wiener Landesgericht eingesperrt. In der Folge entkam er einer Verurteilung wegen Hochverrats, musste sich aber in sein Haus in die niederösterreichische Provinz zurückziehen. Auch die NS-Zeit verbrachte er in Gloggnitz unter Hausarrest. Relativ unbeschwert; vermutlich, weil er sich in einem vom NS-Staat autorisierten Interview zwar von den Methoden der Nazis distanzierte, zugleich aber ankündigte, bei der Volksabstimmung über den ›Anschluss‹ mit Ja zu stimmen.

Für Stalins Kommunisten war Renner ein Fossil. Das war ein schwerer Fehler.

Als zu Kriegsende Sowjet-Truppen in seiner Heimatgemeinde standen, war Renner im Greisenalter, gesundheitlich angeschlagen, politisch isoliert und auch weitgehend vergessen. Und Stalin hatte zu diesem Zeitpunkt – ganz dem damaligen Sowjet-Muster folgend – bereits seine Nachrichtendienste beauftragt, geeignete Exil-Kommunisten auszuwählen und in Machtpositionen zu hieven, um möglichst noch vor dem Eintreffen der Westalliierten in Wien Fakten zu schaffen.

Für Stalins Kommunisten war Renner ein Fossil, ein verbürgerlichter Sozialdemokrat, den niemand auf der Rechnung haben musste. Ein Fehler, der sich als erster von vielen Fehlern der Kommunisten erweisen sollte. 

Nach elf Jahren im privaten Exil witterte der noch immer polithungrige Renner seine große Chance zur Rückkehr auf die politische Bühne. Am 3. April 1945 wandte er sich an die in Gloggnitz geschaffene sowjetische Ortskommandantur, stellte sich als ehemaliger Regierungschef von Österreich vor und bot seine Dienste bei der Wiederherstellung der Republik an. Zwischen Roter Armee und Wehrmacht tobte da noch die Schlacht um Wien.

Die sowjetischen Militärs waren sich erst nicht sicher, was sie mit dem alten Mann anfangen sollten (›ein stattlicher Greis in strengem schwarzem Anzug‹, so ihr erster Eindruck). Doch sie behandelten ihn freundlich, befragten ihn über die Stimmung in der Bevölkerung und luden ihn ein, im sowjetischen Quartier zu übernachten. Am nächsten Tag wurde er nach Hochwolkersdorf gebracht, wo ihn eine ›überraschende Anzahl hoher Offiziere‹, so Renners spätere Erinnerung, empfing.

Die Militärs telegrafierten an Stalin: ›Bis zu Ihren Anweisungen wird sich Doktor Renner in unserer Verfügungsgewalt befinden. Bitte um Ihre Weisungen.‹ Laut Berichten soll Stalin nach der Meldung aus Österreich erstaunt geäußert haben: ›Wie, der alte Verräter lebt noch immer? Er ist genau der Mann, den wir brauchen.‹

Was auch immer Stalin konkret gesagt und gedacht hat, am 4. April um 19:30 Uhr Moskauer Zeit traf Rückmeldung vom roten Zaren aus dem Kreml ein: Karl Renner sei ›Vertrauen zu erweisen‹ und zu erklären, dass ihn ›das Kom­mando der sowjetischen Truppen in der Sache der Wiederherstellung des demokratischen Regimes in Österreich unterstützen‹ werde.

Mit dem grünen Licht aus Moskau konnte Renner dreieinhalb Wochen später einen gewaltigen Etappensieg verbuchen: Am 27. April 1945 erkannten die Sowjets in ihrem Befehlsbereich die neu gebildete proviso­rische österreichische Regierung unter seiner Führung an. Unter strengster Geheimhaltung wurden in einer Villa in Hietzing Regierungsverhandlungen geführt. SPÖ, ÖVP und KPÖ erklärten Österreich für unabhängig, den ›Anschluss‹ an Deutschland für nichtig und verkündeten die Wiederherstellung der Republik im Geiste der Verfassung von 1920 (die seinerzeit vom Staatsrechtler Hans Kelsen just im persönlichen Auftrag von Renner ausgearbeitet worden war).

Der Journalist Hellmut Andics erinnerte an diese ersten Tage der Zweiten Republik so: ›Die schäbige Aktentasche, die Renner auch am 29. April 1945 vom Rathaus zum Parlament schleppte, war das Requisit seiner politischen Genialität: Wenn sich die anderen an den Beratungstisch setzten, konnte er aus dieser Aktentasche immer schon die fertigen Gesetzesentwürfe auf die Tischplatte legen.‹ Noch fehlte die Unterstützung der Westalliierten für Renners Regierung, aber er war endgültig an den Tisch der Macht zurückgekehrt. In diesen für Österreich so entscheidenden Tagen konnte Renner sein Blatt so instinktsicher ausspielen, weil er damals bereits von einer außerge­wöhnlichen Laufbahn als Spitzenpolitiker zehrte. So konnte er es selbst mit Stalin aufnehmen, weil er es schon Jahrzehnte zuvor mit Politikern wie Lenin zu tun gehabt hatte, der Renner immer wieder des ›Verrats‹ an der Arbeiterklasse bezichtigt hatte.

›Stalin hat gedacht, er kann Renner manipulieren. Und Renner hat gedacht, er kann Stalin manipulieren‹, sagt Anton Pelinka; und vom Ergebnis her habe eher Renner Stalin manipuliert als umgekehrt: ›Österreich ist sehr erfolgreich dem Sog der Sowjetunion entkommen. Und das war natürlich Renners Intention.‹

Die britische Zeitung Observer schrieb 1949, ein Jahr vor Renners Tod: ›Er schien gerade der Mann zu sein, den die Russen benötigten: alt, sehr alt, sehr beliebt, lange nicht mehr in Berührung mit der praktischen Politik, eine Verbindung mit der Vergangenheit, eine respektable Fassade für eine Volksfront-Regierung, die rasch von einigen jungen, energischen Kommunisten erobert werden würde. Aber diesmal hatten die Russen den falschen Mann ausgewählt. Renner war mild, freundlich und verbindlich, auch bereit, einige Ministerposten den Kommunisten zu überlassen, aber durchaus befähigt, die Zügel in den eigenen Händen zu behalten.‹

Renner hatte 1945 nichts mehr zu verlieren und warf sein ganzes Können in den Ring. Er vereinte in sich Wissen, Bildung und Intellekt; Mut, Leidenschaft und Tatkraft; Ehrgeiz, Erfahrung und Routine. Eigenschaften und Fähigkeiten, die ihn erneut zum Vater der Republik werden ließen. Aber diese Aufzählung seiner Stärken wäre unvollständig, würde man seine Schwächen und dunkleren Seiten ignorieren.

In Österreich stehen noch immer Denkmäler und Büsten für Renner; sind Wege, Straßen und Plätze nach ihm benannt; Brücken, Schulen, Publizistikpreise und das Bildungsinstitut der SPÖ tragen seinen Namen. Aber die Öffnung der Gesellschaft ab den 1970ern und vor allem die Abrechnung der 68er-Generation mit der NS- und Nachkriegsgeschichte führten dazu, dass Renner bei Antifaschisten, Linksliberalen und überhaupt der politischen Linken, bis weit in die Sozialdemokratie hinein, ein Stück ins Zwielicht geriet.

Die Aufzählung seiner Stärken bleibt ohne die Schwächen unvollständig.

Kritisiert wurde nun nicht nur sein Ja zum ›Anschluss‹ Österreichs an NS-Deutschland. 1977 veröffentlichte der Journalist Raimund Löw in der Zeitschrift FORVM den Text ›Wie Karl Renner Österreich verriet‹. Darin wurde enthüllt, dass der im heutigen Tschechien geborene Renner das Münchner Abkommen begrüßte, das die Annexion des Sudetenlandes durch das NS-Reich festlegte. Auch dass die SPÖ nach 1945 jüdische Heimkehrer und Holocaust-­Überlebende gezielt ausgrenzte und klein hielt, wurde zunehmend Gegenstand von Kritik an Renner, der diese Politik mittrug.

Vielen Konservativen und Rechten genügt heute für ihre Ablehnung Renners, dass er ein bedeutender Ahnherr der SPÖ ist. Besonderer Unmut gegenüber Renner wurde hier wiederentdeckt, als die Stadt Wien 2012 den Karl-Lueger-Ring in Universitätsring umbenannte (nicht zuletzt auf langes Bitten der Universitätsführung hin, die den Namen des notorischen Antisemiten Lueger nicht mehr in ihrer Postanschrift führen wollte). Dass Lueger verschwinden musste, Renners Name am Ring aber bleiben durfte, wurde von ÖVP und auch FPÖ als Foul empfunden.

Der ÖVP-Politiker und Historiker Franz Schausberger warf Renner 2013 die Verwendung antisemitischer Stereotype in Parlamentsreden vor und kritisierte, ›die österreichische Arbeiterbewegung der Ersten Republik war generell bemüht, sich dem Antisemitismus der Massen anzubiedern‹. Der damalige ÖVP-Klubobmann Karlheinz Kopf forderte denn auch die Umbenennung des Abschnitts am Ring zwischen Parlament und Volksgarten: von Karl-Renner-Ring auf Parlamentsring.

Mittlerweile haben Zeithistoriker mehrfach belegt, dass die von Schaus­berger zur Belastung Renners angeführten Zitate doch erheblich aus dem Zusammenhang gerissen sind. Auch das stets gute Verhältnis von Renner zu seinem jüdischen Schwiegersohn Hans Deutsch passt nicht ganz in Schausbergers Darstellung. Andreas Peham vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes stellt zu den Antisemitismus-Vorwürfen die Frage: ›Renner war ein Kind seiner Zeit – aber wenn er ein Antisemit im engsten Sinne des Wortes gewesen wäre, was waren dann die Politiker der Christlich-Sozialen Partei und vor allem jene der Nationalsozialisten?‹

Die Kontroverse um Renner zeigt aber, dass auch die Großen der Republikgeschichte oft nur schwer ins politische Raster der Gegenwart passen. Und wie mühsam es sein kann, ihre Leistungen und Fehler, Verdienste und Versäumnisse ins Heute zu holen und angemessen einzuordnen.

Die Demokratie in ihrer ganzen Pracht kann eine schmutzige Angelegenheit sein.

Die zwei Jahrestage hundert Jahre Republik und 80 Jahre ›Anschluss‹ belegten diese Schwierigkeit. Die so gegensätz­lichen Markierungspunkte unserer Geschichte stehen zueinander voller Spannung, die aber in der historischen Rück­schau auf Renner leider weitgehend fehlt. Die mediale Dar­stellung von Renner im Gedenkjahr war distanziert und vor­sichtig gehalten, er selbst erschien farblos, un­greif­bar und unpersönlich. Renner ist zu einer fast nicht mehr ein­zu­ord­nenden Figur geworden. Ein Urgroßvater aus einer längst verflossenen Zeit, der uns nichts mehr zu sagen hat. Das ist so nach­vollziehbar wie schade. Denn Karl Renner steht natür­lich sowohl mit seiner Größe wie mit seinen Fehlern für die erfolgreiche Geschichte der österreichischen Demokratie, die auch heute noch verteidigt werden muss. Und Renner erinnert uns daran, dass auch die Demokratie in ihrer ganzen Pracht mitunter eine schmutzige Angelegenheit sein kann. Dass aber ein Land und eine Gesellschaft selbst schuld sind, wenn sie sich deshalb davon abbringen lassen.

Politologe Anton Pelinka, der sich intensiv mit den Werken und dem Leben von Renner beschäftigt hat, sagt heute: ›Meine Renner-Kritik ist von vielen missverstanden worden. Mein Buch ist ja auch voll mit Komplimenten für Renner. Ein Politiker mit intellektueller Tiefe und opportunistischen Elementen ist in einer Demokratie immer brauchbar.‹ Totale Grundsatztreue könne man sich in einem totalitären System leisten. Wenn man in einer Demokratie etwas erreichen wolle, müsse man flexibel sein.

Flexibel war Renner ohne Zweifel bis ins höchste Alter. Als er 1946 bereits als Bundespräsident eine Festrede anlässlich ›950 Jahre Österreich‹ hielt, wühlte er sich durch die rot-weiß-­rote Geschichte, um Österreich möglichst scharf von Deutschland abzugrenzen. Die Österreicher seien nicht einer der deutschen Stämme, stellte er fest, ›sondern eine Mischung vieler Stämme‹. Und diese Mischung erkläre ›die Wendigkeit, Vielseitigkeit und Beweglichkeit des Volkscharakters, den schon das Altösterreich der Babenberger geprägt‹ habe.

Renners Leistung war, sagt Pelinka, ›dass er immer zur Stelle war. Und er hatte Glück, dass die dunklen Flecken, die man ihm 1945 vorhalten hätte können, politisch irrelevant waren, weil alle anderen froh waren, dass man nicht über ihre eigenen Flecken gesprochen hat‹. Wer so lang in der Politik gewesen sei wie Renner, mache sich natürlich auch angreifbar, sagt Pelinka: ›Aber so what? 1938 hätte niemand eine Wette abgeschlossen, dass die Republik mit der Verfassung von 1920 wiederauferstehen werde. Aber Renner war 1945 da und sagte, errichten wir diese Republik wieder. Er erkannte die Möglichkeit, diesen Moment zu nutzen.‹

Hugo Portisch, der Journalist und große Österreich-Erklärer der Zweiten Republik, formulierte es in einem Gespräch so: ›Renner war ein schlauer Politiker und ein bisschen ein Opportunist. Oder sogar ein ziemlich guter Opportunist, der ein gutes Gefühl dafür hatte, was zurzeit gesagt und getan werden muss.‹

Wie immer man Renners Leistung für Österreich letztlich beurteilen mag: Wer sich mit seinem Leben auseinandersetzt, wird festhalten müssen, dass die Geschichte unserer Republik ohne diesen alten Mann anders verlaufen wäre, aber vermutlich kaum besser. •