Kleine Lawinenkunde
Brüssel hat bereits Alarm geschlagen. Die Wahlen zum EU-Parlament im Juni würden von einer ›Lawine der Desinformation‹ erfasst werden, warnte die zuständige Kommissarin Věra Jourová Ende März. Es erfordere besondere Anstrengungen, um sie vor einem verstärkten Gebrauch neuer Technologien und ›ausländischer Einflussnahme, besonders seitens des Kremls‹ zu schützen. Der diplomatische Dienst der EU zählte vergangenes Jahr 750 Desinformations-Kampagnen, er wertet die Interventionsversuche als ›Sicherheitsbedrohung‹.
Die Franzosen sehen das ähnlich. Sie haben bereits 2021 eine inzwischen 50 Mann starke Behörde namens Viginum gegründet, die Desinformationsversuche beobachten und bloßstellen soll. Nach Darstellung des französischen Europaministers hat sie alle Hände voll zu tun. Frankreich stehe unter ›Dauerbeschuss russischer Desinformation‹, sagte Jean-Noël Barrot Ende April. Als Beispiel nannte er den Launch einer Website, die wie jene des Verteidigungsministeriums aussah – und die Falschinformation verbreitete, 200.000 Franzosen würden zum Kampf gegen die Ukraine eingezogen. Das Risiko für die EU-Wahl im Juni sei ›bewiesen‹, sagte Barrot.
In Österreich hält sich die Aufregung – wie so oft, wenn es ernst wird – in Grenzen. Das könnte damit zu tun haben, dass wir uns gerade mit einem doch recht umfassenden Fall von handfester Spionage für Russland herumschlagen, während ›bloße‹ Desinformation längst im politischen Alltag angekommen ist. Schließlich haben wir nicht nur eine ehemalige Außenministerin, die samt Ponys nach Russland ›geflüchtet‹ ist und von dort aus das Weltgeschehen kommentiert, sondern auch eine in Umfragen führende Partei, die mit jener Wladimir Putins einen Freundschaftsvertrag unterzeichnet hat – und mit einem antisemitischen Corona-Verharmloser in den Wahlkampf zieht.
Man könnte auch sagen: Wenn man schon in der Lawine steckt, hat man keinen Blick mehr für einzelne Schneekristalle. Dabei würde der sich durchaus lohnen, solange man das große Ganze nicht aus den Augen verliert. Das jedenfalls hoffen wir mit dem Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe von DATUM zu zeigen. Meine Kollegen Tobias Graf und Thomas Winkelmüller haben eine Plattform namens tkp.at unter die Lupe genommen, die mehr Leute erreicht als das FPÖ-nahe Propaganda-Organ unzensuriert.at – und das mit oft krasseren Inhalten. Sie zeigen, wie zuvor durchaus angesehene Persönlichkeiten in die Desinformation rutschen, wie sie miteinander kooperieren – und wie ihr Geschäftsmodell funktioniert.
Susi Mayer hat derweil recherchiert, wer in Österreich was gegen Desinformation unternimmt und welche Rolle Künstliche Intelligenz dabei spielt. Sebastian Loudon wiederum hat mit Peter Pomerantsev eine absolute Koryphäe der Propagandaforschung zu einem ausführlichen Gespräch gebeten.
Pomerantsev hat vor Kurzem ein neues Buch mit dem Titel ›How To Win an Information War‹ veröffentlicht. Er porträtiert darin den Propagandisten, ›der Hitler ausgetrickst hat‹, einen 1904 in Berlin geborenen britischen Boulevardjournalisten namens Sefton Delmer. Loudon hat er erzählt, was man von Delmer über die heutzutage notwendige politische Kriegsführung lernen kann.
Sollten Sie nach der Lektüre dieser Ausgabe von DATUM noch mehr darüber wissen wollen, wie Desinformation unsere demokratischen Prozesse beeinflusst und was wir dagegen tun können, darf ich Ihnen die Veranstaltungen von zwei Kooperationspartnern ans Herz legen. Zum einen das Ö1-Europagespräch, das Markus Müller-Schinwald am 6. Mai um 18 Uhr im Radio-Kulturhaus führt. Zum anderen das Europäische Forum Alpbach Ende August im gleichnamigen Tiroler Bergdorf. Letzteres steht dieses Jahr unter dem schönen Motto ›Moment of Truth‹. •
Ich hoffe, Sie erleben einen solchen auch mit den vielen anderen Geschichten von DATUM.
Ihre Elisalex Henckel
elisalex.henckel@datum.at