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Notizen aus Utopia: Die unverzichtbare Erweiterung des Denkens

Wieso Utopien lebensnotwendig sind.

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Illustration:
Blagovesta Bakardjieva
DATUM Ausgabe Oktober 2022

Nachdem ich an dieser Stelle im DATUM über das Jahr hinweg verschiedene utopische Gedanken und Visionen präsentiert habe, stellt sich nun – längst überfällig – die Frage, was denn die Utopie so außergewöhnlich und notwendig macht. Und wieso wir auf sie nicht verzichten können.

Utopisches Denken ist stets das Spekulieren über ein ›noch nicht‹, die Erweiterung der Vorstellungskraft zu einer Vision zukünftiger Momente, die vielfältig, überraschend und auch befreiend sind, sowohl in die Vergangenheit hinein als auch in die Zukunft hinaus. Zukunft wird als etwas begriffen, das anders werden könnte und Geschichte als das, was anders gewesen sein könnte. Und beide Vorstellungen sind eng miteinander verflochten. 

Die Utopie muss einerseits in historischen Erfahrungen verwurzelt sein, denn sie geht von bestimmten Annahmen über das menschliche Verhalten aus, und wenn diese nicht durch Erfahrungen bestätigt werden, hat die utopische Vision nur eine metaphysische, um nicht zu sagen eschatologische Bedeutung. 

Unser Denken ist meist in der ­Gegenwart gefangen, einer Gegenwart, die dieser Tage als selbstgefällig und lethargisch empfunden werden könnte. Andererseits ist für viele Menschen die Vergangenheit zunehmend von Nostalgie geprägt, sie glänzt als ein erfundenes verlorenes Paradies. Die Zukunft wiederum ist momentan kontaminiert von Angst und Schrecken, von apokalyptischen Übertreibungen.

Deshalb benötigen wir die Utopie. Allerdings sollten wir das, was es noch nicht gibt, nicht mit dem verwechseln, was unmöglich ist, so wie das Wort ›Utopie‹ im täglichen Sprachgebrauch gemeinhin verwendet wird. Die Sklaverei abzuschaffen, Frauen das Wahlrecht zu geben oder Hunger auszurotten, das schien eine lange Zeit tatsächlich unmöglich zu sein. Und doch ist es – zumindest in Teilen der Welt – umgesetzt worden. Fortschritt ist zuweilen verwirklichte Utopie. Indem wir uns andere Realitäten vorstellen, imaginieren wir Alternativen zum Existierenden. Genau das meinte Robert Musil, der große österreichische Schriftsteller, als er den ›Möglichkeitssinn‹ heraufbeschwor. 

Wenn man übrigens die Bibliografie utopischer Schriften durchblättert, stellt man fest, dass Epochen des Fortschritts sowie der kulturellen und demokratischen Blüte von einer Fülle utopischer Schriften begleitet wurden, in eher reaktionären Zeiten dagegen herrschte meist ein Mangel an utopischer Kreativität vor. 

Allerdings besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen einem politischen Manifest, das den Anspruch erhebt, radikal zu sein, und utopischen Visionen und Geschichten. Das politische Manifest verkündet eine Wahrheit, die Morgen verwirklicht werden müsse, und wer diese klar konzipierte Zukunft nicht akzeptiere, der sei halt von gestern. Das ist dogmatisch und potentiell gefährlich.

Die utopische Erzählung sollte im Gegensatz dazu Vorläufiges skizzieren, offene Visionen präsentieren. Die Gründe liegen auf der Hand: Ein Entwurf einer wesentlich anderen Zukunft, der als präzise Zeichnung daherkommt, die im Reich der Fantasie pedantisch auf Genauigkeit pocht, entwickelt eine Vision mit begrenzter Geltung. Utopische Vorstellungen sollten nicht Baupläne übermäßig ehrgeiziger Architekten sein, sondern eine Teilhabe an einem weiteren Horizont anbieten, der die Zukunft von den Fesseln der etablierten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ordnungen befreit. Sinnvoll für uns alle, die wir uns nach anderen Formen des gesellschaftlichen Lebens und der individuellen Existenz sehnen und gelegentlich davon tagträumen. Wahrhaft utopische Erzählungen stellen bestehende Prämissen in Frage, indem sie Fenster des Denkens und Türen der Fantasie öffnen. 

Jeder sozialpolitische Raum wird durch existierende Rahmenbedingungen und inhärente Dogmen definiert, die es immer wieder in Frage zu stellten gilt, denn sie prägen unser Verständnis von Gerechtigkeit und Wohlbefinden, von Glück und Fortschritt. Das Streben nach mehr Gerechtigkeit muss von der Annahme ausgehen, dass die herrschenden Prioritäten, Instrumente und Institutionen fehlbar sein könnten. Das ist nicht so radikal, wie es zunächst klingen mag. So beginnt etwa das deutsche Grundgesetz mit einem erstaunlichen Ausspruch: ›Die Würde des Menschen ist unantastbar.‹ Das ist entweder naiv oder ein durch und durch utopischer Anspruch, denn wie wir alle wissen, wird auch in einer wohlhabenden Gesellschaft wie der deutschen die Würde von manchen Bürgern und Bürgerinnen durchaus verletzt. 

Die gegenwärtige Abwesenheit utopischen Denkens ist ein lähmender Mangel, ein Grund für kulturelles Bedauern, aber auch eine existenzielle Bedrohung. Wann immer es zu einem Paradigmenwechsel kommt, braucht die Gesellschaft die Weisheit der radikalen Vorstellungskraft. Es ist keine Übertreibung zu behaupten, dass wir vor der größten Herausforderung stehen, der sich eine komplexe Zivilisation jemals stellen musste, und dass wir neue Formen der Produktion, der Arbeit und des Zusammenlebens ins Auge fassen und entwickeln müssen. 

Leider bedeutet die Globalisierung, dass der Moloch, den wir neoliberalen Kapitalismus nennen, den ganzen Planeten beherrscht, fast ohne Ausnahme. Dies ist ein erschreckender Gedanke. Monokulturen sind in der Landwirtschaft schlimm genug, in der Politik bedeuten sie irgendwann einmal einen Kollaps (wie das grandiose Buch von Jared Diamond betitelt ist, das derartige Entwicklungen anhand von historischen Beispielen analysiert). Um in Würde und Wohlergehen zu überleben, müssen wir unsere planetarischen Lebensformen neu definieren, und das wird ohne die utopische Vorstellungskraft nicht möglich sein. So betrachtet, ist Utopie also nicht die Kunst des Unmöglichen, sondern die Vernunft des Notwendigen. 

Eine Welt des Werdens. Wenn ich davon ausgehe, dass ich wie alle anderen auch aufgrund meiner kognitiven Einschränkungen sowie aufgrund des Zeitgeistes teilweise blind bin, dann muss ich ins Visionäre ausbrechen, um meine Blindheit zu überwinden. Wenn ich die Gegenwart nicht klar sehen kann, bleibt mir nichts anderes übrig, als die Zukunft in den Blick zu nehmen. In diesem Sinn verspricht Utopie zudem die Heilung unserer partiellen oder absichtlichen Blindheit. 

Utopie erscheint uns als wundersame Spinnerei, solange wir uns als wissend und den Problemen gewachsen betrachten. Wenn wir aber von unserer Ignoranz ausgehen, von den Scheuklappen und Verengungen unseres Denkens, würde sie uns so normal erscheinen wie Kürbiskerne oder löchrige Socken. •