Notizen aus Utopia: Geteiltes Gut
Warum wir Alternativen zum Eigentum brauchen.
Es wird behauptet, unser System wäre in wirtschaftlichen Dingen effizient. Es hätte Millionen von Menschen aus der Armut befreit, die Lebenserwartung des Einzelnen weltweit im Durchschnitt um Jahrzehnte erhöht und vieles andere mehr. Das stimmt, allerdings übersieht man dabei gern, dass die gegenwärtig lebenden Generationen mehr verbrauchen als alle Generationen vor ihnen. Zudem lässt man außer Acht, dass dieser Wohlstand einseitig verteilt ist, und vor allem dem exzessiven Verbrauch und Konsum einiger Weniger dient. Und schließlich verschließen wir auch noch die Augen davor, dass Gier als neue Grundrechenart eingeführt worden ist und Eigensinn als höchste Form der Logik.
Es gibt eine Alternative zu diesem Ungleichgewicht, behaupten andere. Diese trägt verschiedene Namen – Kommunismus, Sozialismus, Maoismus – , aber es handelt sich um ein und dasselbe Produkt: Staatskapitalismus. Die ausbeuterische Beziehung zwischen Betrieb/Fabrik und Arbeitenden bleibt bestehen, ebenso jene zwischen Mensch und Natur. Wie im Privatkapitalismus erwirtschaftet der Mehrwert der Arbeit einen Profit, der einzig einer Elite zukommt, die allerdings nicht aus Unternehmern und Spekulanten besteht, sondern aus Bürokraten und Parteibonzen (in der Sowjetunion einst ›Nomenklatura‹ genannt). In diesem marxistisch-leninistischen System wird weniger Wohlstand gewährleistet, dafür aber auch weniger Freiheit, eine sogenannte Lose-Lose-Situation.
Beiden Formen des Kapitalismus ist eigen, dass sie eine Obsession bezüglich der Frage des Eigentums haben. Dieses wird entweder dem individuellen Egoismus oder einem repressiven Ungetüm namens Staat überantwortet. Viele utopische Ansätze gehen stattdessen von Nutzungs- und Zugangsrechten aus. Das hat historische Vorbilder. So sind etwa Parks und Gärten erst durch die Demokratisierung der Gesellschaft allen zugänglich gemacht worden, als der öffentliche Raum von aristokratischer Eigennutzung befreit wurde. Dieses Prinzip lässt sich auf alle wesentlichen Bedürfnisse der Menschen erweitern. Ein freier Zugang zu allen materiellen Gütern der Grundversorgung wäre möglich.
Das philosophische Fundament einer solchen Umgestaltung der Ökonomie ist das Konzept der Allmende, auch Gemeingut genannt. Viele Gesellschaften kannten verschiedene Formen von Allmende. Ein sehr alter Mann im Süden Simbabwes erklärte mir von 30 Jahren: ›Wenn du ein wildes Tier tötest, ist dies ein Geschenk der Erde. Wieso solltest du es verkaufen? Es ist eine Gabe der Vorfahren und des Schöpfers. Sei gütig und überreiche deinen Nachbarn ein Stück Fleisch. So lächelt dein Herz, und das Herz deiner Vorfahren lächelt auch, und du wirst wieder erfolgreich jagen.‹
Die Wertschätzung der Natur, eine umweltbewusste Lebensweise, eine nachhaltige Produktion – die utopischen Haltungen setzen eine respektvolle sowie nicht-kommerzielle Beziehung zur Natur voraus: Die Natur als Schöpfung, als Geschenk, und nicht als etwas, ›das wir uns untertan‹ machen. Da solche Überzeugungen immer noch gelebt werden, etwa in indigenen Gesellschaften, gehören sie zu jenen utopischen Nischen, auf die wir zurückgreifen können. Für die meisten Utopistas gibt es keinen Zweifel, dass wir die kapitalistische Nutzbarmachung der Natur in absehbarer Zeit überwinden müssen, wenn die Zukunft nicht aus einer Aneinanderreihung von Naturkatastrophen inklusive Zoonosen bestehen soll.
Eine weitere utopische Vorstellung besteht darin, dass der Mensch nur das konsumiert, was seinen natürlichen Bedürfnissen entspringt, und nicht das, was ihm durch Werbung, sozialen Druck oder mediale Indoktrination suggeriert wird. Die Überproduktion an Textilien ist diesbezüglich ein prägnant erschreckendes Beispiel. Keiner von uns halbwegs versorgten Mitteleuropäern benötigt die Überfülle, die aus unseren Kleiderschränken quillt. Ein Foto aus der Atacama-Wüste im Norden Chiles hat dies neulich schmerzhaft auf den visuellen Punkt gebracht: So weit das Auge reicht ein bunter Teppich von Altkleidern, die aufgrund ihrer Zusammensetzung (keine natürliche Faser wurde verarbeitet) keine andere Verwendung finden können, als in der Öde entsorgt zu werden. Die ›fast fashion‹ mit ihren sechswöchigen Zyklen entspricht keiner Notwendigkeit, sondern einem wahnsinnig gewordenen Selbstzweck: obsessiver Konsum; ausufernde Verschwendung. Wir zerstören das Wesentliche, um Überflüssiges zu schaffen.
Zu den wahrlich visionären Aspekten utopischer Literatur gehört ein hohes Maß an Automatisierung, das die Menschen von stumpfsinniger Arbeit befreit (die Abschaffung erniedrigender und gefährlicher Arbeit ist ja teilweise bei uns schon erfolgt beziehungsweise wäre leicht umzusetzen). Statt Arbeit gibt es sinnvolle Beschäftigung, die vor allem aus kreativen und sozialen Aktivitäten besteht. Statt der unzähligen ›bullshit jobs‹, die in dem letzten halben Jahrhundert vor allem im Bereich der Dienstleistung erfunden worden sind, übernehmen Menschen Aufgaben gemäß ihren Interessen und Begabungen, wobei natürlich auch weniger angenehme Pflichten anfallen, die gerecht unter allen Mitgliedern einer Gesellschaft zu verteilen wären.
Eine solche Wirtschaftsform wäre von Selbstorganisation (in allem) und Selbstversorgung (in vielem) bestimmt. Kooperation und Tausch treten an die Stelle von Wettbewerb und Profit. Zum einen erlauben neue Technologien, die dem Wohl der Menschen dienen, ein höheres Maß an eigener Produktion. 3-D-Drucker etwa ermöglichen eine individuelle beziehungsweise familiäre Versorgung mit vielen Produkten, die heute noch in komplizierten Lieferketten aus allen Teilen der Welt geliefert werden. Zum anderen sind die sozioökonomischen Strukturen (wie auch die politischen) nicht hierarchisch durchherrscht, sondern entwickeln sich aus der gelebten Praxis unzähliger lokaler Gruppen, Projekte, Nachbarschaften, Verbünde, Gemeinden und so weiter. Die enormen Rechenkapazitäten des Quantencomputing erleichtern eine Vernetzung von Angebot und Bedürfnis.
Natürlich wird es auch in der besten aller Utopien punktuell weiterhin Elend geben (etwa als Folge von Naturkatastrophen). Nur sieht die Reaktion der Weltgemeinschaft anders aus als heute. Leid und Not werden nicht hingenommen. Wie es – um der Literatur das letzte Wort zu überlassen – in einem Roman von H.G. Wells heißt: ›Wenn wir erfahren würden, dass ein einziger Mensch irgendwo auf Erden hungert, würden wir uns alle als schuldig betrachten und uns aufgefordert fühlen, diesen Missstand zu beseitigen.‹ •