Wie sieht eine artgerechte Haltung des Homo sapiens aus?

Menschenaffen sind uns ähnlicher, als wir oft wahrhaben wollen. Welche Schlüsse sollten wir daraus ziehen? Ein Gespräch mit dem Primatenforscher Frans de Waal.

DATUM Ausgabe Dezember 2021

Frans de Waal lebt in einem Haus mitten im Wald, und in diesem Wald leben Kojoten, Hirsche, Waschbären und Schlangen. Vor gut 30 Jahren hat sich der niederländische Biologe und Primatenforscher mit seiner Frau Catherine hier außerhalb von Atlanta im us-Bundesstaat Georgia niedergelassen. Und wenn er nun an seinem Schreibtisch sitzt und, wie heute, Zoom-Gespräche nach Österreich führt, kann er den Blick über den Laptoprand hinweg durchs Fenster schweifen lassen und nebenbei tun, was er am liebsten tut: Tiere beobachten. 

Herr de Waal, Sie haben schon als Kind aufmerksam das Verhalten von Tieren observiert – aber auch jenes Ihrer Mitmenschen. Warum entschieden Sie sich bei Ausbildung und Beruf gegen die eigene Spezies?

Frans de Waal: Zum einen hat das praktische Gründe: Millionen von Forschern befassen sich mit menschlichem Verhalten, das Verhalten von Tieren hingegen wird nur von ein paar Tausenden erforscht. Da herrscht also ein starkes Ungleichgewicht. Vor allem aber finde ich Tiere einfach interessanter als Menschen. Ich habe mich immer schon zu ihnen hingezogen gefühlt, schon während meiner Kindheit Fische, Frösche oder Mäuse als Haustiere gehalten. Aber es stimmt natürlich, meine Freude am Beobachten hat sich nie auf Tiere beschränkt. Auch im Alltag beobachte ich bis heute alles und jeden. Für meine Frau ist es zum Beispiel sehr schwer, bei uns im Haus irgendetwas vor mir zu verstecken. Mir entgeht nicht die kleinste Veränderung.

Sie sind Professor an der Emory University in Atlanta, Direktor des Living Links Center und Autor zahlreicher Bücher. Ihre Karriere begann in Ihrer Heimat, den Niederlanden, wo Sie Biologie studierten und schon als junger Forscher mit Erkenntnissen zur emotionalen Nähe zwischen Menschen und Primaten aufhorchen ließen.

de Waal: Ja, in den 1970ern und 80ern war es noch ein ziemliches Tabu, Menschen mit Tieren zu vergleichen. Ein Grund für diese Abwehrhaltung war, dass im Zweiten Weltkrieg Theorien aus der Biologie für die nationalsozialistische Rassenlehre missbraucht wurden. Wer drei oder vier Jahrzehnte später meinte, menschliches Verhalten sei teilweise genetisch vorbestimmt, galt schnell als Faschist.

Trotzdem schütten Sie seither mit Ihrer Forschung die Gräben zwischen Mensch und Tier zu. Ist denn heute die Zeit reif für Ihre Forschungsergebnisse?

de Waal: Ja, wenn ich heute Menschen als Tiere bezeichne oder unser Verhalten auf biologische Grundlagen zurückführe, dann stoße ich nicht mehr auf so großen Widerstand. Seit den 1990ern beobachte ich da eine gewisse Kehrtwende.

Wann haben Sie für sich selbst erkannt, dass wir Menschen nicht über dem System stehen?

de Waal: Es gab für mich keinen solchen Moment der Erkenntnis, ich würde eher sagen: Ich habe seit meiner Kindheit nie aufgehört, das so zu sehen. Kinder machen diese Unterscheidung nicht. Ich habe noch nie ein Kind getroffen, das sich für besser hielt als Tiere. Kinder haben Tiere lieb, sie sehen auch gerne Filme mit animierten Tieren.

Und kuscheln nachts mit Plüschtieren.

de Waal: Genau. Ich denke, die hierarchische Unterscheidung zwischen Mensch und Tier wird uns erst indoktriniert, wenn wir älter werden. Da spielt meiner Ansicht nach auch Religion eine große Rolle, welche menschliche Überlegenheit gerne betont. Manche Erwachsenen empfinden sich dann selbst als gegenüber dem Tierreich erhaben. Andere wiederum, und dazu zähle ich mich selbst, halten dieser Indoktrination stand. Ich fühlte mich zu keinem Punkt meines Lebens anderen Tieren überlegen.

Können Ihre Studien zu emotionalen Kapazitäten von Primaten auch Er­kennt­­nisse über den Menschen liefern?

de Waal: Ich denke schon. Menschen sind Primaten. Anderen Menschenaffen wie etwa Schimpansen sind wir genetisch zirka so ähnlich wie der Afrikanische Elefant dem Asiatischen. Da bezeichnen wir auch beide als Elefanten und machen keine hierarchische Unterscheidung. Wir Menschen sind bloß recht arrogante Primaten, die sich für etwas Besseres halten. Wir sind auch schlaue Primaten, denn wir haben ein wesentlich größeres Hirn als alle anderen. Trotzdem gibt es keinen einzigen Teil im menschlichen Gehirn, welchen man nicht auch im Schimpansengehirn finden würde. Unsere Sprache ist die einzig wesentliche kognitive Unterscheidung, welche ich gelten lasse. Meine Forschung befasst sich vorrangig mit emotionalen Fähigkeiten, und speziell dort sehe ich enorme Gemeinsamkeiten zwischen Menschen und anderen Primaten. Ich bezweifle stark, dass es Emotionen gibt, die nur der Mensch empfinden kann.

Was macht Sie da so sicher?

de Waal: Lassen Sie mich diese Frage mit zwei Beispielen aus meiner Forschung beantworten. Zum einen haben wir etwa erkannt, dass sich Primaten gegenseitig Trost spenden. Wenn ein Schimpanse eine Schlange sieht, vom Baum fällt oder in einen Kampf verwickelt wird, dann eilen danach andere herbei, um ihn zu beruhigen und zu trösten. Dieses zutiefst empathische Verhalten sehen wir auch bei Elefanten, Mäusen und vielen anderen Tieren. Hunde etwa, das kennen viele von uns, spenden auch ihren Besitzerinnen und Besitzern Trost. Bei einer anderen Studie – einer meiner ersten Studien mit Primaten – widmete ich mich dem Versöhnungsverhalten von Schimpansen. Ich fand damals heraus, dass sich die Primaten nach einem Kampf küssen und umarmen. Sie versöhnten sich. Und das ist ein sehr komplexes Verhalten: Innerhalb weniger Minuten sind sie imstande, von einem feindlichen, aggressiven Auftreten zu einer liebevollen Stimmung überzugehen – so, wie wir Menschen das eben auch können. Schimpansen versöhnen sich vor allem mit Umarmungen und Küssen, Bonobos haben dann häufig Sex, andere Tiere tun es, indem sie sich gegenseitig putzen. Sie alle haben die Fähigkeit, eine Beziehung nach einem Streit wieder zu reparieren. 

Schimpansen etwa sind aber auch angewiesen auf gute Beziehungen und ein intaktes soziales Umfeld.

de Waal: Ja, Beziehungen aufrechtzuerhalten geht für sie mit erheblichen Vorteilen einher. Bei der Haltung von Schimpansen in Gehegen muss man daher nicht nur auf genügend Platz, sondern vor allem auf das soziale Gefüge achten. Schimpansen müssen eine Gruppe bilden können.

Bei Tieren spielt artgerechte Haltung eine immer größer werdende Rolle; man weiß bei fast jeder Spezies recht gut Bescheid, was es braucht, um Angst, Frust und Aggression zu vermeiden. Wir Menschen halten uns selbst hingegen für so flexibel und anpassungsfähig, dass die Frage nach einem unserer Art gerechten Leben kein so großes Thema ist. Wie sieht denn Ihrer Meinung nach die artgerechte Haltung des Homo sapiens aus? 

de Waal: Da würde ich tatsächlich ebenso die Nähe zu Freunden und Familie als wichtigsten Faktor anführen. Einer Depression vorbeugen? Soziale Nähe ist der Schlüssel dazu. Ich finde, die meisten Menschen führen heutzutage ein weitgehend unnatürliches Leben. Viele leben in Städten, also in Gefangenschaft. Dort lassen sie permanent anonyme Beziehungen zu, begegnen ständig auf der Straße fremden Menschen. Das wird unserer Art nicht gerecht, und das kommt bei anderen Primaten de facto nicht
vor – denn diese leben in Gruppen, in welchen sie jedes Mitglied kennen. Auch wir Menschen wurden für kleine Communitys gemacht, für Gesellschaften, welche aus hundert oder vielleicht 200 Leuten bestehen. Nicht für Millionenstädte. Das Leben in kleineren Dörfern und Gruppen ist für uns daher eher artgerecht, aber leider fühlen wir uns zu Großstädten hingezogen, weil dort was los ist und es Jobs gibt. Spätestens aber die Coronavirus-Pandemie hat uns nun gezeigt, wie wichtig Nähe und persönlicher Kontakt für uns sind und dass digitaler Kontakt diesen nicht ersetzen kann. Abgesehen davon hat uns die Pandemie allerdings noch eine zweite Sache gelehrt: Wir können mit der Natur nicht einfach tun, was wir wollen. 

Das zeigt auch die Klimakrise mehr als deutlich.

de Waal: Stimmt. Wir erkennen derzeit, dass wir die Natur bisher echt mies behandelt haben und dass wir unser Verhalten ändern müssen. Dass wir den Menschen vom Rest der Natur unterschieden haben, uns als überlegen dargestellt und dementsprechend benommen haben, fällt uns nun auf den Kopf. Ich bin aber optimistisch und meine, dass hier nun eine Bewegung entsteht. Indem ich Mensch und Tier näher zusammenrücke und betone, was uns vereint, gehöre ich dieser Bewegung an. Menschen sind Teil der Natur. Sie sind ihr nicht übergeordnet. Und wir brauchen die Natur. Dass wir Fenster in unsere Gebäude mauern, hat einen Grund. Ich persönlich kann durch meine großen Fenster immer den Wald sehen, und das ist mir sehr wichtig.

Ein anderes Ihrer Experimente unter­sucht das Gerechtigkeits­empfinden bei Kapuzineräffchen. Dabei erhalten zwei Affen für dieselbe Aufgabe unterschied­liche Belohnungen – einer bekommt ein Stück Gurke, der andere eine süße und damit für Affen besser schmeckende Traube. Zuerst ist der mit der Gurke zufrieden, doch als er sieht, dass der andere für dieselbe Aufgabe eine Traube erhält und er selbst auch beim zweiten Mal nur eine Gurke,wird er zornig. Das Video dieses Experiments haben knapp 18 Millionen Menschen auf Youtube gesehen.

de Waal: Ja, und wenn man alle anderen Plattformen und Verbreitungswege dazurechnet, dann kann man gewiss von hundert Millionen Seherinnen und Sehern sprechen. Ich denke, es ist sogar das meistgesehene Tier-Experiment-Video überhaupt.

Wie erklären Sie sich dieses große Interesse an den beiden Kapuzineräffchen?

de Waal: Menschen fühlen sich davon unterhalten. Wenn ich es bei Vorträgen zeige, lacht das Publikum. Das ist dann aber meist auch ein nervöses Lachen, denke ich. Denn völlig unerwartet erkennen die Leute sich selbst wieder. Darüber hinaus kann man das große Interesse aber auch mit gesellschaftlichen Schieflagen erklären: Hier in meiner Wahlheimat usa sehe ich, wie die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, wie Reiche Steuervorteile genießen und Einkommensunterschiede schmerzhaft deutlich werden. Wir sympathisieren also mit dem Affen, der Gurkenstücke bekommt, und reflektieren dabei, wie wir selbst auf gesellschaftliche Ungerechtigkeiten reagieren. 

Der Affe in Ihrem Experiment zeigt sehr deutlich, was er von dieser Situation hält: Empört wirft er das Gurkenstück zurück und rüttelt an der Wand seines Geheges. Menschen sind ja nicht immer ganz so direkt und offen mit ihren Gefühlen. Fragt man, wie es uns wirklich geht, beschönigen wir gerne, machen uns selbst und unseren Mitmenschen etwas vor. Ängste und Sorgen werden gerne einmal unterdrückt. Können wir da vom unverblümten Verhalten des Kapuzineräffchens etwas lernen?

de Waal: Ich denke schon. Es stimmt, Menschen unterdrücken Emotionen oftmals, und das macht uns unter Umständen sogar depressiv. Um uns gegen Ungerechtigkeit zu wehren, üben wir zwar politisch noch Druck aus, debattieren auch in tv-Talkshows darüber. Aber gesellschaftlich gesehen wird dieser Mechanismus oft unterdrückt. Noch deutlicher als bei den Kapuzineräffchen haben wir den Gerechtigkeitssinn übrigens bei Studien mit Schimpansen gesehen. Diese tendieren nämlich dazu, Ungerechtigkeit sogar ausgleichen zu wollen, auch wenn sie nicht selbst davon betroffen sind. Sie tun das, weil sie besser erkennen, welche Auswirkung Ungerechtigkeit auf Beziehungen hat. Stellen Sie sich doch mal vor, wir zwei säßen, beide mit großem Hunger, beisammen, am Tisch zwischen uns stünde eine Pizza, und ich würde vor Ihren Augen die gesamte Pizza verputzen, ohne Ihnen ein Stück abzugeben. Ich weiß, dass Sie beleidigt wären, und wenn ich unserer Beziehung nicht schaden will, dann mache ich so etwas einfach nicht. Mit einer halben Pizza hätten wir beide jeweils genug und wären glücklich. Schimpansen können solche Dinge ebenfalls sehr gut verstehen. Gerechtigkeitssinn wurzelt also im Versuch, Beziehungsproblemen vorzubeugen.

Unter Umständen würde ich aber auch aus Höflichkeit kein Pizzastück ein­fordern und Sie in Ruhe essen lassen.

de Waal: Um danach Ihren Freunden zu erzählen, was für ein gieriger Depp ich bin? (lacht) Da sind wir wieder bei der nicht sonderlich nachhaltigen Unterdrückung von Gefühlen. Wobei andere Primaten das schon auch tun. Zum Beispiel dann, wenn sich ein Schimpansenmann zu einer Schimpansenfrau höheren Rangs hingezogen fühlt. Würde er sein Empfinden frei ausleben, dann würde ihn ein anderer Schimpansenmann mit höherem Status attackieren. 

Können Menschenaffen denn auch Depressionen entwickeln?

Das ist leider sehr schwer zu messen. Was wir aber deutlich sehen, sind unmittelbare Reaktionen auf Ereignisse wie etwa den Tod eines Familienmitglieds, welche wie eine depressive Verstimmung anmuten.

Der Tod jagt Menschen ja auch Angst ein. Wir sind uns zudem bewusst, dass wir und unsere Liebsten sterben werden. Tieren hingegen attestieren wir ein solches Vergänglichkeitsbe­wusst­sein eher nicht. Trotzdem bezeichnen Sie in Ihrem Buch Mamas Last Hug eine Begegnung zwischen Forscher Jan van Hooff und der im Sterben liegenden Schimpansin Mama als Abschiedsszene. Wusste Mama, dass sie bald sterben würde?

de Waal: Nein, ich denke, das war ein einseitiger Abschied. Jan van Hooff wusste es, bei Mama bin ich mir nicht sicher. Ich bin nicht davon überzeugt, dass andere Primaten sich ihrer Sterblichkeit bewusst sind. Wenn ein Individuum im Verband stirbt, dann verstehen sie das, und vermutlich wissen sie auch, dass der Tod irreversibel ist. Dass ihnen selbst in der Zukunft dasselbe zustoßen wird, das verstehen sie aber vermutlich nicht. Von dieser Sorge sind sie also, im Gegensatz zu uns, befreit.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr de Waal. Wollen Sie noch kurz Ihren Laptop umdrehen, um mir die großen Fenster mit Blick ins Grüne zu zeigen?

de Waal: Einen Moment, das haben wir gleich.