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Datum Talente

Brutale Nähe

Emmanuel wurde als Kleinkind von seiner Mutter sexuell missbraucht – ein Tabu, aber kein Einzelfall.

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Illustration:
Alina Mosbacher
DATUM Ausgabe November 2024

Emmanuel war etwa zwei oder drei Jahre alt, als der Missbrauch begann.  ›Zuerst sollte ich mich nur ganz normal zu ihr ins Bett legen‹, erinnert er sich.  ›Später musste ich nackt neben ihr liegen. Irgendwann hat sie begonnen, mich anzufassen.‹ Wenn Emmanuel fast 40 Jahre später über das spricht, was ihm durch seine Mutter widerfahren ist, sucht er manchmal nach den richtigen Worten. Er gestikuliert mit den Händen und legt sie sich bei manchen Bildern, die in seinem Kopf auftauchen, vor sein Gesicht.  ›Sie hat mir unter diversen Vorwänden ans Glied gefasst. Ich musste sie streicheln und ihre Geschlechtsmerkmale stimulieren.‹ Erzwungen wurde der Missbrauch durch Gewalt:  ›Wenn ich da nicht mitgemacht habe, ist sie total abgegangen. Dann hat sie meine Spielsachen kaputtgemacht und mit aller Kraft auf mich eingetreten und geschlagen‹, erzählt Emmanuel. 

Sexualisierte Gewalt durch Frauen ist ein blinder Fleck. Forschende gehen davon aus, dass bei jedem zehnten bis fünften Fall von Kindesmissbrauch Frauen Täterinnen sind, die Zahlen spiegeln sich jedoch kaum in der Kriminalstatistik wider. Geschlechterstereotype erschweren das Erkennen und Einordnen der Gewalt, Taten werden bagatellisiert. Betroffene kämpfen mit Unglauben und Scham. 

Zu hören, dass eine Mutter ihr Kind missbraucht, schockt: ›Es passt nicht mit den gängigen Rollenbildern zusammen, dass Frauen sexuellen Kindesmissbrauch begehen‹, sagt Johanna Schröder. Sie ist Klinische Psychologin, Verhaltenstherapeutin und seit einigen Jahren an der Medical School in Hamburg wissenschaftlich tätig. Dort forscht sie zu sexuellem Kindesmissbrauch durch Frauen.  ›Nach den klassischen Geschlechterstereotypen sind Männer dominant und sexuell aktiv. Frauen werden als fürsorglich und sexuell passiv gesehen‹, sagt Schröder. 

Schröder schätzt eine deutsche Studie aus dem Jahr 2019 mit einer repräsentativen Stichprobe als besonders verlässlich ein, die bei jedem zehnten Fall von sexualisierter Gewalt mit Körperkontakt oder Penetration an Minderjährigen von einer Täterin oder Mittäterin ausgeht. In Österreich gibt es spezielle Forschung zu Kindesmissbrauch durch Frauen an Mädchen und Buben bislang nicht:  ›Vorsichtig kann man ausgehend von den deutschen Daten auf einen ähnlich hohen Anteil in Österreich schließen‹, so Schröder. Allerdings kommen internationale Studien zu sexueller Gewalt durch Frauen aufgrund diverser Forschungsdesigns zu unterschiedlichen Ergebnissen: Der geschätzte Anteil an Täterinnen schwankt dabei zwischen zehn und 20 Prozent. Definition von sexuellem Kindesmissbrauch und Altersspanne der Betroffenen können je nach Land voneinander abweichen.  ›Man darf natürlich nicht vergessen, dass Männer den Großteil der Taten begehen, wenn es um sexuellen Kindesmissbrauch geht‹, sagt Schröder. ›Aber häufig werden Taten, die von Frauen begangen werden, völlig übersehen. Für den Kinderschutz ist es wichtig, diese blinden Flecken aufzuzeigen.‹ 

Der sexuelle Missbrauch durch Emmanuels Mutter liegt inzwischen schon Jahrzehnte zurück. Heute ist Emmanuel Anfang 40, verheiratet und arbeitet als Parksheriff bei einer privaten Firma. Er wohnt wieder in seiner Geburtsstadt Würzburg. Mit DATUM hat er gesprochen, weil er seinen Teil dazu beitragen will, das Tabu zu brechen:  ›Vielleicht helfe ich ja jemandem damit, wenn ich offen darüber rede. So viele Männer schämen sich dafür, obwohl es die Täterinnen sind, die sich schämen müssten‹, sagt Emmanuel. 

 ›Bei meiner Mutter hat es keine Mitte gegeben‹, beginnt er via Signal-Videochat zu erzählen.  ›Sie war entweder manisch oder depressiv.‹  In den guten Phasen machte die Alleinerziehende alles für ihn, fuhr von Würzburg aus 700 Kilometer nach Osten ins Disneyland Paris und 400 Kilometer nach Süden für echte Salzburger Mozartkugeln. Gewalt und Missbrauch kamen in der depressiven Phase: ›Dann hat sie eben einen Mann gebraucht. Den hatte sie nicht, deswegen nahm sie mich.‹ Sie hätte nicht zwischen kleinen und großen Männern unterscheiden können, versucht er ihr Verhalten zu erklären. 

Unter dem Deckmantel der  ›sexuellen Aufklärung‹ drängte seine Mutter ihn etwa im Kleinkindalter zu Zungenküssen, schaute sich mit ihm Pornografie an und fasste dabei sich selbst sowie ihn an. ›Sie hat versucht, mir das gemeinsame Porno-Schauen als etwas Cooles zu verkaufen‹, sagt Emmanuel.  ›Ich wollte aber gar keine Pornos gucken, schon gar nicht mit ihr.‹  Er empfiehlt allen Betroffenen von sexuellem Missbrauch, sich psychologische Hilfe zu holen:  ›Aber den ersten Schritt muss man selbst gehen und sich klarmachen, dass mit einem selbst nichts falsch ist.‹  

Sexuelle Gewalt durch Frauen sei oft manipulativer, subtiler und perfider, erklärt Expertin Schröder:  ›Betroffene beschreiben fließende Übergänge von Zärtlichkeit zu sexueller Gewalt.‹  Übergriffe würden teils als Körperpflege vertuscht oder als Fürsorge getarnt, was eine Einordnung durch Betroffene und Außenstehende erschwert. Bei einer anonymen Online-Studie der deutschen  ›Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs‹, bei der mehr als 200 Betroffene von Missbrauch durch Frauen teilnahmen, gaben 43 Prozent der Befragten an, dass sie zum Zeitpunkt der sexuellen Gewalt die Handlungen nicht als solche klassifizieren konnten. Die Kommission wurde vor knapp zehn Jahren vom Deutschen Bundestag ins Leben gerufen und besteht aus ehrenamtlichen Mitgliedern aus Rechts- und Sozialwissenschaften, Psychologie, Medizin und Politik. Wissenschaftliche Teams rund um die Kommissionsmitglieder sowie beauftragte Universitäten und Forschungsinstitute untersuchen noch bis 2025 Ausmaß, Art und Folge von sexuellem Kindesmissbrauch in Deutschland. Auch Johanna Schröder wirkte wissenschaftlich mit. 

Insbesondere weiblichen Betroffenen fällt eine Einordnung der sexuellen Gewalt durch Frauen mitunter schwer.  ›Ich bin weiblich, gilt das überhaupt, wenn eine Mutter ihre Tochter in dieser Art und Weise so berührt, oder nur bei Söhnen?‹, schreibt etwa eine Betroffene in einem Online-Forum. Aber auch das Alter der Opfer spielt eine Rolle.  ›Babys und Kleinkinder nehmen manchmal sehr schwere Übergriffe, wie die Penetration mit dem Finger in die Scheide oder in den After, nicht als solche wahr‹, erzählt Hedwig Wölfl, Psychologin und Geschäftsführerin der Kinderschutzzentren ›Die Möwe‹. ›Insbesondere, wenn der Missbrauch ohne Gewaltanwendung im Rahmen einer Pflegehandlung oder beim Austauschen von Zärtlichkeiten passiert.‹  

Sexuelle Gewalt löst vor allem Schuldgefühle, Scham und Angst aus, greift aber auch die Integrität der Kinder an.  ›Meine Mutter hat mein Selbstwertgefühl komplett zerstört‹, erzählt Emmanuel.  ›Um mich dazu zu bringen, diese Sachen zu machen, musste meine Mutter mir einreden, dass meine Abwehr nicht normal sei. Obwohl ich nur ein normales Kind mit einer normalen Kindheit sein wollte, sei mit mir etwas falsch.‹ Er stockt. ›Das macht die ganze Kindheit kaputt, und das macht das ganze Leben kaputt.‹  

Bei weiblichem Missbrauch sind oft Mütter die Täterinnen.  ›Wir haben immer wieder Fälle, wo Kinder im Zuge einer Trennung in der Nacht zur Mutter ins Bett wandern‹, erzählt Hedwig Wölfl.  ›Es kann sich nur eine graduelle sexuelle Nähe einstellen, bis hin aber zum schwersten sexuellen Missbrauch.‹  Trotz der Übergriffe könne eine Distanzierung zu den Täterinnen aus dem familiären Umfeld schwerfallen. Dabei haben jedoch nicht alle Gewaltausübenden eine pädosexuelle Störung. Sexualisierte Gewalt kann auch instrumentalisiert werden, um Macht und Kontrolle zu erfahren. Manche Täterinnen missbrauchen Kinder als Partnerschaftsersatz, etwa wenn es ihnen nicht möglich ist, eine Beziehung mit Erwachsenen aufzubauen.

In der Polizeilichen Kriminalstatistik spiegelt sich der Anteil weiblicher Täterinnen nur bedingt wieder. Die Frauenquote bei sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen lag bei den österreichischen Anzeigen in den letzten zehn Jahren durchschnittlich bei nur rund fünf Prozent. Dieser Anteil sinkt bei rechtskräftigen Verurteilungen noch einmal deutlich auf 1,6 Prozent. Gerade bei männlichen Betroffenen von sexuellem Missbrauch durch Frauen sei die Scham oft besonders groß, was den Weg zu Behörden erschwere, so Schröder:  ›Frauen gelten noch immer als das »schwache Geschlecht«. Wenn man Opfer des »schwachen Geschlechts« wurde, macht das etwas mit der Identität eines Mannes.‹  Zudem werde Männern teilweise die  ›Opferrolle‹  abgesprochen: Rund der Hälfte der Befragten der von der deutschen Kommission durchgeführten Studie wurde von Personen aus dem direkten Umfeld nahegelegt, lieber nicht mit anderen über den Missbrauch zu sprechen. 90 Prozent zeigten die Täterinnen demnach nicht an. 

Emmanuel wandte sich immer wieder hilfesuchend an Lehrkräfte:  ›Sie haben mir so lange geglaubt, bis ich ihnen anvertraut habe, dass ich nicht von meinem Vater, sondern von meiner Mutter gesprochen habe.‹  Drei-, viermal musste er wegen der körperlichen Gewalt ins Krankenhaus:  ›Auch das war meistens kein großes Problem für meine Mutter. Sie hat einfach erzählt, dass es mein Vater gewesen sei.‹  Wenn Lehrerinnen und Lehrer, Behörden oder Jugendamt doch unangenehm wurden, wechselte seine Mutter mit Emmanuel das Bundesland. 

Wölfl sieht ein weiteres Problem darin, dass die meisten Menschen zu wenig über physiologische Grundbedingungen des männlichen Körpers wüssten. Physische Erregung sei nicht mit sexueller Lust gleichzusetzen:  ›Etwa kann durch bewusste Stimulation eine Erektion erzeugt werden, ohne dass Lust verspürt wird, und selbst dann, wenn die Jungen unter Drogen- oder K.O.-Tropfen-Einfluss stehen. Es sickert nur langsam ins öffentliche Bewusstsein durch, dass Frauen Jungen und Männer vergewaltigen können‹, sagt Wölfl.

Mit 15 Jahren änderte sich Emmanuels Leben schlagartig. Zu dieser Zeit wohnte er mit seiner Mutter in Braunschweig. Hier hatte er sich bereits einmal an die örtliche Polizei gewandt – erfolglos.  ›Also habe ich geblufft‹, erzählt Emmanuel.  ›Ich bin zu meiner Mutter gegangen und habe ihr gesagt: Entweder du hilfst mir jetzt, allein zu wohnen, oder ich gehe zu den Behörden und erzähle ihnen alles.‹  Er selbst hätte nicht geglaubt, dass er damit Erfolg haben würde, doch gleich am nächsten Tag half ihm seine Mutter, eine kleine Wohnung in einem Hochhaus zu mieten. Die ersten Monate zahlte sie ihm die Miete und ließ sich nicht mehr bei ihm blicken. Allein in seiner Wohnung verdrängte er den Missbrauch und die Gewalt. Er ging nun öfter in die Schule als zuvor, Freunde hatte er aber nicht wirklich:  ›Ich war sozial total daneben‹, gibt Emmanuel zu. Jahrelange größtmögliche Isolierung durch seine Mutter hinterließ Spuren.

Als der Geldfluss aufhörte, lebte er zeitweise auf der Straße, schlief mit dem Schülerticket in Bussen und Bahnen.  ›Ich habe jedes Bewerbungsgespräch total vergeigt‹, erinnert er sich kopfschüttelnd. ›Ich war gehirngewaschen. In meine Bewerbungen habe ich sogar reingeschrieben, wie dankbar ich meiner Mutter für meinen Werdegang sei.‹ Die lange Arbeitssuche war schließlich der Anstoß dazu, sich drei Jahre nach dem Auszug wieder mit seiner Kindheit zu beschäftigen – sich wieder zu erinnern.  ›Ich habe einfach gemerkt, dass es da irgendwas gibt, das dazu führt, dass ich bei Bewerbungsgesprächen so schüchtern auftrete.‹  Er holte sich psychologische Hilfe. Bis er sich jedoch ganz öffnen und über den sexuellen Missbrauch sprechen konnte, vergingen noch einmal sechs Jahre. 

Betroffenen Kindern die Sprachlosigkeit zu nehmen, ist ein wichtiger Teil der Aufklärungs- und somit Präventionsarbeit, mit der laut Wölfl so früh wie möglich begonnen werden sollte, am besten bereits im Kindergarten:  ›Natürlich immer altersgerecht. Wir wollen Kinder auch nicht mit Dingen konfrontieren, die sie noch nicht verarbeiten oder aufnehmen können‹, so Wölfl. Dabei sei es wichtig, zu Beginn ein Gefühl für den eigenen Körper und positives sexualpädagogisches Wissen zu vermitteln. ›Etwa, dass der eigene Körper und die Sexualität etwas Schönes sind, bevor man Kindern auch sagt, was alles Schlimmes passieren kann.‹ Zur Präventionsarbeit gehöre ebenso, Kinder für Grenzüberschreitungen zu sensibilisieren und zur Selbstbestimmung zu ermutigen.  ›Muss ich der stinkenden Tante ein Bussi geben oder darf ich auch nein sagen?‹, führt Wölfl an.

Je mehr Kinder ein Gespür dafür haben, was Erwachsene dürfen, was normal ist und was nicht, desto eher nehmen sie Übergriffe wahr. Emmanuels sozialer Maßstab waren Serien und Trash-TV. Obwohl er sich erst mit Mitte 20 einem Psychologen öffnete, fand er die richtigen Worte bereits sehr früh. Mit sieben Jahren vertraute er sich seinen Großeltern an:  ›Ich habe es tatsächlich geschafft, ihnen direkt zu sagen, dass meine Mutter mich sexuell missbraucht.‹  Den Begriff hatte er im Fernsehen aufgeschnappt. ›Richtig gewusst, was das bedeutet, habe ich damals aber natürlich noch nicht.‹ Seine Großeltern glaubten ihm. Nachdem sie sich in der Küche kurz berieten, schickten sie ihn jedoch wieder zu seiner Mutter:  ›Sie hatten Angst um ihren guten Ruf‹, erinnert sich Emmanuel und ergänzt: ›Mehr als 20 Jahre später, kurz vor ihrem Tod, hat meine Oma mich flüsternd um Verzeihung geben. Es hat sie tatsächlich die ganze Zeit nicht losgelassen.‹ 

Emmanuel kann sich an vieles erinnern, außer an jene Situationen, in denen sein Gehirn aussetzte:  ›Ich war sechs oder sieben Jahre alt und habe im Wohnzimmer die Schlümpfe angeschaut, währenddessen bin ich eingeschlafen‹, erinnert er sich stotternd.  ›Meine Mutter ist reingekommen. Ich bin aufgewacht. Sie hat angefangen zu schreien – dann weiß ich gar nichts mehr‹, er stockt. ›In dem einen Moment bin ich im Wohnzimmer gestanden, im nächsten Moment in meinem Kinderzimmer‹, erzählt er, stark gestikulierend.  ›Ich habe nicht gewusst, wie ich von einem Ort zum anderen gekommen bin, aber irgendwas muss dazwischen vorgefallen sein.‹  

Wenn Emmanuels Frau viele Jahre später zu Anfang ihrer Beziehung von der Spätschicht im Restaurant nach Hause kam, wachte er schreiend und mit rasendem Herzen auf – unbewusst wurde er in seine Kindheit hineinversetzt:  ›Wenn ich als Kind Schritte im Gang gehört habe, hat es immer bedeutet, dass meine Mutter reinkommt‹, erinnert er sich. ›Manchmal hat sie dann kaltes Wasser über mich und mein Bett geschüttet, als Strafe, dass ich schon geschlafen habe, während sie noch wach war.‹ Unabhängig vom Geschlecht fällt es Betroffenen von sexualisierter Gewalt oft schwer, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen.  ›Zwischen mir und meiner Frau klappt es so gut, weil wir beide eine schwierige Kindheit hatten, aber von Anfang an relativ offen darüber reden konnten‹, erzählt Emmanuel. 

Seit zwölf Jahren ist er nun mit seiner Frau verheiratet, auch Depressionen und Selbstverletzung konnte er bereits hinter sich lassen. Sein ständiger Begleiter bleibt jedoch die Angst.  ›Ich glaube, dass wenn du einmal Todesangst hast, die Angst für immer da ist.‹  Studien zeigen, dass Gewalterlebnisse in der Kindheit sich auf die Lebensqualität bis hin zu Krebsrisiko und Herzerkrankungen auswirken:  ›Die Lebenserwartung kann so um Jahre bis Jahrzehnte sinken‹, sagt Wölfl.

Emmanuel wollte vor sechs Jahren eine Selbsthilfegruppe für Männer, die von Frauen missbraucht worden sind, gründen. Es blieb jedoch bei einem Versuch:  ›Es hat nicht an genügend Männern gefehlt, die so eine Kindheit hatten. Ihnen war es einfach nur zu peinlich und sie haben sich noch immer zu schlecht gefühlt, um offen in einer Runde darüber zu reden.‹  Um Betroffene zu entstigmatisieren, ihnen zu helfen und sexuellen Missbrauch durch Frauen zu verhindern, bräuchte es mehr gesellschaftliches Bewusstsein.  ›Alle pädagogischen Ausbildungen bis hin zu Kindermedizinerinnen und -medizinern sollten mehr Wissen zu sexuellem Kindesmissbrauch haben‹, sagt Wölfl. Dazu gehöre auch die Schulung von juristischem Fachpersonal und Aufklärungsarbeit bei Institutionen und Behörden. ›Man sieht nur das, was man kennt‹, sagt Schröder. Obwohl es wichtig sei, Menschen nicht unter Generalverdacht zu stellen,  ›müssen wir uns bewusst machen, dass grundsätzlich jede Person eine Täterin oder ein Täter sein könnte, unabhängig von Geschlecht, Auftreten oder sozialer Herkunft.‹ In den letzten Jahren habe sich institutionell laut Wölfl aber einiges verbessert. Seit 2024 müssen Österreichs Schulen verpflichtende Kinderschutzkonzepte erarbeiten, in denen etwa Situationen definiert werden, bei denen es zu Übergriffen kommen kann, sowie klare Handlungsrichtlinien bei Verdacht auf Gewalt. Eine weitere Verbesserung in puncto Kinderschutz ist, dass das Dunkelfeld immer heller wird – immer mehr Straftaten werden angezeigt. Der blinde Fleck rund um die Täterinnen wird kleiner, das Bewusstsein dafür, dass auch Frauen sexuelle Gewalt ausüben, steigt:  ›Vor 20 Jahren hat man im Vergleich zu heute die Rolle von Frauen bei Kindesmissbrauch eher nur als wegschauend oder tolerierend wahrgenommen und nicht als aktiv gewaltausübend‹, sagt Schröder.

Höhere Strafen für Täterinnen und Täter befürworten Experten, wie etwa der Verband der Österreichischen Kinderschutzzentren, dagegen nicht. Aufklärung und Prävention sei der wirksamste Kinderschutz. Dazu gehöre auch opferschutzorientierte Arbeit mit Täterinnen und Tätern sowie Personen, die eine pädosexuelle Neigung haben. Nur ein kleiner Teil von ihnen übt tatsächlich sexuelle Gewalt aus, wird also pädokriminell. Dabei erhöhen eigene Gewalterfahrungen das Risiko, selbst einmal zu missbrauchen. Es gibt allerdings kaum fundierte Informationen zu noch nicht straffällig gewordenen Frauen und Männern, die meisten Studien untersuchten nur verurteilte Männer. Eine kanadische Befragung aus dem Jahr 2015 kam zu dem Ergebnis, dass rund 0,8 Prozent der Frauen und 1,8 Prozent der Männer sexuelle Fantasien mit Kindern haben. Auf Österreich umgerechnet wären das rund 37.000 Frauen.

Lebend sah Emmanuel seine Mutter das letzte Mal vor 20 Jahren. In dieser Zeit, mit Mitte 20, hatte er versucht, einen engeren Kontakt zu ihr zu knüpfen, jedoch ohne Erfolg. ›Sie verfiel immer wieder in alte manipulative Muster und versuchte mich erneut abhängig von ihr zu machen.‹ Zum allerletzten Mal sah er seine Mutter dann im Sarg. Ihr Tod mit 67 Jahren kam für ihn überraschend. Sie sei wegen ihrer alternativmedizinischen Selbstbehandlung gestorben, sagt Emmanuel. Er habe sich für das Begräbnis wirklich Mühe gegeben, Blumen und einen schönen Sarg organisiert. Hass hegt er gegen seine Mutter heute keinen mehr:  ›Ich denke nicht wirklich negativ über sie. Aber ich war auch nicht traurig, als sie gestorben ist.‹  •

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