Das Kopftuch meiner Mutter
Für die einen ein Symbol der Unterdrückung von Frauen, für die anderen Zeichen ihrer Selbstbestimmung: Meine Mutter setzte das Kopftuch mit Anfang 20 auf – und 19 Jahre später wieder ab. Eine persönliche Geschichte.
Eine Frau mit Kopftuch, Mitte 20, betritt ein von Nonnen geleitetes katholisches Seniorenheim in einem unterfränkischen Dorf. Sie erkundigt sich, ob sie gerade Unterstützung oder eine Aushilfskraft bräuchten. Die Nonne verneint und fügt hinzu: ›Dafür müssten Sie ihr Kopftuch abziehen.‹ Diese Frau mit Kopftuch war meine Mutter. Könnte sie die Situation noch einmal durchleben, dann würde sie gerne auf die Absurdität hinweisen, dass die Nonne, die genauso ihre Haare bedeckte, sie aufforderte, ihr Kopftuch abzulegen. Heute lacht sie darüber. Heute trägt sie kein Kopftuch mehr.
Ich frage sie, ob sie solche Situationen in ihrer Entscheidung, das Kopftuch abzunehmen, beeinflusst haben. Sie verneint: ›Nein, ich war ja zu dem Zeitpunkt überzeugt, dass es das Richtige ist, das Kopftuch zu tragen, daran haben solche Situationen nichts geändert.‹
Woher kommt der Wille, ein Tuch zu tragen, das vor 20 Jahren in Deutschland sicher noch kritischer beäugt wurde als heute? Meine Mutter setzte sich über den Wertemaßstab der Mehrheitsgesellschaft hinweg. Sie war überzeugt, das Kopftuch aus freiem Willen zu tragen. Aber woher kommt ein freier Wille – und ist er wirklich immer frei?
Meine Mutter wurde 1975 als fünftes von acht Kindern im deutschen Odenwald geboren. Ihre Eltern waren Gastarbeiter und Gastarbeiterin aus der Türkei. Beide hatten je eine Arbeitsstelle in einer Fabrik und dazu noch einen zweiten Job, mein Großvater auf einem Bauernhof und meine Großmutter als Putzfrau. Das Familienleben war bunt, durcheinander und laut, so erzählt meine Mutter. Mein Großvater – inspiriert von der Verhaltenskonditionierung Pawlows – ließ sich dafür nicht selten clevere Disziplinierungsmaßnahmen einfallen: Für ein lautes Durch-die-Wohnung-Trampeln musste etwa ein Gebet auswendig gelernt werden. So dass in dem ganzen Trubel doch auch immer eine Ordnung herrschte, eine, die es besser nicht zu hinterfragen galt. Nicht selten übernahmen die älteren Kinder die Verantwortung für die jüngeren, kümmerten sich um den Haushalt, gingen zur Schule und träumten dabei von einem Leben nach dem Elternhaus. Von der eigenen Wohnung, der eigenen Familie und dem eigenen Beruf. Meine Mutter träumte davon, Friseurin zu werden und die Haare anderer Menschen zu frisieren, sie sichtbar schön zu machen.
Auch wenn meine Mutter das religiöse Klima in ihrer Familie als konservativ beschreibt – ihre Mutter musste mit der Ehe das Kopftuch aufsetzen – trugen sie und ihre Geschwister kein Kopftuch. ›Wir haben unsere Ausbildungen gemacht, da hätte uns das Kopftuch im Weg gestanden. Dafür hatte mein Vater Verständnis‹, erzählt meine Mutter, ›aber wenn wir Freunde meines Vaters aus der Moschee besucht haben, mussten wir alle ein Kopftuch tragen.‹ Eine eindeutige Glaubenspraxis war das nicht: Mein Opa war ein konservativer Ausreißer aus einer Familie, die in der Türkei eine sehr liberale bis gar keine Religiosität praktiziert hatte. ›Als Gastarbeiter fand er hier in der Moschee Anschluss zu Menschen, die die gleiche Sprache gesprochen haben. Dort ist mein Vater mit Menschen in Kontakt gekommen, die sehr konservativ bis fundamentalistisch gesinnt waren‹, sagt meine Mutter. Er fand Anschluss an etwas, das ihm Halt zu geben schien; etwas, das ihm in dieser neuen Komplexität in Deutschland plausibel erschien. ›Für eine Haarsträhne, die eine Frau in der Öffentlichkeit zeigt, muss sie 80 Jahre in die Hölle‹, erinnert sich meine Mutter an eines der Dogmen, von denen sie schon als Kind hörte. Gott scheint ein präziser Mathematiker zu sein. Das behaupten zumindest die Prediger, die solche Regeln tradieren. Denn woher diese Berechnungen kommen, weiß niemand so genau. Im Koran stehen sie jedenfalls nicht. Es handelt sich um erfundene Erzählungen und Überlieferungen. Dass ausgerechnet solchen fundamentalistischen Glaubenssätzen jegliches Fundament im Koran fehlt, konnte meine Mutter als Kind noch nicht wissen. Sie musste ihnen damals lauschen: Als Kassetten-Aufnahmen wurden sie in der Moschee verteilt. Ein fremder Mann predigte lauthals aus den Lautsprechern des Kassettenrekorders in ihre Kinderohren.
Ihre Entscheidung, ein Kopftuch zu tragen, kam später und war keine, die aus Angst vor den Qualen in der Hölle gefällt wurde. Meine Mutter lernte meinen Vater, seine Familie und das Umfeld ihrer Moschee kennen. Als sie dann nach der Hochzeit von zu Hause auszog, spürte sie, wie sehr es sie erdrückt hatte, immer von Menschen umgeben zu sein und keinen Raum für die eigenen Gedanken zu haben. ›Es war ein ruhigeres Umfeld‹, erzählt meine Mutter. Das kannte sie aus dem Leben in einer lauten Großfamilie mit sieben Geschwistern nicht. ›Wir redeten viel und tauschten uns untereinander aus.‹ Es war ein anderer Zugang zur Religion, der meiner Mutter plausibler, ein Stück weit auch selbstbestimmter erschien als der auf Verboten und Sanktionen beruhende, den sie aus ihrem Elternhaus kannte. Nicht, weil die Familie meines Vaters in religiöser Hinsicht liberaler war, man könnte sogar sagen, dass sie die Religion viel strikter lebte. Mein Großvater väterlicherseits kam ebenfalls als Gastarbeiter nach Deutschland und auch er fand Anschluss in einer Moschee. Im Gegensatz zu meiner Mutter verbindet mein Vater mit der Zeit, die er als Kind und Jugendlicher in der Moschee verbrachte, positive Erinnerungen: ›Die Moschee war ja nicht nur ein Ort der Religion. Wir hatten dort auch ein Fußballteam, haben Instrumente spielen gelernt und eine Band gegründet.‹ Die Moschee übernahm soziale Aufgaben, für die sich in jener Zeit sonst niemand verantwortlich fühlte. Das bedeutete jedoch zugleich, dass eine Verbindlichkeit dem Glauben, dessen Werten und Institutionen gegenüber entstand.
›Wenn man das Kopftuch anzieht, werden alle Sünden getilgt‹ – so hörte es meine erwachsene Mutter damals von anderen Frauen in der Moschee. Das Kopftuch wurde dort immer mit der Frau und die Frau auch immer mit dem Kopftuch gedacht – und zwar von den Frauen selbst. Dass dieses Zwangsverhältnis auch ein Problem sein könnte, stand nicht zur Debatte. Einen Mann, der ihnen die Pflicht zum Kopftuch auferlegte, brauchte es gar nicht. Es war die Macht der selbst auferlegten Norm, logische Konsequenz aus der eigenen Überzeugung. Es war ein Symbol der Liebe zu Gott – zumindest erschien es meiner Mutter damals so. Deshalb entschied sie 1997, mit 22 Jahren, ein Kopftuch zu tragen.
Wenn wir uns heute Fotos von früher ansehen, erkennen wir die Nuller-Jahre auch am Kleidungsstil einer kopftuchtragenden Frau: die Jeanshosen mit Schlag, die schmalen Sonnenbrillen, die Wickelblusen, mal ein beiges, mal ein graues Kopftuch, mal mit Hose, mal mit Rock. Wenn wir uns heute Fotos von früher ansehen, dann ist es, als ob wir eine andere Person betrachten – und zugleich auch wieder nicht. Meine Mutter betrachtet sich selbst, diese frühere Version ihrer selbst als eine abgeschlossene Person der Vergangenheit. Da ist ein sichtbarer Knick in der Linearität ihres Lebens und ihrer Selbstwahrnehmung, aber zugleich auch eine Kontinuität dessen. Es ist ein ambivalentes Gefühl, denn nur das Kopftuch war meine Mutter nie – aber auch nie nicht das Kopftuch.
›Mit dem Kopftuch hat sich schon einiges verändert‹, erzählt meine Mutter, ›ich hatte oft das Gefühl, dass mich Menschen mit mitleidigen Blicken ansahen.‹ Sie selbst fühlte sich nie Mitleid erregend. Sie ging trotzdem mit meiner Schwester in die Krabbelgruppe, zu den Elternabenden und freundete sich mit den Eltern meiner Schulfreunde oder denen meiner Schwester an. Aber da waren eben auch immer die Bewertungen von außen. ›Bei einem Gespräch mit einer Kindergartenleiterin, es ging eigentlich um deine Schwester, wurde ich gefragt, ob ich Sunnitin oder Schiitin sei und warum ich das Kopftuch trage.‹ Solche Situationen ergaben sich häufig. Situationen, in denen das sogenannte ›Anderssein‹ auf Unverständnis stößt. Situationen, in denen man sich für dieses ›Anderssein‹ rechtfertigen muss. ›Als ich mich bei Friseuren beworben habe, wurde ich oft gefragt, ob ich beim Arbeiten nicht das Kopftuch ausziehen könne.‹ Deswegen arbeitete meine Mutter nicht als Friseurin, sondern in einer Paketfirma am Fließband, in einem Versicherungscallcenter oder als Putzfrau. Dort, wo man das Kopftuch nicht sah.
›»Hast du Krebs?«, hat mich mal ein kleines Kind gefragt, als ich deine Schwester im Kindergarten abgeholt habe‹, erinnert sich meine Mutter. Wir lachen wieder, ›manchmal waren es ganz kleine Momente, die mich zum Nachdenken gebracht haben‹. Sie erzählt von einem Moment beim Mutter-Kind-Turnen, als alle Eltern in einem Kreis standen und sich die Hände geben sollten: ›Ich sollte dann die Hand von dem Mann neben mir nehmen und wir haben beide gezögert, weil wir nicht wussten, wie wir damit umgehen sollen. Da steht eine Frau mit Kopftuch und hält die Hand eines fremden Mannes. Wir haben einander dann doch die Hand gegeben. Ich habe mich nur währenddessen geschämt. Zum einen meinetwegen, aber auch, weil ich gemerkt habe, dass es ihm auch unangenehm war. Im Nachhinein habe ich mich schon gefragt, warum man nicht einfach locker und befreit sein kann.‹
An einen bestimmten Punkt des Bruchs mit dem bisher Geglaubten kann sich meine Mutter heute nicht mehr erinnern. Viel eher war es ein langsamer Prozess über Jahre. Meine Eltern, die jüngere Schwester meiner Mutter, ihr Ehemann und Freunde von ihnen begannen sich mehr und mehr mit ihrem Glauben auseinanderzusetzen. Sie hinterfragten das, was sie jahrelang gelernt und wonach sie ihr Leben ausgerichtet hatten. ›Wir haben versucht, die Religion mit dem Koran und nur mit diesem zu verstehen, und nicht über das, was andere aus den Hadithen predigen.‹ Diese Haltung nennt man im islamwissenschaftlichen Kontext auch Koranismus. Die Hadithe sind Schriften und Überlieferungen, die in mehr oder minder langen Zeitabständen nach dem Leben des Propheten Mohammed verfasst wurden. Oft beanspruchen sie für sich, das wiederzugeben, was der Prophet gesagt habe. Überprüft werden kann das freilich nicht. Die Hadithe erhielten in ihrer jahrhundertelangen Wiederholung Traditionsstatus. Der Koranismus übt Kritik an diesen Überlieferungen und behauptet, dass die Hadithe Erinnerungsfehlern und politischen Agenden der Zeit, in der sie veröffentlicht wurden, unterliegen. Solche das Kopftuch betreffende Hadithe erzeugten dadurch eine zunehmend politisierte Geschlechtertrennung. Das Kopftuch selbst erhielt damit eine neue Dimension, die es nicht immer gehabt hatte. Zu Zeiten des Propheten Mohammed verschleierten sich Frauen aus betuchtem Haus, es war ein Zeichen des Wohlstands. Aber auch darüber hinaus ist die Kulturgeschichte des Schleiers in den verschiedenen muslimischen Ländern bis heute eine vielfältige, die über ein bloßes religiöses Gebot hinausgeht.
Einen Vertreter des Koranismus, den türkischen Philosophen und Religionswissenschaftler Caner Taslaman, bezogen meine Eltern neben der Auseinandersetzung mit dem Koran auch als Informationsquelle ein. ›Wir sind immer mehr darauf gekommen, dass viele Dinge, die wir gelernt haben und die uns beigebracht wurden, eigentlich in der Form nicht existieren.‹ So auch das Kopftuch. Im Koran stehe eben nirgendwo explizit, dass Frauen ihre Haare verdecken müssen. ›Mir kam es irgendwann seltsam vor, dass man sein Leben nach dem ausrichtet, was Menschen vor tausenden von Jahren behaupten, dass der Prophet gesagt habe. Man kann so gesehen nicht prüfen, ob das wirklich stimmt.‹ Trotzdem haben die Hadithe bis heute einen wichtigen Stellenwert in der religiösen Praxis vieler Musliminnen und Muslime, da sie normativen Charakter haben: Sie geben vor, was man tun sollte und was nicht. Zum einen erleichtern sie es, die wesentlichen Fragen zu umgehen und dabei eine scheinbare Ordnung zu schaffen, zum anderen machen sie einen auch fremdbestimmt.
Das Ablegen des Kopftuches war für meine Mutter die logische Konsequenz aus einem neuen Verständnis ihres Glaubens. Und so entschied sie sich 2016, mit 41 Jahren, ihr Kopftuch nach 19 Jahren nicht mehr zu tragen.
Das ist jedenfalls die rückblickende Einordnung ihrer Entwicklung, die sich fast einfach anhört. Wieso tragen so viele Frauen dann eigentlich ein Kopftuch? Es ist ein Teil der Identität, die man sichtbar nach außen trägt. Sie macht aus, wie Menschen einen wahrnehmen und wie man sich selbst wahrnimmt. Soziale Prägungen abzulegen, passiert nicht von heute auf morgen. ›Erst als ich das Kopftuch ausgezogen habe, habe ich gemerkt, dass viele Erwartungen von außen an mich gestellt wurden‹, erinnert sich meine Mutter. ›Anfangs habe ich das Kopftuch je nach Anlass noch getragen. Wenn ich beispielsweise in die Stadt gefahren bin, wo ich wusste, ich könnte Menschen aus der Moschee über den Weg laufen.‹ Fragen, wie sie die anderen wohl wahrnehmen würden, umkreisten ihre Gedanken mehr als zuvor: Bin ich jetzt eine schlechte Muslima? Kehre ich mich von meinem Glauben ab?
›Wenn ich nur mich betrachte, dann war es einfach nur befreiend‹, erinnert sich meine Mutter. Der Alltag gestaltet sich seither viel unkomplizierter. ›Wenn ich mal runter zum Briefkasten wollte, musste ich jetzt nicht mehr das Kopftuch anziehen, oder wenn jemand an der Tür klingelt, konnte ich einfach die Tür aufmachen, ohne hektisch mein Kopftuch zu suchen.‹
Die Erleichterung wurde jedoch abermals von äußeren Einflüssen getrübt. ›Als ich dann das erste Mal ohne Kopftuch bei einem Elternabend war, haben mich alle etwas verwirrt angeschaut. Auch unsere alevitische Nachbarin stand dem Kopftuch von Anfang an kritisch gegenüber. Als ich es dann abgelegt habe, hieß es: »Das habe ich dir doch von Anfang an gesagt.«‹ Es herrschte also immer noch ein Rechtfertigungszwang. Von allen Seiten wurden eigene Ansichten auf das Tuch und seine Trägerin projiziert, auch noch, nachdem es gar nicht mehr auf ihrem Kopf war. Was dabei oft ausblieb, war eine menschliche Begegnung, die darüber hinausgeht.
›Meine Schwester und ich haben das Kopftuch gemeinsam abgelegt, viel darüber geredet und uns gegenseitig bestärkt‹, erzählt meine Mutter. Das war für sie auch ein entscheidender Aspekt: den Prozess nicht allein durchzumachen und Unterstützung zu erhalten. ›Auch, wenn niemand aktiv was dagegen gesagt hat, haben sich manche Freunde aus der Moschee einfach nicht mehr bei mir gemeldet. Wahrscheinlich hat es sich herumgesprochen.‹
Ich frage sie, ob sie es bereue, das Kopftuch abgelegt zu haben. Sie antwortet: ›Auf keinen Fall. Es war eine der wichtigsten Entscheidungen für mich.‹ In diesem Prozess hat auch mein Vater seine Vorstellungen von meiner Mutter an ihre eigenen anpassen müssen: ›Schlussendlich war es aber die Entscheidung deiner Mutter. Sie muss wissen, was für sie das Beste ist‹, sagt er heute. Sein Vater, der mittlerweile wieder in der Türkei lebt, weiß jedoch bis heute nichts von der Entscheidung seiner Schwiegertochter.
Ich frage meine Mutter, ob sie es bereue, das Kopftuch so lange getragen zu haben. ›Ich denke schon darüber nach, wie mein Leben gewesen wäre. Viele Erfahrungen konnte ich nicht sammeln‹, antwortet sie und fügt noch hinzu: ›Ich versuche aber, nicht allzu sehr darüber zu grübeln. Es war nun mal so, dass ich es damals nicht besser wusste.‹ Das heiße keineswegs, dass es nicht auch schöne 20 Jahre waren. Sie seien nur anders gewesen. Für meine Mutter startete mit dem Ablegen des Kopftuches auch ein verspäteter Prozess, den sie lange nicht wahrnehmen konnte: ihren eigenen Körper kennenzulernen. Vieles war und ist bis heute noch mit Scham behaftet. ›Ein T-Shirt in der Öffentlichkeit zu tragen, löste lange Zeit noch ein Gefühl von Scham aus.‹ Nach dem gedanklichen Prozess des Entschleierns folgte erst nach und nach der körperliche Prozess in der Umsetzung dieser neuen Ansichten.
Mit dem Ablegen des Kopftuches hat sich für sie einiges verändert, aber es war nicht das Tuch, das die Veränderung auslöste. Schlussendlich war das Ablegen des Kopftuches eine sichtbare Konsequenz der vorangegangenen innerlichen Entwicklung. Diese Entwicklung war ein Perspektivwechsel auf den eigenen Glauben, ein Hinterfragen, ein Aufbegehren. Es war kein lauter, schriller oder extremer Wandel. Es war eine Revolution von innen heraus, keine Abkehr vom Glauben, sondern eine Transformation mit ihm. Und das kann genauso auch mit einem Kopftuch geschehen. Meine Mutter entschied sich gegen das Tuch, aber trotzdem für ihren Glauben, den sie heute ganz einfach so beschreibt: ›Ich habe genug davon, über Religion zu reden. Die Menschen haben leider alles so kompliziert gemacht. Für mich bedeutet mein Glaube: glücklich zu sein und das Leben zu genießen. Wieso soll ich mir das Leben von anderen schwer machen lassen?‹
Die Kopftücher hat meine Mutter im Kleiderschrank von oben in eine Schublade nach unten geräumt. Fast schon sinnbildlich steht diese neue Ordnung im Schrank auch für eine neue Ordnung in ihrem Leben. Denn schlussendlich hat meine Mutter mehr verändert als nur ihr eigenes Erscheinungsbild. Indem sie das Kopftuch ablegte, hat sie darüber hinaus ihren Mut zur Veränderung bewiesen. •