Das stille Adieu
Warum sich bei jeder Wahl ein Teil der Menschen von der Gesellschaft verabschiedet.
Österreich ist eine demokratische Republik‹, heißt es im ersten Satz der Verfassung. ›Ihr Recht geht vom Volk aus‹, lautet der zweite. Doch was, wenn einem dieses Volk suspekt wird? Oder es schon immer war, weil es sich Wahl um Wahl immer mehr um jene politischen Vertreter versammelt hat, die auf den ersten Satz pfeifen?
Nach jeder Wahl in Österreich gibt es für einige einen Moment der innerlichen Verabschiedung aus diesem Land. Ein gewisses: Es ist halt so, sie sind halt so – und sie haben nichts mit mir zu tun, ciao. Auch nach dieser Wahl wird sich dieses Gefühl vermutlich breitmachen. Dieses unausgesprochene Adieu an eine Gesellschaft, die an der Wahlurne nicht brandmauern kann.
Zu Redaktionsschluss stand das Ergebnis der Nationalratswahlen nicht fest. Dennoch geht die Realistin, die diese Kolumne schreibt, davon aus, dass es die FPÖ auf Platz 1 geschafft hat (trotz Hochwasserkatastrophe und neu-bekehrten Renaturierungsbefürwortern). Die Optimistin hofft, dass sie unter 30 Prozent liegt, auch um sich eine bittere Wahrheit nicht eingestehen zu müssen: jede dritte Person – und mehr.
Zu Beginn der eigenen Politisierung war ich noch schockiert, gar angeekelt, als ich zum ersten Mal registrierte, wie sehr die Wahlurne als Ventil für die Verachtung anderer – und in Wahrheit auch sich selbst gegenüber – dient. Damals versuchte ich noch die Erklärungen der Politologinnen für dieses Verhalten zu studieren. Nickte bei den Worten Protest, Angst und Unzufriedenheit. Ansonsten wollte ich glauben, dass Wahlberechtigte auf Grundlage ausführlicher Recherche abwägen, wen sie wählen, wer sie vertreten soll und ihre Zukunft – wenn sie Glück haben, nur temporär – bestimmt. Entzückend, diese Naivität. Dieses Vertrauen in die Rationalität der eigenen Gesellschaft, in die Mitbürgerinnen.
Als würden sie nicht seit Jahrzehnten immer nur auf das eine ›Thema‹ anspringen, weil es nun mal ›dominiert‹. Das Thema, das von Politik und Medien – und im Wahlkampf wie auf Steroiden – permanent bewirtschaftet und als Ursache für jede Malaise herangezogen wird. Weil es als Ursache ohne Weiteres offenbar immer herangezogen werden kann. (Ich warte ja immer noch auf den Moment, wenn Migrantinnen und Geflüchtete hierzulande für Überschwemmungen, Hochwasser und Dürre verantwortlich gemacht werden. Vermutlich werden sie das bereits von irgendeinem Kommentator in einem Besorgten-Bürgern-sagen-was-man-nicht-sagen-darf-Medium.)
Werden die anderen Parteien bei dem erwarteten Wahlergebnis miteinander ringen um eine demokratische Front, wie sie es derzeit in den ostdeutschen Bundesländern nach den Zugewinnen der AfD tun? Einen Schulterschluss der ›antifaschistischen Kräfte‹ hat man es in den deutschen Diskussionssendungen genannt. Selbst die Vertreterin der CDU, jener Partei, an der sich die ›Brandmauer‹ beweisen wird müssen, hat eifrig genickt bei dem Label ›Antifaschistin‹.
In Österreich hat man es nicht so mit Brandmauern. Hier liegt die Vermutung nahe, dass sich die ÖVP eher an dem mittlerweile geschassten Kollegen der französischen Konservativen, Éric Ciotti, ein Vorbild nehmen wird. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni plädierte der damalige Parteivorsitzende für eine Allianz mit dem rechtsextremen Rassemblement National. Mit der Begründung: ›Wir sagen die gleichen Dinge, also hören wir auf, uns einen erfundenen Gegensatz auszudenken.‹ Erfrischend, diese Ehrlichkeit. Und irgendwo auch konsequent, wenn nach ihr gehandelt wird. Leider. Adieu! •