Die Vermessung des Leids
Das Regime von Baschar al-Assad lässt in Syrien seit Jahren systematisch foltern. Manche der Opfer konnten sich nach Österreich retten – und machen sich hier auf die Suche nach Gerechtigkeit.
Josef war noch ein Kind, als der Krieg in Syrien begann. Wenn er aber in Aleppo an Demonstrationen gegen das Assad-Regime teilnahm, wenn er dazu heimlich Einladungen auf viele kleine Zettelchen schrieb, sie zusammenrollte und in seiner Schule verstreute, dann fühlte er sich wie ein Held. Dann hatte der damals zwölfjährige Bub das Gefühl, etwas bewegen zu können. Er fühlte sich als Teil eines friedlichen Umschwungs, aus dem ein Syrien der Freiheit und Demokratie hervorgehen würde.
›Heute, nach zehn Jahren Krieg, hört sich das lächerlich an, ich weiß ‹, sagt Josef, der wirklich so heißt und gar nicht will, dass sein Name anonymisiert wird. Für ihn ist es nicht nur sein eigener, sondern auch der Name eines Propheten – vor allem aber der seines verstorbenen Großvaters. Der alte Josef war ein reicher, angesehener Mann gewesen, dessen Familie Privilegien genoss. Doch selbst er konnte nicht verhindern, dass sein Enkelsohn bis zu dessen 15. Lebensjahr in Summe dreimal verhaftet wurde und noch vor seiner Volljährigkeit erfuhr, was es bedeutet, gefoltert und misshandelt zu werden.
Josef ist inzwischen ein 22-jähriger Mann mit großen, grünen Augen und Sommersprossen auf den Wangen. Einer, der die Jeansjacke lässig mit Kapuzenpulli kombiniert, dazu weiße Sneakers trägt und dessen dunkle Locken frech in die Stirn hängen. Josef lebt in Österreich und arbeitet als Küchenchef. Eines Tages will er sein eigenes Restaurant eröffnen, sagt er, und einen Teil des Gewinns will er dann an Menschen spenden, die hungern müssen. Dass die Ereignisse in syrischer Gefangenschaft ihn noch heute nachts in Albträumen verfolgen, kaschiert Josef gekonnt mit seinem breiten, strahlenden Lächeln.
In Österreich erhielt Josef 2015 in Form von Asyl Schutz und Freiheit, doch er sehnt sich auch nach Gerechtigkeit. › Wenn diese Leute ungestraft davonkommen ‹, sagt er und spricht von den syrischen Folterern, von Mitgliedern des Assad-Regimes, › dann ist diese Menschheit eine Lüge für mich ‹. Aus diesem Grund erzählte er seine Geschichte vor drei Jahren einer Anwältin : Tatiana Urdaneta Wittek.
Urdaneta Wittek lebt in der Nähe von Wien und hat familiäre Wurzeln in Frankreich, Österreich, Deutschland und Venezuela. Das Interesse am internationalen Geschehen wurde ihr in die Wiege gelegt – schon als Teenager beschloss sie, ihren eigenen Beitrag zum Weltfrieden leisten zu wollen. Heute ist sie Expertin für Menschenrechte und Völkerstrafrecht und Mitbegründerin des › Centre for the Enforcement of Human Rights International ‹ (CEHRI), einer NGO, die Menschenrechten zur Wirkung verhelfen will. Was Josef in Syrien angetan wurde, hat Urdaneta Wittek zu Papier gebracht. Sie schrieb von den Schlägen, den Elektroschocks und dem geschmolzenen Plastik, das Josef auf die Beine getropft wurde.
Und dann schrieb sie die Schilderungen 15 weiterer Folteropfer nieder : Eine junge Frau, die als damals 16-Jährige selbst schwer gefoltert wurde, erzählte ihr von dem einen Mal, als sie ein gleichaltriges Mädchen aufgrund schwerer Folter und Vergewaltigung sterben sah. Ein Mann berichtete davon, mit etwa 60 Männern in einer vier mal sechs Meter kleinen Zelle ohne Tageslicht eingepfercht gewesen zu sein. Davon, dass Schlafen nur im Schichtrhythmus möglich war : 50 Personen mussten stehen, während die anderen versuchten, in der Hocke zu schlafen. Ein anderer Mann erzählte, er sei in einen Raum gebracht worden, in dem Frauen an der Decke aufgehängt waren. Dasselbe könne mit seiner Frau und seiner Tochter geschehen, sollte er nicht gestehen, hätten die Wächter damals gedroht. Tage und Nächte saßen das Team rund um Tatiana Urdaneta Wittek sowie die Mitglieder dreier weiterer NGOs an ihren Schreibtischen und schrieben all das nieder. Am 28. Mai 2018 reichte CEHRI das Geschriebene in Form einer 109-seitigen Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Wien ein.
Diese Anzeige richtet sich gegen 24 hochrangige Funktionäre der Regierung unter Präsident Baschar al-Assad. Die Vorwürfe der 16 Betroffenen wiegen schwer : Folter als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen in Haftanstalten syrischer Geheimdienste. Die angezeigten Taten wurden in Haftanstalten in Damaskus, Daraa, Hama und Aleppo begangen – also allesamt in Syrien. Was hat diese Strafanzeige also am Tisch eines österreichischen Staatsanwalts verloren ?
›Menschenrechtsverbrechen sind stets Verbrechen gegen das geltende Völkerrecht und verletzen somit die Interessen der Völkergemeinschaft als Ganzes ‹, sagt Tatiana Urdaneta Wittek. Sie bezieht sich auf das sogenannte Weltrechtsprinzip, das sie als › anerkanntes, völkergewohnheitsrechtliches Prinzip für ganz bestimmte Verbrechen wie Kriegsverbrechen, Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit ‹ beschreibt. Der Grundgedanke dahinter : Manche Verbrechen sind derart grauenvoll, dass sie in jedem beliebigen Land geahndet werden können – unabhängig davon, wo die Taten verübt wurden. Österreich hat diesen völkerrechtlichen Anspruch im § 64 StGB umgesetzt. Die aktuelle gesetzliche Regelung gilt unter anderem für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Völkermord, das Verschwindenlassen von Personen – und eben Folter.
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