Editorial November 2019
Liebe Leserin, lieber Leser,
unser Datenredakteur Vanja Ivancevic wurde am 5. Mai 1986 geboren, neun Tage nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. Die ersten sechs Monate seines Lebens ging seine Mutter nicht außer Haus mit ihm, sie aß nur Konserven.
Angesprochen auf den theoretischen Fall, dass alle fünf Kühlsysteme, die im slowakischen Atomkraftwerk Mochovce jeweils dreifach vorhanden sind, ausfallen könnten, reagiert der dortige Pressesprecher mit : Lachen.
Diese beiden Begebenheiten, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, umfassen den Konflikt hinter unserer Titelgeschichte › Mochovce und wir ‹ recht anschaulich.
Nach 36 Jahren Bauzeit soll Ende des Jahres ein neuer Reaktor ans Netz gehen. Die Tatsache, dass Atomkraft vor dem Hintergrund der Klimakrise eine Renaissance erfahren könnte, haben unsere Reporterinnen Clara Porak und Laura Fischer zum Anlass genommen, um nach Mochovce zu fahren und die andere, die slowakische Seite des Konflikts zu erzählen.
Beinah egal, auf welches Thema wir in diesem Spätherbst schauen, als Bürger, als Konsumentinnen, als Journalisten, wir sehen die Klimakrise daraus hervorragen. Ist das manisch oder schon panisch ? Nein, muss antworten, wer sich mit den Fakten auseinandersetzt : Die Klimakrise nicht nur als Krise von Flora und Fauna, sondern als Querschnittskrise unserer Gesellschaft, unserer Wirtschaft, unserer Politik zu erachten, ist realistisch und geboten.
Die Klimakrise ist, so drückte das die britische Tageszeitung The Guardian jüngst aus, das bestimmende Thema unserer Zeit. Und so kommen die großen wie die kleinen journalistischen Recherchen und Erzählungen unserer Zeit nicht darum herum. Bloß ist niemandem geholfen, wenn diese Auseinandersetzung im Dunkelton des Untergangs passiert.
Ja, wir alle sind Teil des Problems, als Einzelne, als Gesellschaft, als Unternehmen, als ganze Staatengebilde und Wirtschaftssysteme. Doch ebenso können wir Teil der Lösung sein. Die Krise als Chance, man verschone Sie mit Yuppie-Floskeln ? Verständlich. Bloß : Es ist genau so. Wenn wir diese existenzielle Krise nicht als Chance begreifen, wie das unsere Kollegin Clara Porak argumentiert (S. 34), was sollen wir denn dann sonst damit tun ? Sie leugnen ? Davor resignieren ? Einfach ignorieren ?
Die Chance besteht darin, uns selbst, unsere Verhältnisse zu befragen, um aus den Antworten Handlungsoptionen abzuleiten, die über Verzicht, Gejammer und Relativierung hinausgehen. Wir versuchen eben das.
Katharina Kropshofer hat sich auf der Suche nach Alternativen zu Beton – wäre die Betonindustrie ein Land, hätte es die höchsten CO2-Emissionen hinter den USA und China – mit dem Baustoff Lehm auseinandergesetzt (S. 64).
Emilia Garbsch hat eine Studentin und ihre Großmutter begleitet, beide sind Mitglieder der radikalen Klimabewegung Extinction Rebellion, die als Mischung aus Selbsthilfegruppe und Achtsamkeitsworkshop funktioniert (S. 26).
Und Helmut Spudich reflektierte auf seiner Reise in die Antarktis über den Zusammenhang von Fernreisen und Naturerleben auf der einen sowie Massentourismus und Ökoflurschaden auf der anderen Seite (S. 70).
Es gehört zu den ureigensten Aufgaben des Journalismus, die Fakten für einen historischen Prozess wie den Umgang mit der Klimakrise aufzubereiten. Als Journalistinnen, als Journalisten verstehen wir es als unser Privileg und unsere Pflicht, diese Verantwortung wahrzunehmen.
In diesem Sinn wünsche ich Ihnen neue Perspektiven bei der Lektüre
der Seiten der Zeit.
Ihr Stefan Apfl
stefan.apfl@datum.at