Editorial Oktober 2020
Moria und die Ohnmacht
Die Macht liebt das Bild. Und sie weiß es zu nutzen. Ein überdimensioniertes Frachtflugzeug, die Laderampe öffnet sich. Zu sehen sind Paletten mit Zelten, mit der Österreich-Flagge versehen, daneben der Innenminister mit aufgekrempelten Hemdsärmeln und selbstzufriedenem Abenteurerblick. Eigenhändig bringt er Hilfe nach Griechenland. Der Boulevard jauchzt. Macht ist geil und klickt gut.
Die Ohnmacht hat diese Bilder nicht. Sie entlädt sich – wenn überhaupt – in empörten Facebook-Postings, in denen die Aufnahme von Menschen in Moria gefordert wird, in überschaubaren Demonstrationen oder in Texten wie diesem. Meistens aber wirkt die Ohnmacht im Stillen, nach innen, verschämt, verbittert und, so gut es geht, verdrängt.
Ohnmacht ist nicht geil, das weiß auch der Boulevard. Sie ist ein eigentlich unerträgliches Gefühl, keines, das man gern nach außen zur Schau stellt, keines, mit dem man überhaupt in Verbindung gebracht werden will. Die Ohnmacht ist die beste Freundin der Scham – wo die eine ist, ist die andere nicht weit.
Wenn es die Macht besonders perfide treiben will, dann macht sie sich die Ohnmacht zu eigen und nutzt sie als Ausrede. Wir können nicht allen Kindern auf der Welt helfen. Also können wir auch den Kindern von Moria nicht helfen. Da sind wir machtlos. Woran man erkennt, dass dies eine pervertierte Form der Ohnmacht ist? Sie ist in der Art, wie sie vorgetragen wird, frei von jeglicher Scham – schlicht und ergreifend schamlos. Die Hilfsbereiten – Familien, Vereine, ganze Gemeinden oder der Regierungspartner – werden zwangsverohnmächtigt.
Doch auch die Ohnmacht bahnt sich ihren Weg. Der führt entweder in den finsteren Keller der Resignation, wo es sich die Ohnmacht gern bei Kerzenschein mit einem weiteren Freund, dem Zynismus, gemütlich macht. Der Zynismus ist wie ein alter Saufkumpan. Tief drinnen weiß man, dass der Kontakt mit ihm auf Dauer nicht gesund und schon gar nicht heilsam ist, aber für heute ist es gut.
Die Ohnmacht findet aber auch andere Wege, zum Beispiel den der Radikalisierung und der Eskalation. Es ist ein gefährliches Terrain, weil die Ohnmächtigen dort Gefahr laufen, jedwede Sympathie zu verlieren. Das gilt für Klimaaktivistinnen genauso wie für Menschen, die jahrelang in grauenhaften Lagern festsitzen. Die Ohnmacht hat brav und verschämt zu sein. Protest? Na meinetwegen, aber bitte nicht stören!
Wie wir mit Ohnmacht umgehen lernen, wie wir sie von der Scham trennen, wird darüber entscheiden, wie wir als Individuen und als Gesellschaft die Herausforderungen, die vor uns liegen, bewältigen. Ohne zu resignieren, ohne zynisch oder gewalttätig zu werden.
Liebe Leserinnen und Leser, dem Impuls unseres Gastkurators, Marc Elsberg, folgend, haben wir uns in dieser Ausgabe von DATUM schwerpunktmäßig mit Macht und Ohnmacht auseinandergesetzt. Das war eine herausfordernde Übung, bei der wir viel gelernt haben. Ich hoffe, Sie finden Gefallen an dem
Ergebnis und haben viel Freude mit den Seiten der Zeit! •
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