Editorial Oktober 2021
In Zeiten kollektiver Bedrohung muss eine Gesellschaft ihre Bürger und Bürgerinnen auch in die Pflicht nehmen können. Wir sollten Corona als vielleicht letzte Chance sehen, das zu üben. Alles andere wäre angesichts der Erderhitzung und ihrer Folgen fatal.
Pflicht und Freiheit
Liebe Leserinnen und Leser !
Die Pandemie führt uns jetzt schon seit eineinhalb Jahren vor Augen, welch paradoxen Zugang wir bisweilen zur Freiheit haben. Das war schon in der ersten Phase so, als wir es inmitten umfassend beschränkter Grundfreiheiten unterließen, uns die Digitalisierung und die Vernetzbarkeit unserer Smartphones zunutze zu machen. Die Möglichkeiten des Contact-Tracings übers Handy mit der › Stopp Corona App ‹ des Roten Kreuzes wurden zwar frühzeitig erkannt, die App allerdings dermaßen zurückhaltend, fast beschämt zum Einsatz gebracht, dass sie nutzlos war. Die datenschutzrechtliche Skepsis, das damit verbundene Misstrauen in den Staat, der unsere digitalen Spuren anonymisiert (!) speichert und mit jenen anderer Menschen kreuzt, um dem Infektionsgeschehen Herr zu werden, war so groß, dass sich die Politik nicht einmal die Mühe machte, uns davon zu überzeugen.
Das muss man sich einmal vorstellen: Wir nehmen die massive Beschränkung von Grundrechten wie Erwerbs-, Reise- oder Versammlungsfreiheit zur Kenntnis, verweigern aber gleichzeitig eine zeitlich befristete und von Datenschützern abgenickte Maßnahme, die unser Recht auf Datenschutz berührt. Die Krönung dieser paradoxen Verweigerung: Jeden Tag, jede Sekunde füttern wir die Internetkonzerne mit Daten, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken.
In der aktuellen Phase der Pandemie legen wir wieder ein bemerkenswertes Selbstverständnis zu Freiheit und Pflicht an den Tag. Die rettende Impfung ist da, im Überfluss sogar. Alle gemeinsam könnten wir die Pandemie innerhalb von wenigen Wochen beenden. Und zwar tatsächlich beenden, nicht schlampig für beendet erklären, wie es der Bundeskanzler gerne tut. Aber nein, wir stehen zu Redaktionsschluss bei einer Impfquote von knapp 60 Prozent – zu wenig, um den Infektionstreiber Delta-Variante in den Griff zu bekommen. Wie wir damit umgehen, zeigt neuerlich, wie weit wir von einer reifen Gesellschaft entfernt sind. Die Verachtung für Nichtgeimpfte steigt. Als seien sie allesamt gemeingefährliche Staatsverweigerer, denen im Fall des Falles das Intensivbett entzogen gehört.
Umgekehrt fühlen sich Nichtgeimpfte in die Enge gedrängt und reagieren wie trotzige Kinder. Es sei eine Stärke unserer Gesellschaft, keine Impfpflicht zu verhängen, es bedeute, dass wir die Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen – so beschreibt es die Philosophin Herlinde Pauer-Studer im DATUM-Gespräch auf Seite 38 dieser Ausgabe.
Das ist zweifellos richtig, doch muss eine Gesellschaft, die ihre Bürgerinnen und Bürger ernst nimmt, diese angesichts einer kollektiven Bedrohung auch in die Pflicht nehmen können. In die Pflicht nehmen bedeutet nicht automatisch zwingen. Eine klar artikulierte moralisch-gesellschaftliche Pflicht, beim Impfprogramm mitzumachen, bedeutet nicht, dass die Polizei mit der Spritze vor der Tür steht. Es bedeutet aber sehr wohl, dass dem Einzelnen klar gemacht wird, dass er in dieser Pflicht steht, solange keine individuellen medizinischen Gründe dagegensprechen. Zum In-die-Pflicht-Nehmen gehört auch die direkte Ansprache – so wie ich als Wahlberechtiger vor jeder Wahl ein offizielles Schreiben mit dem Termin und meinem Wahllokal bekomme. Ein solches Schreiben wäre das Kernstück einer aktivierenden Impfkampagne gewesen.
Wir dürfen uns über die Frage, wie wir uns selbst in die Pflicht nehmen, nicht hinwegschwindeln. Das wäre angesichts der noch tausendfach größeren kollektiven Bedrohung, der wir uns durch die Erhitzung der Erde und ihrer Folgen ausgesetzt haben, fatal. Auch diese Bedrohung lässt sich nur dann abwenden, wenn wir als Kollektiv agieren. Wir sollten Corona als Chance sehen, genau das zu üben. Es ist wahrscheinlich unsere letzte. •
Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre!
Ihr Sebastian Loudon