Editorial von Kurator Martin Thür
Feiern wir das Wissen !
Man muss zwei Schritte zurückgehen, um die atemberaubende Geschwindigkeit der Wissenschaft angemessen zu würdigen. Ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie sind drei Impfstoffe bereits zugelassen und genaue Behandlungsprotokolle für alle Alters- und Risikogruppen in Anwendung. War es in Camus’ › Die Pest ‹ – der Roman spielt im Algerien der 1940er-Jahre – noch die Anzahl der toten Ratten am Hotelflur, die eine heranziehende Welle ankündigte, gibt es nun praktisch täglich weltweit einen Überblick über das Infektionsgeschehen. Und obwohl mehr als 100.000 Publikationen zum neuen Coronavirus erschienen sind, ist es nicht so, als gäbe es keine andere Forschung. Gerade einmal vier Prozent aller wissenschaftlichen Publikationen hatten vergangenes Jahr einen Bezug zu Covid-19, wie Nature Ende 2020 berichtet.
Es geht noch irrer : Nur 48 Stunden haben Wissenschafter*innen beim US-amerikanischen Impfstoffhersteller Moderna gebraucht, um ihr Covid-19-Vakzin zu entwickeln beziehungsweise zu programmieren. Die US-amerikanischen Behörden hatten den genetischen Code des Spike-Proteins in einem Word-File geschickt, bei Moderna wurde daraus innerhalb weniger Stunden jener mRNA-Impfstoff, der nun weltweit Leben rettet.
Wir wurden in der Pandemie alle ein bisschen zu Datengeeks, können plötzlich exponentielles Wachstum von linearem unterscheiden. Die Wortfolge ›monoklonale Antikörper‹ wäre bei Unterhaltungen auf Partys nur deshalb überraschend, weil es keine Partys geben darf. Wir haben Nerds in diesem Jahr sehr zu schätzen gelernt.
In dieser Ausgabe wollen wir all jenen folgen, die das Wissen feiern, oft zum Vorteil aller, hin und wieder aber auch zum Selbstzweck. Wir wollen erfahren, wie wir mit Wissen in der Pandemie umgegangen sind. Wir lassen Wissenschafter*innen über Themen sprechen, zu denen sie sonst nicht gefragt werden und denen wir uns trotzdem widmen sollten. Und wir verfolgen den Kampf um die Deutungshoheit in der modernen Welt. Da außerdem alle nur über Experten sprechen, die Politiker werden, verfolgen wir einen Politiker, dem nun sehr viel Expertentum abverlangt wird.
Dann ist da noch das Poster, das Sie sicher schon bemerkt haben. Seit Jahren vermesse ich selbst die österreichische Innenpolitik in mal mehr, mal weniger bedeutenden Tabellen (Sebastian Kurz war 7,42 Prozent seines Lebens Bundeskanzler). Eine davon wollen wir mit Ihnen teilen. Darauf finden Sie jede einzelne der immerhin 296.409.143 abgege-
benen Stimmen bei Wahlen auf Bundes- oder Landesebene, bei Volksabstimmungen und Volksbefragungen seit 1945. Aufstieg und Fall österreichischer Parteien, die gesamte Geschichte österreichischer Innenpolitik kondensiert auf 196 Urnengänge. Mein Tipp : Achten Sie auch auf die Kleinparteien, Die ›Parlamentarische Vertretung der Wahlverhinderten, Nichtwähler und ungültigen Stimmen in Österreich‹ hat 1956 sieben Stimmen erreicht. Sieben gültige. Erfolg oder Misserfolg ? Was meinen Sie ?
Ich hoffe, diese DATUM-Ausgabe regt Ihr Wissen an. In diesem Sinne auch vielen Dank für die Einladung zur Mitarbeit an das DATUM-Team. •
Ihnen wünsche ich viel Vergnügen bei der Lektüre !
Ihr Martin Thür
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