Für ein geschrumpftes Ich
Ein frommer Wunsch vor den Feiertagen.
In der November-Ausgabe von DATUM habe ich meine Erfahrungen als Städterin in der österreichischen Provinz geteilt, ohne einen wichtigen Aspekt etwas genauer auszuschildern. Provinz und Urbanität sind für mich keine Fragen der lokalen Verortung, sondern welche der inneren Haltung. Man kann im entlegensten Kaff leben und trotzdem die größte Kosmopolitin sein und ebenso in der lebendigsten Großstadt und wie ein Landei denken und handeln.
Auch ich mutiere mit zunehmendem Alter immer mehr und gegen meinen Willen zu Letzterem. Dafür mache ich den eigenen Tunnelblick verantwortlich, der durch mangelnde geistige wie tatsächliche Mobilität enger und enger wird. Er verdummt, verarmt und macht reizbar. Weil er zur permanenten Nabelschau verdammt. Weil er vergessen lässt, dass es auf der Welt in anderen Ländern, anderen Städten ganz andere Diskurse gibt, andere Referenzrahmen, andere Ikonen und andere Vorbilder gibt als jene, die wir täglich, in Wien, in Österreich, in Europa, im ›Westen‹ als relevant erachten, auf ein Podest heben oder dämonisieren. Dieser Tunnelblick hysterisiert.
Weil er sich im Detail des ewig Gleichen verheddert. Als wäre man in einer Endlosschleife von Diskursen, Figuren, Problemen und Problemchen. Und um nicht in die Lethargie eines Täglich-grüßt-das-Murmeltier-Gefühls zu verfallen, beginnen wir uns neurotisch an diesem ewig Gleichen zu reiben, privat wie öffentlich, politisch wie kulturell.
Da der deutschsprachige Raum in Sachen Veränderung und Diversität die Beweglichkeit der katholischen Kirche aufweist – außer natürlich im Niedriglohnsektor, bei Berufen und Themenfeldern, die weder Geld noch Prestige bringen – bleibt den Bürgerinnen, Lesern und Zuseherinnen für ihren Intellekt und ihre Herzensbildung nicht viel mehr, als diese Neurosen zu pflegen. Daher ist es vielleicht ein frommer Weihnachts- und Neujahrswunsch an jeden Einzelnen, die eigene Provinzialität abzustreifen und das ewig Gleiche hinter sich zu lassen, egal wie sehr es einen von allen Seiten belästigt. Die Extrameile zu gehen. Auf der Couch zum Beispiel, beim Netflix-Schauen.
Nicht wieder eine synchronisierte US-Serie zu streamen, sondern vielleicht mal den südkoreanischen Arthouse-Film mit den Untertiteln anzusehen, wo man so mühsam mitlesen muss, die südafrikanische Serie, das libanesische Melodram, nur, um ein wenig etwas von woanders mitzubekommen, eine andere Sprache zu hören, eine andere Ästhetik zu sehen, einen anderen Wertekatalog. Oder vielleicht das Geld, das man hierzulande allzu gern bei zu viel Bier nach Feierabend zurücklässt, nur eine Woche lang anzusparen und einen Tagestrip über die Landesgrenzen ins Ausland zu wagen.
Nichts Aufregendes, nichts Unerreichbares, nichts Kostspieliges, nur bewusst einen Ort zu besuchen, wo man nicht Deutsch spricht, sich aktiv dieser ›Unbequemlichkeit‹ aussetzen und begreifen, wie viel ›da drüben‹ passiert, was vielleicht als Lektion dienen kann – in jeder Hinsicht. Es sind vermutlich nur hilflose Versuche, den Tunnelblick und damit die Nabelschau, die in so vielen Kreisen zu beobachten ist, für einige Momente zu unterbrechen. In der Hoffnung, das ›Ich‹ von seiner derzeitigen Überdimensioniertheit auf eine erträgliche Größe zu schrumpfen.
Nach diesem Superwahljahr 2024, in dem viele Menschen mit ihren Wahlentscheidungen andere, wie Michelle Obama es so treffend formulierte, ›zu Kollateralschäden‹ gemacht haben, hilft vielleicht ein kleineres ›Ich‹ für weniger Neurosen, ein respektvolles Nebeneinander und ein weit in die Ferne gerücktes Miteinander. •