Hilfe, Polizei!
Wenn Polizisten im Dienst zu Gesetzesbrechern werden, ist die Aufklärung der Taten und die Verfolgung der Täter häufig schwierig. Eine unabhängige Untersuchungsstelle für Polizeigewalt könnte das ändern – wenn sie tatsächlich eingerichtet wird.
Klimademo, 31. Mai 2019. Der damals 50-jährige René Wagner* hat mit seiner Schwester und seinem Neffen bei Fridays for Future demonstriert, als er am Heimweg bei der Sitzblockade der Aktion ›Ende Geländewagen‹ in der Nähe der Wiener Urania vorbeikommt. Da er die Ziele der Aktion gut findet, solidarisiert er sich spontan mit den Aktivisten und setzt sich dazu. Zu diesem Zeitpunkt ahnt der IT-Techniker noch nicht, dass er wenig später das Vertrauen in den Rechtsstaat verlieren wird. Wagner ist jener Mann, dem ein Polizist neun Fauststöße in die Nierengegend versetzt, das Video ging vor anderthalb Jahren durch die Medien und sorgte sowohl in Österreich als auch darüber hinaus vielfach für Entsetzen.
Im Polizeianhaltezentrum, in das ihn die Beamten verbringen, wird Wagner am selben Abend zum Verhör geladen. Auf dem Papier, das ihm dabei von der Polizei gereicht wird, steht: ›Widerstand gegen die Staatsgewalt und versuchte schwere Körperverletzung.‹ Der konkrete Vorwurf: Er hätte mit seinen Beinen um sich und später gezielt gegen zwei Beamte getreten. Bis dahin hatte Wagner noch Hoffnung, dass die bei der Sitzblockade gegen ihn ausgeübte Gewalt wenigstens im Nachhinein korrekt aufgearbeitet wird. Doch während des Verhörs wird ihm langsam bewusst: ›Sie erfinden irgendwelche Sachen, um ihre Gewalt zu rechtfertigen‹, wie er später sagen wird. Auch im Maßnahmenbeschwerde-Verfahren, das Wagner und seine Anwältin Alexia Stuefer beim Wiener Landesverwaltungsgericht anstrengen, kommt es zu mutmaßlichen Falschaussagen der Polizisten, die zu einem Ermittlungsverfahren gegen Wagner führen. Dieses Verfahren wurde von der Staatsanwaltschaft jedoch mittlerweile eingestellt.
René Wagners Erlebnis ist kein Einzelfall. Es steht beispielhaft für eine Reihe an Fällen von Misshandlungsvorwürfen gegen Österreichs Polizei, die in den letzten Jahren immer wieder für mediale Aufmerksamkeit gesorgt haben – meist spielten sich diese in Wien ab.
Statistiken zu Polizeigewalt sind in Österreich allerdings schwer zu finden. Zwar registriert die Staatsanwaltschaft Strafverfahren, die mutmaßliche Polizeigewalt zum Inhalt haben, unter einem eigenen Kürzel namens ›MS-Akten‹, was für ›Misshandlungsvorwürfe gegen Organe der Sicherheitsbehörden‹ steht. Ein entsprechendes Register ist jedoch nicht öffentlich zugänglich. In einer parlamentarischen Anfragebeantwortung des Innenministers findet sich die folgende punktuelle Information: 2019 wurden 200 entsprechende Fälle von der Kriminalpolizei an die Staatsanwaltschaft gemeldet, 93 waren es dann bis Juli 2020. Zum Vergleich: Insgesamt beschäftigt das Innenministerium circa 31.000 Polizistinnen und Polizisten.
Ermittlungsverfahren in Strafsachen werden in Österreich von der Staatsanwaltschaft geführt, die operative Ermittlungsarbeit übernimmt in der Regel die Polizei. Das heißt, dass bei Vorwürfen gegen Exekutivbeamte meist Polizisten gegen Polizisten ermitteln – ein Umstand, der unter anderem auch von internationalen Organisationen wie dem Europarat und der UNO kritisiert wurde. Im aktuellen Regierungsprogramm ist daher auf Initiative der Grünen die ›konsequente und unabhängige Ermittlung bei Misshandlungsvorwürfen gegen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte in einer eigenen Behörde in multiprofessioneller Zusammensetzung‹ geplant, also die Gründung einer unabhängigen Ermittlungsstelle für mutmaßliche Polizeigewalt.
Die Idee, dass man als Staatsorgan nicht einfach machen darf, was man will, nur weil man eine Uniform anhat, gehört bereits seit der frühen Aufklärung zum rechtsphilosophischen Gemeingut. Schon John Locke meinte im 17. Jahrhundert: ›Wo immer Gewalt gebraucht wird und Unrecht geschieht, wenn auch durch Hände, deren Amt es ist, Gerechtigkeit zu üben, — es bleibt immer Gewalt und Unrecht, so sehr es auch durch Name, Vorwände und Rechtsformen beschönigt werde.‹ Auch ist es ein Grundprinzip des modernen Rechtsstaats sowie der österreichischen Bundesverfassung, dass die Exekutive – also sowohl die Polizei als auch die Verwaltung – nicht nach Willkür, sondern nur im Rahmen der Gesetze tätig werden darf. Für die Polizei heißt das insbesondere, dass sie im Rahmen ihrer Kontrolltätigkeit beziehungsweise Gewaltausübung verhältnismäßig vorgehen und dabei immer auch die (Menschen-)Rechte des Gegenübers beachten muss. Salopp gesagt: Mit Kanonen auf Spatzen zu schießen, ist ein polizeiliches No-Go.
Doch auch wenn Polizeischülerinnen und Polizeischüler in ihrer zweijährigen Ausbildung in Österreich neben Einsatztaktik und Co. auch juristisches Grundwissen pauken müssen und insbesondere auch in Menschenrechten und Ethik geschult werden: In der Praxis des polizeilichen Handelns sind immer auch Umstände im Spiel, die sich rechtlich nur zum Teil oder gar nicht fassen lassen. ›Wir sind genauso Menschen mit Emotionen wie alle anderen auch, aber wir sollten immer möglichst rational handeln‹, sagt Bernhard Auer*, der in einer Polizeiinspektion in einer österreichischen Landeshauptstadt seinen Dienst tut und DATUM unter der Zusicherung von Anonymität ein Interview gegeben hat. Auer ist Anfang 30 und hat sich nach der Matura und einem abgebrochenen Studium dafür entschieden, zur Polizei zu gehen. Mittlerweile ist er seit circa sieben Jahren Polizist und meint: ›Das Gesetz bildet immer die Grundlage für das polizeiliche Einschreiten.
Jedoch werden Gesetze von Theoretikern gemacht, und es ist auch gar nicht möglich, sämtliche Szenarien in Gesetzen abzubilden. Es gibt einfach nichts, was es nicht gibt! Dadurch braucht es zwangsläufig auch Hausverstand bei der Anwendung sowie ein gewisses Fingerspitzengefühl.‹ ›Im Gesetz scheint genau geregelt zu sein, was die Polizei zu tun hat, schon nicht mehr so genau geregelt ist die Frage, wie sie es zu tun hat‹, bringt es auch der deutsche Polizeiwissenschaftler Rafael Behr, der an der Akademie der Polizei Hamburg lehrt, in einem Aufsatz zur sogenannten ›Cop Culture‹ auf den Punkt. Behr war einst selbst Polizist, bis er in den späten 1980ern und in den 1990ern Soziologie und Psychologie studierte, um eine Karriere als Wissenschaftler einzuschlagen.
Cop Culture, das meint nicht die offizielle, in Leitbildern verankerte Polizeikultur, sondern die Alltagskultur der im Dienst stehenden Polizistinnen und Polizisten, also die ungeschriebenen Normen, Werte und Muster, die das Handeln der Beamten in ihrer täglichen Arbeit prägen. ›Dass man Kollegen gegenüber solidarisch sein muss, dass man einander nicht verraten darf, dass man einander bei einer Maßnahme fraglos unterstützen muss, dass man Kollegen nicht kritisiert, schon gar nicht in der Öffentlichkeit, das sind alles Regeln der Cop Culture oder Polizistenkultur, die nicht vermittelt oder gelehrt, sondern praktiziert werden‹, erklärt Behr. ›Das erfährt ein Polizist oder eine Polizistin, wenn er oder sie im ersten Praktikum ist.‹ Die Beamten sehen die Polizei als Gefahrengemeinschaft, meint der Experte. Der polizeiliche Praktiker Auer formuliert es so: ›Wir sind voneinander abhängig. Ich bin für die Sicherheit meines Kollegen genauso verantwortlich wie er für meine Sicherheit.‹ Dass man sich aufeinander verlassen könne, sei ›im Ernstfall das Um und Auf‹.
›Polizei wird ja unter anderem dadurch definiert, dass sie dort hinläuft, wo andere weglaufen, also, dass sie sich immer wieder in Gefahrensituationen begibt, und da brauchst du diesen Zusammenhalt‹, meint auch der Grüne Nationalratsabgeordnete Georg Bürstmayr. ›Der scheint aber zumindest ein Stück in Frage gestellt, wenn ein Kollege den anderen anzeigt‹, so Bürstmayr, der das Projekt einer unabhängigen Ermittlungsstelle für Polizeigewalt auf Seiten der Grünen verhandelt und im Zivilberuf Menschenrechtsanwalt ist. Was aber, wenn die Solidarität dazu führt, dass Polizisten einen Kollegen im Falle eines Fehlverhaltens wie ungerechtfertigter Gewaltausübung decken? In Fällen wie jenem von René Wagner schweigen oder lügen Beamte vor Gericht, um Kollegen vor den Konsequenzen rechtswidrigen Verhaltens zu bewahren. Auch das ist Cop Culture. Bernhard Auer sieht diese Art von problematischem Berufsethos im Rückzug begriffen: ›Ich sehe nicht ein, dass ich, nur weil ein Kollege nicht weiß, wie er sich zu benehmen hat, selber ins Kriminal gehen würde. Das ist in meinem Bereich mittlerweile das generelle Credo.‹ Er sei allerdings glücklich, selbst noch nie in eine solche Situation gekommen zu sein.
Menschenrechtsorganisationen drängen dennoch seit Langem auf die Errichtung der im Regierungsprogramm vorgesehenen unabhängigen Ermittlungsstelle für Misshandlungsvorwürfe gegen Polizistinnen und Polizisten. Für Amnesty International handelt es sich dabei um ›eines der wichtigsten menschenrechtlichen Vorhaben‹ der türkis-grünen Bundesregierung.
In der Vergangenheit war die Republik hier übrigens schon weiter: Nach dem Skandal um den Fall von Marcus Omofuma – einem nigerianischen Asylwerber, dem von österreichischen Polizisten bei einem Abschiebeflug nach Bulgarien der Mund zugeklebt wurde und der daraufhin erstickte – wurde 2001 unter Innenminister Ernst Strasser (ÖVP) das Büro für Interne Angelegenheiten, das BIA, gegründet: ›Es war ein Paradigmenwechsel, dass hier Institutionen hinterfragt werden, die ja von ihrer Grundsozialisierung her diejenigen sind, die Recht haben‹, erinnert sich Martin Kreutner.
Der Jurist und Sozialwissenschaftler war einst Bundesheeroffizier und wechselte 2000 ins Innenministerium, um die neue Behörde zur unabhängigen Untersuchung polizeilichen Fehlverhaltens aufzubauen und zu leiten. Das BIA untersuchte eine breite Palette an Delikten, Misshandlungsvorwürfe machten davon etwa einen knapp zweistelligen Prozentanteil aus, schätzt Kreutner, der mittlerweile in der Privatwirtschaft tätig ist – das BIA gibt es in seiner damaligen Form heute nicht mehr. 2008 wurde daraus das BAK, das Bundesamt für Korruptionsbekämpfung, das sich nicht nur mit polizeilichem Fehlverhalten, sondern allgemein mit Korruptionsdelikten beschäftigt. Dem Vernehmen nach wurde diese Umstrukturierung jedoch als Ausrede dafür genützt, um bei polizeilichem Fehlverhalten nicht mehr genau hinschauen zu müssen. Politisch verantwortlich für den Umbau war Innenministerin Maria Fekter (ÖVP), die später ins Finanzressort wechselte.
Die Wiedererrichtung einer unabhängigen Ermittlungsstelle war zunächst für Herbst 2020, dann für Herbst 2021 geplant. Konkret passiert ist bis heute nichts. Aber wie sollte eine solche Behörde überhaupt konkret ausgestaltet sein? Laut Kreutner, der auch zehn Jahre lang Präsident der internationalen Association of Police Oversight war, muss sie zweierlei unter einen Hut bringen: einerseits gegenüber der regulären Polizei unabhängig agieren, andererseits im Falle des Falles auch Methoden anwenden, die normalerweise der Polizei vorbehalten sind.
Deswegen, so Kreutner, könne die Behörde auch nicht etwa bloß aus Menschenrechtsexperten ohne polizeilichen Hintergrund bestehen. ›Ich kann mir sehr schwer vorstellen, dass ein Kollegium von sehr renommierten Professoren und NGO-Vertretern sich dann wirklich um zwei Uhr in der Nacht auf eine Observation legt.‹ Würde das Gremium hingegen bloß Akten sichten und Befragungen durchführen dürfen, stünde bei einem darauffolgenden Strafprozess oft Aussage gegen Aussage und die angeklagten Polizisten würden im Zweifel freigesprochen. Der frühere Leiter des BIA sieht die beste Lösung daher in einer Behörde, die einerseits aus einer Ermittlungseinheit mit speziell geschulten Polizisten und andererseits aus einem Gremium von Menschenrechtsexperten aus der Wissenschaft beziehungsweise dem NGO-Sektor besteht – inklusive Informationsaustausch zwischen beiden Bereichen.
Kreutner betont, dass eine interne Ermittlungsstelle ›letztlich auch all jene schützt, die ihren Job gesetzeskonform machen‹. Ähnlich sieht das auch Bürstmayr: ›Die Polizei muss sich als Organisation verstehen, die Fehler macht. Fehler, die unter Umständen auch in die Menschenrechtssphäre hineinreichen.‹ Der Polizist Auer hat beim Thema unabhängige Ermittlungsstelle hingegen seine Zweifel: ›Ich bin der Meinung, dass jemand, der selbst nie in so einer Situation war, das nicht objektiv beurteilen kann. Es sollen zumindest ehemalige Polizisten für so eine Stelle arbeiten oder die Mitarbeiter einer solchen Stelle eine Zeit lang ein Praktikum bei der Polizei machen.‹ Damit mehr Polizistinnen und Polizisten die interne Ermittlungsstelle als Chance sehen, bräuchte es wohl einen entsprechenden Wandel in der Cop Culture – genau den wünscht sich Ex-Polizist Behr, der diesbezüglich auch die österreichische Polizei beraten hat. Von oben sei ein solcher Kulturwechsel jedoch kaum zu verordnen: ›Die Verständigung über Cop Culture muss dort stattfinden, wo auch die Arbeit gemacht wird – also in den Dienstgruppen selbst.‹
Behr sieht seine eigene Polizeikarriere in Deutschland im Rückblick selbstkritisch: ›Ich habe all die Sünden mitgemacht, die ich heute beklage. Ich glaube, ich kann für mich sagen, dass ich niemandem meiner Klienten irreversible Schäden zugefügt habe. Aber ich habe auch die Dinge getan, von denen Cops glauben, dass man sie tun muss. Zum Beispiel das, was wir »Bestrafung an Ort und Stelle« genannt haben. Ein Rippenstoß zu viel oder ein Anraunzer, der nicht sein musste. Man lernt erst im Abstand die Wirkung solcher Interaktionen.‹
Auch ohne unabhängige Ermittlungsstelle ist es im Fall René Wagner Mitte Oktober zu zwei erstinstanzlichen Verurteilungen gekommen. Entscheidend war hierfür jedoch, dass es in diesem Fall einen Videobeweis gegeben hat, da ein couragierter Zeuge den Polizeieinsatz mit seinem Handy gefilmt hatte. Die Verteidigungslinie der beiden Beamten überzeugte das Gericht angesichts der Beweislage nicht. Revierinspektor D. hatte behauptet, dass die neun Fauststöße das gelindeste Mittel gewesen seien, um den am Boden liegenden Wagner festzunehmen. Kontrollinspektor P. hatte ausgesagt, dass die Erinnerungen in seinem Kopf verschwommen seien und er die falschen Vorwürfe gegen Herrn Wagner daher irrtümlich in den Polizeibericht geschrieben habe. Der schlagende Polizist fasste wegen Körperverletzung unter Ausnützung einer Amtsstellung vier Monate bedingte Haft aus, sein mutmaßlich lügender Kollege erhielt wegen Amtsmissbrauchs und falscher Zeugenaussage ein Jahr bedingt. Zudem erhielt Herr Wagner als Privatbeteiligter jeweils tausend Euro Schadenersatz von beiden Beamten zugesprochen. Die Urteile sind nicht rechtskräftig.
Wenn die Disziplinarbehörde nicht anders entscheidet, dann können beide Polizisten übrigens trotz des Urteils weiter im Dienst bleiben: Erst ab einer bedingten Haftstrafe von über einem Jahr oder einer unbedingten Haftstrafe von mehr als sechs Monaten verlieren österreichische Beamte automatisch ihren Job. Herr Wagner war bis zu dem Vorfall bei der Klimademo übrigens auch im öffentlichen Dienst tätig – im Bildungssektor –, hat seinen Job jedoch schon verloren. Überhaupt war der Vorfall ein biografischer Bruch für Wagner: Er sei noch nicht wieder im Lot und überlege sogar, ins Ausland zu gehen, meint er gegenüber DATUM. •
*Name von der Redaktion geändert.
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