›Ich war sein Besitz‹

Barbara Müller* hat einen Mordversuch durch ihren Ehemann überlebt. 20 Jahre danach erzählt sie, wie ihr der Neuanfang gelungen ist.

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Illustration:
Aliaa Abou Khaddour
DATUM Ausgabe Oktober 2022

Vier Wochen Koma. Ihre Augen sind geschlossen und verklebt, der Kopf kahlgeschoren, die Zunge steht heraus. Aus dem Mund hängt ein Schlauch. Überall sind Schläuche. ›Als ich dieses Foto das erste Mal gesehen habe, nachdem ich aufgewacht war, bin ich in Tränen ausgebrochen. Ich habe mich selbst nicht erkannt.‹ Barbara Müller, die ihren echten Namen nicht nennen möchte, ist eine Überlebende. Am Valentinstag im Jahr 2002 sollte sie sterben.

Mein Gespräch mit Barbara Müller dauert viele Stunden und ist ein Auf und Ab der Emotionen. Die 48-Jährige ist eine der wenigen Frauen, die einen Femizidversuch überlebt haben und ihre Geschichte erzählen. Die meisten Opfer wollen von den Medien in Ruhe gelassen werden oder haben Angst, dass alles wieder hochkommt. Aber Barbara Müller möchte mir ihre Geschichte trotzdem erzählen, denn sie denkt, dass andere betroffene Frauen und auch Politiker hören sollten, was sie zu sagen hat.

Das zweite Leben, das ihr geschenkt wurde, hat nichts mehr mit ihrem früheren zu tun, für das sie bloß noch Verachtung empfindet. ›Alles ist anders, und das ist gut so‹, sagt sie. In manchen Momenten verraten ihre großen, dunkelbraunen Augen, wie tief der Schock auch heute noch sitzt. ›Ich bin als konservatives Landmädchen in der tiefsten Pampa in der Südsteiermark aufgewachsen. Frauen wurden dort sehr unterwürfig erzogen, ein Studium war eine Illusion. Familie sollte ich gründen, das war, ging es nach meinen Eltern, die einzige Lebensaufgabe.‹ Von der Mutter sei sie geschlagen worden, der Vater habe sie psychisch terrorisiert.

Frauen hätten für ihn nie viel Wert gehabt. ›Im Alter von fünf Jahren wurde ich gezwungen, Musik zu machen. Später musste ich in Tracht gekleidet in einer reinen Mädchentruppe singen und Gitarre spielen, wir hatten Auftritte in Bierzelten vor lauter betrunkenen Männern, das war eine Qual für mich. Ich habe diese volkstümliche Musik immer schon gehasst, aber ein Nein war keine Option.‹ Musik für die Scheinwelt in der tiefsten Provinz.

Die Jahre vergehen, das Leben scheint vorherbestimmt. Am 23. Dezember 1991 klingelt der Festnetzapparat. Als die Mutter abhebt, begrüßt sie die Stimme eines jungen Mannes, den Barbara Müller erst vor ein paar Monaten kennengelernt hat. Thomas, auch sein Name wurde auf ihren Wunsch geändert. Er ist ebenso Volksmusiker und hat sich in der Gegend bereits einen Namen gemacht. ›Er wollte wissen, ob wir uns demnächst treffen können. Meine Mutter hat mir daraufhin eine Ohrfeige verpasst. Ich durfte nie fortgehen, das war absolut verboten.‹ An diesem Punkt ist es für Barbara Müller vorbei. Das erste Mal in ihrem Leben schlägt sie zurück, als ihre Mutter gewalttätig wird. ›Dann bin ich mit Hausschuhen an den Füßen und ohne Jacke mitten im Winter gegangen.‹

Sie wird von Thomas und seiner Familie aufgenommen. Wieder in der ›Pampa‹. Wieder ein Nest, in dem sie funktionieren muss. ›Aber ich war dankbar, dass ich dort leben durfte.‹ Zu diesem Zeitpunkt ist sie 18 Jahre alt, Thomas ist gerade 20 geworden und bewohnt mit Barbara Müller den oberen Stock des Einfamilienhauses, seinen Eltern gehört der untere Bereich. Was anfänglich nach einer Verbesserung aussah, entpuppte sich rasch als Enttäuschung. ›Die Verbote gingen weiter, Thomas war sehr eifersüchtig.‹ So habe er ihr nicht erlaubt, mit anderen Männern zu reden. Auch in dieser Familie habe ein traditionelles, rückständiges Frauenbild mit all seinen für Barbara Müller negativen Auswüchsen geherrscht. 

Untertags arbeitet sie als Verkäuferin in einem Supermarkt. Auch hier habe Thomas immer wieder angerufen, um zu kontrollieren, ob sie tatsächlich in der Arbeit sei. Zu Hause habe er sie regelmäßig im Schlafzimmer eingesperrt und ›Sex mit mir gehabt, obwohl ich nicht wollte. Ich war sein Besitz.‹ Zur Polizei zu gehen, das wäre niemals eine Option gewesen. ›In so einem Dorf ist das wirklich schwierig, man kennt sich. Der Polizist ist ein Freund der Familie. Außerdem wird man von klein auf gelehrt, dass körperliche Gewalt dazugehört. Wenn man dann nur kontrolliert wird oder einen eifersüchtigen Mann hat, ist nichts Schlimmes passiert.‹ Thomas und seine Familie hätten immer mehr in Richtung Hochzeit und Kinder gedrängt. Immerhin war Barbara Müller nun schon 28 Jahre alt, worauf also noch warten? Obwohl sie diesen Schritt nicht gehen wollte, willigte sie in die Eheschließung ein.

Kurz nach der Trauung passierte etwas, mit dem sie nicht mehr gerechnet hatte. Sie verliebte sich in ihren damaligen Vorgesetzten, der ganz anders als Thomas war. Es spielte für Barbara Müller auch keine Rolle, dass der Mann ihre Gefühle nicht erwiderte. Es zeigte ihr lediglich, dass es da draußen mehr gab und sie nicht mit Thomas zusammen sein wollte. Sie sagte ihm, dass sie unglücklich mit ihm sei, dass es besser wäre, sie gingen getrennte Wege, und dass sie Gefühle für diesen anderen Mann entwickelt hatte. ›Dann brach die Hölle los, Thomas hat es allen im Dorf erzählt, mich bloßgestellt. Mein komplettes Umfeld hat mir verboten, mich zu trennen. Ich hatte doch diesen tollen Star geheiratet, eine Scheidung wäre keine Option.‹

Der 14. Februar 2002 ist ein Donnerstag. Barbara Müller hat frei und erledigt ein paar Einkäufe, unter anderem auch in dem Supermarkt, wo sie normalerweise arbeitet. Thomas dürfte sie beobachtet haben. Als sie kurz nach hinten ins Büro zu den Kolleginnen schaut, stürmt er herein und befiehlt ihr, sofort nach Hause zu fahren. Ihr Vorgesetzter schrieb damals in seinem Tagebuch: ›Die Situation schien zu eskalieren, löste sich aber in Wohlgefallen auf, als Barbara die Filiale verließ und in ihr Auto stieg. Ich beobachtete sie durch ein Fenster und sah, dass sie in eine andere Richtung als Thomas fuhr. Hatte ich vorher noch ein ungutes Gefühl, beruhigte mich diese Tatsache doch ungemein. Barbara hatte die Telefonnummer unserer Filiale, also würde sie anrufen, wenn es Probleme geben würde. Leider kam alles anders. Drei Stunden später war es mir mehr als bewusst, da war es traurige Gewissheit.‹

Drei Stunden später liegt Barbara Müller bewusstlos und blutend auf dem Gehsteig unter dem Balkon vor ihrem Wohnhaus. Es ist 17 Uhr, als der Notarzt mit der Erstversorgung beginnt. Sie hat schwere Kopfverletzungen und wird mit der Rettung ins Grazer Krankenhaus gebracht. Die Angehörigen werden vorgewarnt: Es schaue sehr schlecht aus. Sie kommt umgehend in den OP.

Bis zu diesem Zeitpunkt weiß niemand, was genau geschehen ist. Die Version, die Thomas und seine Familie der Polizei und dem Notarzt damals erzählen: Barbara Müller hätte aufgrund ihrer emotionalen Instabilität und einer Affäre Suizid begehen wollen, indem sie vom Balkon gesprungen sei.

Die Wochen vergehen, der Heilungsprozess ist zäh. Im Bericht der Abteilung für Neurologie ist von einem schweren Schädelhirntrauma mit mehreren Hämatomen und Kontusionsblutungen die Rede – und davon, dass die Patientin die Vorgeschichte des Unfalls negiert.

Der Gerichtsmediziner, der sie noch am Krankenbett untersuchte, hatte starke Zweifel an der Version des Suizidversuchs. Ihre Verletzungen, so der Experte in seinem damaligen Gutachten, könnten keinesfalls von einem Sturz stammen. Die Mordgruppe der Kriminalpolizei übernahm den Fall. Zwei Wochen später wurde Thomas schließlich unter dringendem Tatverdacht verhaftet. Dem Gerichtsmediziner zufolge stammten die Verletzungen von einem Schlag mit einem harten Gegenstand.

Barbara Müller erinnert sich an den Moment, als sie aus dem Koma aufwachte. ›Ich war komplett verwirrt. Sie mussten mich sofort ans Bett binden, weil ich so wild um mich geschlagen habe. Die Schläuche waren furchtbar, auch die künstliche Ernährung, ich war ganz dünn zu dem Zeitpunkt.‹ Sie beschreibt ihren Zustand wie den einer Dreijährigen. Es war ihr nicht möglich, klare Sätze zu formulieren, auch nicht, sich normal zu bewegen oder Dinge aus dem Gedächtnis abzurufen. Das Personal des Krankenhauses habe ihr anfänglich verboten, sich in den Spiegel zu schauen. Der Anblick würde ihr zu sehr zusetzen. Sie wurde vorsichtig im Rollstuhl herumgeführt.

Die ersten Schritte glichen einem Marathon. Sie musste wieder lernen, wie das Gehen funktioniert, ihre Sprachfehler korrigieren, die gesamte Motorik wieder in Erinnerung rufen, auch den Gleichgewichtssinn hatte sie verloren. Am rechten Ohr blieb ihr lange ein Tinnitus, bis heute funktioniert es nur zu 20 Prozent. Regelmäßig erlitt sie epileptische Anfälle.

Drei Monate nach der Tat saß Barbara Müller in der Straßenbahn, um sich in einem Frauenhaus vorzustellen, und bekam einen Platz. ›Was das für eine Erleichterung war. Ich hätte sonst nirgends wohnen können. Außerdem war ich voller Angst, dort habe ich mich sicher gefühlt.‹ Sie bekam vor Ort auch Kleidung geschenkt, weil sie völlig mittellos war. Gleichzeitig begab sie sich in psychotherapeutische Behandlung, um das Trauma zu verarbeiten. Eine Mitarbeiterin des Gewaltschutzzentrums in Graz stand ihr ständig zur Seite, begleitete sie auch zum Prozess. Da sie vor Gericht als Zeugin aussagen sollte, wurde mit dem Termin viele Monate gewartet, so lange, bis ihr Zustand diesen wichtigen Schritt zuließ.

›Sie hätte einen gestreckten Salto rückwärts machen müssen, damit sie so weit fliegt‹, meinte der Sachverständige Bernhard Peyer in der Gerichtsverhandlung. Ihre Verletzungen würden überhaupt nicht zu einem Sturz passen. Das bestätigte auch der Gerichtsmediziner Peter Grabuschnigg: ›Bei einem Sturz aus dieser Höhe hätte das Opfer außer der schweren Kopfverletzungen auch Begleitverletzungen haben müssen. Es fehlt vor allem jene Verletzung, die auf einen Aufprall aus dieser Höhe hinweist.‹ Die Zeugenaussagen der Eltern des Angeklagten, sie hätten ihre Schwiegertochter am Fenster trotz Dämmerung und zugezogenen Vorhangs vorbeifliegen gesehen, wurde von Peyer widerlegt. ›0,3 Sekunden lang hätte man den Körper fliegen sehen, das ist ein Wimpernschlag. Man sieht bestenfalls einen Schatten, sonst nichts.‹ Gerichtspsychiater Heinz Humeniuk beschrieb den Angeklagten als einen ›relativ angepassten, eher unauffälligen Menschen, der über Gefühle nicht sprechen will. Fehler und Schwächen gibt er nicht zu, das ist die einzige Auffälligkeit, die aus den Persönlichkeitstests herauszulesen war.‹ Die Verhandlung dauerte bis in die Nacht. Gegen 22:30 Uhr dann das Urteil: Thomas wurde wegen Mordversuchs an seiner Frau zu zehn Jahren Haft verurteilt. Die Geschworenen folgten also den Ausführungen der Sachverständigen, wonach der Sturz vom Balkon fingiert gewesen sein musste. Barbara Müller sackte vor Erleichterung zusammen, als der Richter dies verkündete. Denn wie viele andere überlebende Frauen stellte sie sich vor der Verhandlung die immergleiche Frage: ›Was mache ich, wenn er nicht schuldig gesprochen wird?‹

Nach dem Prozess suchte Barbara Müller eine eigene Wohnung. Zu Beginn schlief sie auf dem Boden, weil sie sich kein Bett leisten konnte. Auch sonst besaß sie kaum Möblierung. Sie ging putzen, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Das Autofahren war ihr viele Jahre aufgrund der Epilepsie nicht erlaubt. Immer wieder musste sie operiert werden, der letzte Eingriff fand im Jahr 2010 statt. ›Ohne die Hilfe des Gewaltschutzzentrums wäre ein Zurückfinden ins Leben völlig undenkbar gewesen.‹

Warum beenden Frauen solche Beziehungen nicht? Mit dem Wissen, welch massive Bedrohung und Gewalt auf Betroffene einwirken können, wenn sie versuchen, sich zu trennen, kann man eigentlich nur zu dem Schluss kommen, dass dieser Frage eine Form der Täter-Opfer-Umkehr zugrunde liegt oder sie zynisch gemeint ist. Die Geschichte von Barbara Müller hat mich sehr beschäftigt. Dieses Leben fernab der Großstadt, das sie beschreibt, führt uns zahlreiche Schieflagen im System vor Augen. Das Bagatellisieren von psychischer Gewalt. Der Polizist, ein Freund der Familie – was den Weg zur Behörde für die Frau unmöglich macht. Ein zutiefst patriarchales Umfeld. So viele Menschen, die bei der Unterdrückung zugesehen haben, sogar daran beteiligt waren. Körperliche Gewalt als alltägliche Normalität.

Männergewalt beginnt nicht erst in der Partnerschaft, sondern entwächst meist aus der eigenen Erziehung, aus dem Umfeld in der Kindheit und dem Verhalten der Eltern. Barbara Müllers Fall führt uns aber auch vor Augen, wie enorm wichtig die Arbeit der Gewaltschutzzentren ist. Sie begleiten die betroffenen Frauen von Beginn an auf ihrem Weg, juristisch und psychosozial. Rosa Logar, die Leiterin der Wiener Interventionsstelle, wo österreichweit betrachtet die meisten Frauen betreut werden, betont immer wieder, dass die Finanzierung einfach nicht ausreicht. ›Derzeit kommen auf eine Beraterin etwa 250 bis 300 Betroffene im Jahr. Wir können mit den derzeitigen Mitteln jeder Frau nur etwa sieben Stunden widmen. Das reicht einfach nicht.‹ Und schließlich zeigt uns der Fall von Barbara Müller, welch unschätzbaren Wert Frauenhäuser für Hilfesuchende haben. Dass sie bis heute österreichweit keine ordentliche Basisfinanzierung erhalten, ist beschämend. Während man in Wien zufrieden ist, weil man konstant Mittel erhält, müssen andere Bundesländer jährlich zittern. In Österreich sind nämlich die Länder für die Finanzierung der Frauenhäuser verantwortlich. Deshalb sieht die Situation dieser Vereine in jedem Bundesland anders aus. Viele bekommen nur einjährige Förderungsverträge und wissen nicht, was das Folgejahr bringen wird. 

Barbara Müller sagt, wir würden uns täuschen, wenn wir denken, dass diese tradierten und gefährlichen Rollenbilder, mit denen sie aufwachsen musste, nicht mehr existieren. ›Ich weiß, ich könnte heute tot sein. Und ich weiß auch, dass es reines Glück ist, dass ich noch lebe. Denn mir hat zuvor niemand geholfen. Ich danke aber allen, die nach dem Mordversuch für mich da waren.‹ Bis zu ihrem 40. Geburtstag waren Beziehungen ein rotes Tuch für Barbara Müller. Ihr jetziger Partner sei aber wirklich ein guter Mann. ›Er kennt meine Geschichte, und er kann Taekwondo. Das gibt mir Sicherheit, denn Angst habe ich auch heute noch.‹ Um dieser entgegenzutreten, macht sie seit zwei Jahren jeden Sonntag um sechs Uhr in der Früh einen Spaziergang, ganz allein geht sie dann in den Wald. Ohne Handy. ›Das mache ich bewusst, ich muss meine Ängste loswerden.‹

Ich stehe mit Barbara Müller immer noch in Kontakt. Wir tauschen uns über Möglichkeiten aus, wie man betroffenen Frauen helfen könnte. Das ist ihr ein großes Anliegen. Am 14. Februar gratuliere ich ihr zu ihrem zweiten Geburtstag, wie sie diesen Tag selbst nennt. •

*Name von der Redaktion geändert

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