Im Schlamm
Nach der opferreichen Flutkatastrophe im spanischen Valencia haben Freiwillige einen großen Teil der Aufräumarbeiten übernommen. Unser Autor hat einen Tag lang mitgeholfen.
Es ist noch stockdunkel. Langsam, aber sicher füllt sich der silberne Reisebus vor einem Gymnasium in der spanischen Gemeinde Archena, Region Murcia. Für 5:30 Uhr ist die Abfahrt geplant; wie in Spanien üblich, geht es tatsächlich erst etwa eine Viertelstunde später los. Diesmal ist es jedoch keine normale Reisegruppe, die Buschauffeur Juan transportiert. Es handelt sich um eine Gruppe freiwilliger Helfer, die ihren von der verheerendsten Flut des gegenwärtigen Jahrtausends betroffenen Nachbarn aus der Region Valencia bei den Aufräumarbeiten helfen möchten. Die meisten davon sind junge Frauen in ihren Zwanzigern und Dreißigern – Studentinnen, aber auch solche, die schon im Berufsleben stehen: etwa die Englischdolmetscherin Marta oder die beiden Krankenschwestern Margot und Esperanza.
Ana Campillo Martínez hat den Hilfseinsatz aus Murcia initiiert. Die Doktoratsstudentin unterrichtet an der Uni in Murcia Entwicklungspsychologie, ist nebenbei bei mehreren Sozialprojekten involviert und war für die konservative spanische Volkspartei zwischenzeitlich auch im Gemeinderat ihres Dorfs. Ohne die Hilfe einer Organisation hat die erst 26-Jährige ihre Kontakte dafür genützt, um eineinhalb Wochen nach der Flut drei Autobusse mit freiwilligen Helfern zu organisieren: ›Als ich die Situation in Valencia gesehen habe, war mir klar, dass ich nicht einfach mit verschränkten Armen zu Hause sitzen konnte‹, meint die Helferin. Auf den Messeausweisen gleichenden Kärtchen, die die Freiwilligen tragen, steht geschrieben: ›¡Solo el pueblo salva al pueblo!‹, auf Deutsch: ›Nur das Volk rettet das Volk!‹ Denn ohne freiwillige Helfer würde bei den Aufräumarbeiten gar nichts gehen, während sich die Politik rund um die Jahrhundertflut in Valencia oft nicht von ihrer besten Seite gezeigt hat.
Auf der Fahrt nach Valencia wird in der einsetzenden Morgendämmerung neben der Autobahn eine weitgehend zerstörte Eisenbahnstrecke als erster Flutschaden sichtbar. Buschauffeur Juan schimpft in seinem spanischen Dialekt über Regionspräsident Carlos Mazón: ›Der kommt nur in die betroffenen Dörfer, um Fotos zu machen, und danach haut er sofort wieder ab, weil er sich vor dem Zorn der Bevölkerung fürchtet!‹ Tatsächlich wäre eine solche Angst nicht unberechtigt: Der spanische König Felipe VI. wurde mit Schlamm beworfen und als Mörder beschimpft, als er am Wochenende nach der Flut die Gemeinde Paiporta bei Valencia besuchte, in der es besonders viele Todesopfer gab. Den sozialdemokratischen Premierminister Pedro Sánchez attackierte die wütende Menge sogar mit einer Stange. Sánchez blieb unverletzt, musste den Besuch aber aus Sicherheitsgründen vorzeitig abbrechen. Auch wenn hinter der beschriebenen Eskalation zumindest teilweise rechtsextreme Gruppierungen von außerhalb des Orts stecken dürften, ist die Wut der spanischen Bevölkerung auf ihre politischen Vertreter insgesamt groß und manifestierte sich im November auch in einer Massendemonstration in Valencia: Über hunderttausend Menschen gingen in der 800.000-Einwohner-Stadt auf die Straße, um den Rücktritt von Regionspräsident Mazón von der konservativen spanischen Volkspartei zu fordern. Und auch in den spanischen Medien und im Schulunterricht wurde noch Wochen nach der Flut zum Teil heftig über die Flut und die Verantwortung der Politik für ihre verheerenden Auswirkungen diskutiert.
Es ist eine fast beispiellose Naturkatastrophe, die sich rund um Allerheiligen in Valencia abgespielt hat: Zwar sind Starkregenereignisse im Herbst, die in Spanien unter dem Namen ›Gota fría‹, also ›kalter Tropfen‹ bekannt sind, an der spanischen Mittelmeerküste an sich nichts Ungewöhnliches. Allerdings hat es eine ähnlich verheerende Flut in Valencia das letzte Mal 1957 gegeben: Damals starben 81 Menschen, dieses Mal waren es in Valencia sowie in benachbarten Regionen mindestens 227. Die Sachschäden lassen sich noch kaum seriös beziffern, aber jedenfalls sind sie enorm. Die Bilder von zerstörten Fahrzeugen, die sich nach der Flut mikadoartig in den Gassen stapelten, gingen Anfang November um die Welt. Insgesamt könnte allein der Schaden für Unternehmen in der Region Valencia laut der Nachrichtenagentur Reuters einen zweistelligen Milliardenbetrag ausmachen.
Alles begann mit einem starken Gewitter am Abend des 29. Oktober. Anders als beim Dauerregen, der für die vergleichsweise langsam ansteigenden Überflutungen in Niederösterreich Mitte September sorgte, blieb Bevölkerung und Behörden in Valencia viel weniger Zeit, um sich auf den extremen Wetterumschwung vorzubereiten: ›Im Zuge von Gewittern kann in kurzer Zeit sehr viel mehr Regen fallen als bei sonstigen Tiefdruckgebieten‹, erklärt der Meteorologe Manuel Oberhuber, der für den ORF tätig ist und die Berichterstattung der ›Zeit im Bild‹ während des Hochwassers in Österreich mit seinen Expertisen begleitet hat. In Valencia seien innerhalb von drei Stunden mehr als 300 Liter Regen pro Quadratmeter gefallen: ›Das ist in Österreich noch nie gemessen worden und war auch in Spanien ein Rekord.‹ In Summe waren es am 29. Oktober innerhalb eines Tages 772 Liter pro Quadratmeter: ›Damit hat es dort an einem Tag mehr geregnet als in den drei vergangenen Jahren zuvor‹, erklärt Oberhuber.
Gegen neun Uhr Früh kommt der silberne Bus mit den freiwilligen Helfern am Ortsrand der Kleinstadt Algemesí nahe Valencia an. Mehr als eineinhalb Wochen nach der Flut herrscht dort trotz strahlenden Sonnenscheins immer noch Ausnahmezustand. Normalerweise ist Algemesí für den Anbau von Zitrusfrüchten bekannt, derzeit ist es aber nicht der Duft von Zitronen, sondern der Geruch und Anblick von Schlamm, der die Straßenzüge der 30.000-Einwohner-Stadt prägt. Der Matsch bildet oft meterhohe Berge am Straßenrand, hat in der ganzen Stadt Autos zerstört und Häuser unbewohnbar gemacht. Kaputter Hausrat, vom Puppenhaus bis zum Klavier, lagert im Freien. In weißen Overalls zum Schutz der Kleidung und in Gummistiefeln sowie mit FFP2-Masken zum Staubschutz machen sich die Helfer aus Murcia zu Fuß in Richtung Stadtzentrum auf, während der Boden immer matschiger wird, je tiefer sie ins Innere der Stadt vordringen. Wie eine Gruppe Astronauten, die in einem Science-Fiction-Film einen zerstörten Planeten auskundschaften, bewegt sich der Trupp vorwärts. ›¡Buenos días!‹, ruft ein alter Mann, der auf der Türschwelle seines Hauses steht: ›¡Los campeones de la guerra!‹ (›Guten Tag! Die Helden des Kriegs!‹). Zunächst einmal geht es darum, zu Müll gewordene Gegenstände zu entsorgen und den Schlamm, der sowohl in den Garagen der Häuser als auch auf den Straßen immer noch alles verstopft, mithilfe von Besen, Schaufeln, Kübeln und vor allem viel Muskelkraft loszuwerden. In einem der betroffenen Häuser kippen die Hausbewohner und freiwilligen Helfer immer wieder Schlammkübel in den Kanal – nach wenigen Minuten verstopft dieser jedoch, und so macht neben der Müllabfuhr auch das Team eines Kanalreinigungsfahrzeugs Sonderschichten, um die Gullys von Algemesí vom Schlamm zu befreien.
Auch Hilfsgüter wie Lebensmittel, Kleidung und Medikamente sollen verteilt werden, finden aber nicht immer die richtigen Adressaten. Kindergärtnerin Cynthia Hilario nimmt schließlich die Lieferung mit laktosefreiem Babymilchpulver entgegen. ›Von einem Tag auf den anderen hat sich alles radikal verändert‹, sagt die 20-Jährige. ›Die materiellen Dinge gehen kaputt, doch am Ende kommt es auf die Menschen an und darauf, dass man das gemeinsam durchsteht und sich gegenseitig hilft.‹
Was der Kindergärtnerin Mut macht, sind die vielen Freiwilligen, die in ihrer Stadt nun mit dem Aufräumen helfen. Dass sie damit nicht allein ist, zeigt ein improvisiertes weißes Schild, das Stadtbewohner aus einem Leintuch gebastelt und auf den Balkon ihres einstöckigen Hauses gehängt haben, das gerade vom Schlamm befreit wird: ›Gracias Voluntarias‹ heißt es dort, ›Danke, Freiwillige‹. Die Geschäfte in Algemesí sind geschlossen oder wurden, so wie der private Kindergarten von Hilario, zu Sammelpunkten für Sachspenden umfunktioniert. Eine Gruppe junger Männer aus Murcia bereitet in einer riesigen Pfanne das typisch spanische Reisgericht Paella zu und teilt es an andere Helfer und Bewohner aus, die gerade hungrig sind – gratis natürlich. Eine einzelne Frau ist mit Wasserflaschen beladen und ruft in die Menge an Helfern, um zu fragen, ob jemand Durst hat. Spaten, Schaufeln und Kübel werden zu Allmendegütern, die nach dem Gebrauch an den Hausfassaden abgestellt werden, um von zukünftigen Helfern verwendet zu werden. ›Der Kapitalismus ist hier bei den Aufräumarbeiten für einige Wochen lang ausgesetzt‹, fasst es Ana Campillo Martínez zusammen.
Neben Martínez’ Gruppen sind an diesem Sonntag Mitte November auch noch zahlreiche andere Helfer aus ganz Spanien in Algemesí unterwegs. Was allerdings zu fehlen scheint, ist eine zentrale Koordination der Freiwilligen – jemand von der Gemeinde oder vom staatlichen Katastrophenschutz, der darauf achtet, dass die Freiwilligenarbeit nicht zur Sisyphusarbeit mutiert und der Kleinstadt und ihrer Bevölkerung mit den durchaus zahlreich vorhandenen menschlichen Ressourcen so gut wie möglich geholfen wird.
Chaotisch ging es in der Region Valencia freilich auch schon vor der Flut zu – mit tödlichen Auswirkungen. Schon mehrere Tage zuvor hatte sich abgezeichnet, dass die diesjährige Gota fría stärker ausfallen würde als üblich. Die offizielle rote Warnung des spanischen staatlichen Wetterdiensts AEMET kam schließlich am Dienstag, dem 29. November, um 7:31 Uhr. Doch anstatt rasch Vorkehrungen einzuleiten und etwa die Bevölkerung dazu aufzurufen, zu Hause zu bleiben, spielte der konservative Regionspräsident Carlos Mazón noch um 13:00 Uhr desselben Tages die Ereignisse herunter. Medienberichten zufolge war Mazón für die Zentralregierung in Madrid am Tag der Flut zudem stundenlang nicht erreichbar. Erst gegen 20:00 Uhr erhielt die Bevölkerung von Valencia schließlich einen Notfallalarm auf ihr Handy – die über 200 Todesopfer waren wohl zumindest teilweise eine Folge der späten Alarmierung.
Generell seien zielgerichtete Handyalarme jedoch schwierig, meint der Meteorologe Manuel Oberhuber: ›Es ist leider eine Illusion, dass genau die Menschen eine Warnung auf ihr Handy bekommen, die sie brauchen, und die anderen nicht.‹ Denn die Auswirkungen eines Extremwetterereignisses würden immer auch von den spezifischen örtlichen Gegebenheiten und nicht bloß von meteorologischen Faktoren abhängen: ›Aber es ist schlimmer, wenn man zu lange wartet und dann ist es für alle zu spät‹, gibt Oberhuber zu bedenken. Genau das ist in Spanien jedoch passiert, was auch den Volkszorn insbesondere auf die Regionalregierung in Valencia erklärt. Allein gelassen fühlte sich im Übrigen auch der Bürgermeister von Algemesí, José Javier Sanchis. Dem spanischen öffentlich-rechtlichen Rundfunksender La 1 erzählte Sanchís, dass ihm am Tag der Flut zu Mittag Regierungsverantwortliche am Telefon versichert hätten, dass sie den Wasserstand beobachten und sich später noch einmal melden würden. Danach hätten sich die Behörden jedoch nicht mehr mit ihm in Verbindung gesetzt.
Der spanische Premierminister Pedro Sánchez von der sozialistischen PSOE-Partei versucht dem Narrativ eines totalen Regierungsversagens zu widersprechen und verweist dabei auf ein milliardenschweres Hilfspaket der Regierung in Madrid sowie darauf, dass 25.000 öffentlich Bedienstete mit der Bekämpfung der Flut beschäftigt seien. Bei der UN-Klimakonferenz appellierte Sánchez außerdem unter dem Eindruck der verheerenden Flut an die Weltöffentlichkeit: ›Es ist kein Einzelfall, der Klimawandel tötet, wir müssen handeln.‹ Dennoch konzentrieren sich die meisten politischen Debatten in Spanien derzeit auf das Versagen des Katastrophenschutzes. Erst in zweiter Linie werden die verheerenden Überflutungen mit dem Klimawandel in Verbindung gebracht, eine stärkere Konjunktur für Klimapolitik ist bislang nicht in Sicht.
Zunächst einmal muss jedenfalls weiter aufgeräumt werden. Nach mehr als fünf Stunden schweißtreibender Arbeit finden sich die freiwilligen Helfer an diesem Sonntag gegen 16:30 Uhr wieder beim Autobus ein. Vor dem Einstieg in den Bus wird zunächst einmal die völlig verschlammte Schutzkleidung ausgezogen und entsorgt. Nachdem der Reisebus wieder in Archena angekommen ist, fahren die Helfer größtenteils in ihren Privatautos nach Hause. Krankenschwester Margot, die sich während des Hilfseinsatzes auch um mehrere Einwohner mit psychischen Belastungsstörungen gekümmert hat, reflektiert das Erlebte: ›Wenn man sieht, wie es den Leuten in Orten wie Algemesí jetzt geht, weiß man den eigenen Wohlstand erst wieder richtig zu schätzen‹, sagt die 29-Jährige, auf die zu Hause ihr Lebensgefährte und ihr zweijähriges Kind warten. •