In schlechter Gesellschaft

Die Akte von Christoph R. beginnt im Zentralkinderheim der Stadt Wien – und endet im Maßnahmenvollzug. Sie zeigt exemplarisch, in welchen Teufelskreis Bürokratie, Ablehnung und Gewalt einen Menschen führen können.

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Illustration:
Nele Fierdag
DATUM Ausgabe Februar 2021

Einmal ist sie in ein Lokal gegangen und hat uns tagelang alleine gelassen ‹, sagt Christoph R*. Er sitzt in einer kaum besuchten Pizzeria in Meidling und spricht von seiner Mutter. › Ich habe dann fünf Schilling in meiner Tasche gefunden, und wir sind beim Fenster raus und zum Greißler uns was zum Essen kaufen, weil wir so einen Hunger hatten ‹, sagt er. Seine braunen Augen blicken starr ins Leere. Als Christoph klein war, hat er gestottert. Heute spricht er wie ein aufgeregtes Kind, hastig, die Worte stolpern aus seinem Mund. Christoph R. ist heute 45, geboren wurde er 1975 in Wien. Seine Eltern waren alkoholkrank und gewalttätig, sie konnten sich nicht um ihn und seine drei Jahre ältere Halbschwester Emilia* kümmern. Mit zwei Jahren kam Christoph deshalb ins Kinderheim und durchwanderte von da an private und öffentliche Fürsorgeeinrichtungen von Wien bis Vorarlberg. Jahrelang konnte er nicht über das ­reden, was ihm dort widerfahren ist. › Frieden schließen kann man mit dem nicht, weil es immer in einem drinnen ist, ‹ sagt Christoph. 

Christoph R. hat beinahe seine gesamte Jugend in Einrichtungen der österreichischen Kinder- und Jugendhilfe verbracht. Wie tausende andere Kinder wurde er in der Obhut des Staates zum Opfer von Demütigungen, struktureller Gewalt und sexuellem Missbrauch. Was die ehemaligen Heimkinder eint, ist das unglaubliche Unrecht, das ihnen zugefügt wurde. Was sie unterscheidet, ist, was das mit den einzelnen Menschen gemacht hat. Manche Opfer konnten sich von den Erlebnissen gut erholen und führen heute ein normales Leben, andere kämpfen bis zum heutigen Tag mit ihrer Vergangenheit. Manche von ihnen wurden später selbst zu Straf­tätern. Christophs traumatische Heimgeschichte endete nach zwölf Jahren im Maßnahmenvollzug. Ihren Anfang nahm sie in der Wiener Leopoldstadt.

› Gegen 19:00 Uhr bemerkte ich 2 kleine Kinder auf der Fahrbahn der Nordbahnstraße in Richtung Innstraße gehen. […] Da sie auf Befragen nach ihrem Wohnort keine Angaben machen konnten, verständigte ich die Polizei ‹, heißt es in der Meldung der Bundes­polizeidirektion Wien aus dem März 1978. Ein Passant besiegelt damit das wei­tere Schicksal von Christoph und Emilia. Die Sechsjährige und ihr damals dreijähriger Bruder waren an diesem Abend von zu Hause weggelaufen, und die Polizei › überstellt ‹ die beiden ins Zentralkinderheim (ZKH) der Stadt Wien . Die darauffolgenden Jahre von Christophs Lebensgeschichte liegen ­DATUM penibel dokumentiert vor. Situations- und Entwicklungsberichte, Beschlüsse von Bezirksgerichten, Schreiben von ­Jugendämtern an Bezirkshauptmannschaften und retour – hunderte Schriftstücke schildern in trockenem Bürokratendeutsch, wie ein Kind durch jahrelange Ablehnung und ­Gewalt emo­tio­nal verkümmert und schließlich selbst zum Gewalttäter wird. Und sie geben Einblick in das Leben eines österrei­chischen Heimkindes der 1970er- und 1980er-Jahre. 

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