Nie mehr Stille

Ein Klingeln, Pfeifen oder Summen im Ohr: die Medizin nennt das Tinnitus. Unsere Autorin lebt seit vier Jahren mit dem ständigen Begleiter – wie hunderttausende andere Menschen in Österreich.

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Illustration:
Georg Feierfeil
DATUM Ausgabe Juli/August 2025

Nachts liege ich oft wach auf dem Rücken. Die Decke bewegt sich kaum. Meine Augen tasten das Dunkel ab, als könnte ich irgendwo zwischen Türspalt und Fensterrand das finden, was ich am meisten suche: Stille. Ich stehe auf und schließe das gekippte Fenster – unten im Lokal haben zwei Männer wieder ihr Würfelspiel ausgepackt. Das Geräusch stört mich beim Einschlafen.

Zurück im Bett frage ich mich: Ist es weg? Doch noch ehe ich den Gedanken zu Ende denke, ist es schon wieder da. ›Zzzzzzzzzzhhhhh.‹ Ein Geräusch, als ginge ich über eine Sommerwiese in der Mittagshitze, über mir Stromkästen, die die Luft zum Vibrieren bringen. Manchmal so laut, als sei in meinem Kopf von links nach rechts ein elektrischer Zaun gespannt.

Als introvertierte Person ist Stille meine Aufladestation. Doch die gibt es nicht mehr. Seit vier Jahren begleitet mich dieses Geräusch. Mal rechts, mal links, manchmal beidseitig. Unaufhörlich – und unheilbar, sagen Ärztinnen und Ärzte.

Ich bin damit nicht allein. In Österreich leben rund eine Million Menschen, die schon einmal Tinnitus hatten, bei manchen verschwindet er nach ein paar Stunden oder Tagen wieder. 200.000 Menschen leiden darunter chronisch. Der Begriff ›Tinnitus‹ leitet sich vom lateinischen ›tinnire‹ ab, was so viel wie ›klingeln‹ oder ›klimpern‹ bedeutet. Bei manchen klingt er wie das Sirren eines alten Fernsehers, bei anderen wie ein metallisches Hämmern oder Zischen eines Dampfkessels. Früher galt Tinnitus als Alterserscheinung, heute trifft er immer mehr junge Menschen. Die Österreichische Tinnitus-Liga, eine ehrenamtliche Selbsthilfeorganisation, verzeichnet einen stetigen Anstieg. Ich habe schnell gelernt: Tinnitus rauscht nicht nur in meinen Ohren, er rauscht auch in den Köpfen vieler anderer. 

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