No Fungi, No Future
Pilze sind weder Tiere noch Pflanzen, jedenfalls aber die ältesten Lebewesen der Welt. Einige Wissenschaftler und Aktivisten denken, dass ihre noch wenig erforschten Wurzeln gar den Planeten retten könnten.
Otto Kammerlander steht vor den selbstgebauten Holzregalen in einem Keller, in dem sein Team am nächsten Tag rund hundert Kilo Speisepilze ernten wird. Er kratzt am Pilzgeflecht, das sich in den zahllosen Plastiksäcken voller Holzspäne breitgemacht hat. Zuvor wurden sie mit Pilzsporen von Shiitake und Kräuterseitling angereichert.
›Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie mein Bruder massieren die Wurzeln der Pilze auf ihre eigene Art und Weise‹, erzählt Otto Kammerlander und lacht. Angeblich wachsen dort, wo man das Pilzgeflecht massiert, verstärkt die Fruchtkörper heraus. ›Man will, dass sie oben und einzeln rauskommen und nicht viele und an allen Ecken‹, sagt der Jurist, der in seiner Freizeit mit seinem Bruder Martin, Produkt- und Grafikdesigner, die Pilzzucht aufgebaut hat. Zählt man Otto und Martin zusammen, sind sie die ›Pilzbrüder‹.
Heute ist Mittwoch und Markttag, da verkaufen sie ›Ab Hof‹. Unter den Füßen der Pilzkäuferinnen und -käufer wachsen schon wieder neue Pilze, den Großteil der Ernte liefert das Team mit dem Lastenfahrrad an die Gastronomie in die nahegelegenen Bezirke eins bis drei – Innere Stadt, Leopoldstadt und Landstraße. Drei Kisten voller Pilze verkaufen sie an diesem Mittwochabend. ›Ich würde sagen, bei uns kaufen Menschen ein, die gesund und zufrieden sein wollen und wissen, wie nützlich unsere Bio-Pilze dafür sind‹, erzählt Otto, der selbst beinahe täglich die eigenen Pilze isst, die neben vielen anderen Nährstoffen wie Eiweiß auch Vitamin B12 und Vitamin D enthalten.
Die Wiener Brüder sind damit auf Produzentenseite Teil eines weltweiten Pilzbooms. ›Der Ertrag der weltweiten Pilzproduktion, zu der auch Trüffelproduktion gehört, ist in den 30 Jahren von 1991 bis 2021 um das 16-fache auf 44,8 Millionen Tonnen im Jahr gestiegen‹, hält FAOSTAT, die internationale Datenbank für Agrarwirtschaft und Ernährung fest.
Die Menschen wollen aber nicht nur mehr Pilze essen, sondern auch mehr über sie wissen. Denn für Kenner ist der Fungus in all seinen Spielarten viel mehr als nur willkommene Ergänzung des Speiseplans: Einige Forschende feiern die ältesten Lebewesen als Helden unserer Zeit. Vor allem, wenn man sie in der Landwirtschaft mitdenkt, könnten sie dabei helfen, den Planeten und seine Lebewesen zu retten. Seit 1,2 Milliarden Jahren erstrecken sich Pilzgeflechte in der Humusschicht, sie sind dreimal länger auf der Erde als Pflanzen. Doch nur zehn Prozent aller Pilzarten sind bekannt, so aktuelle Schätzungen. ›Weltweit beläuft sich die Gesamtlänge des Pilzmyzels in den obersten zehn Zentimetern des Bodens auf mehr als 450 Tausend Billiarden Kilometer: etwa die Hälfte der Breite unserer Galaxie‹, schreibt eine der international bekanntesten Pilzforscherinnen, Giuliana Furci, im US-amerikanischen Time-Magazin.
Das Myzel bietet Lösungen für viele menschengemachte Probleme, bestätigt auch die Pilzforscherin und Präsidentin der Österreichischen Mykologischen Gesellschaft, Irmgard Greilhuber: Myzel gilt als möglicher Ersatz für Holz und sogar Beton und kann von der Natur zersetzt werden. Es bindet Kohlenstoff und ist daher nützlich für die CO2-Bilanz. Absolut jede Pflanze braucht Pilze, um zu existieren, und ebenso der Mensch. Ohne sie würden wir von Biomasse überhäuft werden. Laubhaufen, Holzstämme, Kompost – all das wird von Pilzen zersetzt. Wie kann es sein, dass wir das Pilzreich und seine Potenziale bisher so wenig durchschaut haben?
›Wenn man Pflanzenarten sammelt, dann geht man einfach in den unterschiedlichen Blütezeiten in die Natur und sucht sie. Davon kann ich bei den Pilzen nur träumen‹, sagt die Mykologin Greilhuber und lacht. Sie ist gerade dabei, getrocknete Pilze in eine Schachtel zu packen für die Pilzsammlung, das Fungarium, der Universität Wien. Obwohl innerhalb alter Wiener Gemäuer am Rennweg, überwiegt das Grün in Greilhubers Büro. Monstera-Blätter, so groß wie der Oberkörper der Biologin selbst, hängen rund um sie herum. ›Pilzarten zu erfassen, ist schwieriger: Wann die Fruchtkörper kommen und die Pilze damit erst sichtbar werden, ist nicht vorhersehbar‹, erzählt sie. In der Oberstufe war ihr im Unterricht langweilig, darum las sie heimlich Bücher. Romane waren schwer als Lehrbuch zu tarnen, also griff Greilhuber zum Pilzkundebuch mit farbigen Fotos. Jahre später, als sie ihr Biologiestudium an der Universität Wien begann, übertrumpfte sie in ihrem ersten Semester die Lehrenden: Die 700 Pilzsorten aus dem Buch kannte sie auswendig. Derzeit sind rund 17.000 Pilzarten in der Mykologischen Datenbank für Österreich erfasst. Etwa die Hälfte davon kann man mit freiem Auge nicht sehen. ›In einer Messerspitze Erdboden finden sich rund hundert verschiedene Pilzarten‹, sagt Greilhuber. ›Unsere Getreidepflanzen sind mit einem oder mehreren Pilzen versehen. Und die sorgen für besseres Wachstum und höheren Ertrag.‹ Über 80 Prozent aller Pflanzen weltweit gehen Symbiosen mit Mykorrhiza-Pilzen ein – Ausnahmen sind Raps, Lupinen, Zuckerrüben und Buchweizen – und können so Wasser und Nährstoffe besser aufnehmen. Mykorrhiza-Pilze speichern Wasser, sodass ihre Symbiose-Partner bei Trockenheit länger versorgt sind. In Anbetracht der Klimakrise und der längeren Hitzeperioden sind Mykorrhizen damit wichtige Helfer.
Für konventionelle und industrialisierte Landwirtschaften wird häufig mit Ernährungssicherheit argumentiert: Andere Landwirtschaftsformen könnten die Menschheit nicht versorgen. Doch denkt man Pilze und gesunden Boden bei der Landwirtschaft mit, hält das Argument nicht stand. Denn die industrialisierte Landwirtschaft, die stets mehr Ertrag bringen soll, ist oft auch dafür verantwortlich, dass Bäuerinnen und Bauern auf lange Sicht Ertrag einbüßen müssen. An der Universität Basel fand man heraus, dass intensive Landnutzung, also die herkömmliche Landwirtschaftsform, die Diversität von natürlichen Mykorrhiza-Pilzen und damit natürliche Komponenten im Boden, die den Ertrag steigern können, schwächt. Schon das Pflügen der Äcker zerreißt die Pilzfäden, so auch die natürlichen Mykorrhiza-Bestände. Rund 30 Zentimeter tief gräbt sich die Klinge des Pfluges in den Boden, also genauso tief, wie die Humusschicht ist. Ziel des Pflügens ist es, den Boden zu lockern, doch es zerstört das Reich der Regenwürmer, die diese Arbeit ohnehin übernehmen. Auch das Myzel ist dort zu Hause und versorgt eigentlich die Pflanzen.
Alfred Grand ist einer der wenigen Bauern, die keinen Pflug verwenden, und das schon seit 30 Jahren. Seit 2006 setzt er keine Phosphatdünger mehr ein. Seine ›Grandfarm‹ ist der erste Forschungs- und Demonstrationsbauernhof in Österreich, hier setzt er auf Pilze, Bakterien und Mikroorganismen, die in ihrer Gesamtheit einen gesunden Boden ausmachen. ›Es ist wahrscheinlich, dass man die Hälfte der Bodenbearbeitung, wie sie die meisten Landwirte in Österreich betreiben, weglassen könnte‹, erzählt der Bio-Landwirt, der auch eine Firma gegründet hat, die Produkte für Gemüsebau und Garten verkauft. Warum halten sich die traditionellen Landwirtschaftsmethoden so hartnäckig, wenn sie auf vielen Ebenen schaden?
Zum einen fehlen unabhängige Beratungsstellen und Ausbildungsstätten in der konventionellen Landwirtschaft. Meist seien die sehr verbunden mit Firmen, die Produkte verkaufen wollen. Dadurch fehle oft auch das Know-How unter den Landwirten und Landwirtinnen, wie sie andere Methoden einsetzen können, erzählt Grand. Ein weiterer wesentlicher Grund für ihn: ›Manche Bauern trauen sich wegen der Meinung anderer nicht, was Neues auszuprobieren. Traditionen sind tief verankert in den Gemeinschaften und Behörden.‹
Für Mark Stüttler, Gründer des Mushroom Research Center Austria (MRCA) ist klar: ›No fungi, no future. Wenn wir so weiterarbeiten und das Pilzreich nicht so schnell wieder aktivieren, wie es nur möglich ist, fahren wir uns gegen die Wand.‹ Stüttler ist Biotechnologe und hat die Firma ›Tyroler Glückspilze› 2012 gegründet, dort verkauft er Speisepilze, Vitalpilze und Nahrungsergänzungsmittel genauso wie Mykorrhiza-Dünger. 1997 schon hat er damit begonnen, sich für das MRCA mit Universitäten in den USA, Asien und Europa auszutauschen und eine Pilzkulturensammlung in Innsbruck aufgebaut.
Ihm begegneten Landwirtinnen und Landwirte in Österreich, aber etwa auch in Spanien, die mit extremem Phosphormangel im Ackerboden kämpften. Für ihn ist das eine der gefährlichsten Konsequenzen herkömmlicher Landwirtschaftsformen: die drohende Phosphorkrise. Pflanzen brauchen Phosphor (oder Phosphate), den sie über die Humusschicht aufnehmen, um zu wachsen. Doch die Humusschicht werde vor allem durch die Ackerbewirtschaftung immer dünner, bestätigt auch Greilhuber. Die gängige Lösung dafür sind Dünger, die mit Phosphor aus fossilen Lagerstätten angereichert sind. Diese Dünger wirken aber wie das Pflaster auf der Wunde. Kurzfristig können sie Erträge sichern und es etwa möglich machen, länger dieselbe Pflanze anzubauen, was in der konventionellen Landwirtschaft immer noch gängige Praxis ist. Auf lange Sicht aber ist es wichtig, die Fruchtfolge zu ändern, denn das fördert Diversität im Boden und damit auch das Wachsen natürlicher Pilze und Mikroorganismen, sagt der Bio-Bauer Grand.
Sind Pilze also ein Allheilmittel für die Probleme der Landwirtschaft? So einfach ist es leider nicht. Der Verein zur Förderung biologischer Landwirtschaft ›Bio Austria‹ meint, die Effekte und die Beständigkeit der Sporen im Boden nachzuweisen, sei ein Problem. Das gehe nur im Labor. ›Auch wenn Mykorrhiza im Boden nachgewiesen sehr viele positive Effekte haben, ist die Zufuhr von nicht-bodeneigenen Pilzprodukten als Managementstrategie nicht sehr zuverlässig‹, sagt David Luger von Bio Austria. Generell schätzt Luger das Bewusstsein für Mykorrhiza-Pilze in Summe bei Landwirtinnen und Landwirten in Österreich als ›ausbaufähig‹ ein. Andreas Pfaller von der Landwirtschaftskammer Österreich (LK) gibt zu bedenken, dass ›die großen Ertragseffekte durch Mykorrhiza-Pilze bisher äußerst selten erkennbar sind.‹ Angesichts der klimatischen Herausforderungen, denen wir ausgesetzt sind, werde das Thema aber noch bedeutender werden, sagt der Pflanzenbauexperte bei der LK. Vor allem bei besonders geschädigten Böden erkenne man Erfolge mit Mykorrhiza-Zufuhr.
Geht es nach Stüttler, müssen wir jedenfalls die gesamte Landwirtschaft umkrempeln: ›Es ist alles möglich. Man muss nur die Natur verstehen und dann das Werkzeug in die Hand nehmen und anwenden. Wir können uns das Paradies jederzeit wieder zurückholen.‹ Extremwetterereignisse, Verlust der Artenvielfalt und steigende Temperaturen – Stüttlers Optimismus scheint in Anbetracht der Lage auf den ersten Blick utopisch.
Dennoch glauben auch internationale Forschende an das Potenzial der Pilze. Giuliana Furci etwa schreibt, dass Pilze menschengemachte Schäden zum Teil wieder gut machen könnten: Sie können zum Beispiel Rohöl, wenn es durch Ölkatastrophen freigesetzt wurde, abbauen. Das nennt sich Mykosanierung. Die österreichische Mykologin Greilhuber weiß von Pilzen, die ›richtige Schwermetall-Sammler‹ sind, manche Arten können Asphaltreste und sogar Kerosin verstoffwechseln und so den Boden entgiften. Kein anderer natürlicher Organismus schafft das.
Ob Pilze im großflächigen Einsatz unsere Landwirtschaft so umgestalten können, dass sie im Einklang mit der Natur existiert, anstatt ihr zu schaden und so die Klimakrise zu befeuern, bleibt schwer einzuschätzen. Dafür muss das ansteigende Interesse an Pilzforschung erst Früchte tragen. Die Uhr tickt: Fast 40 Prozent der Pilze in Österreich, so hat Greilhuber in einer Roten Liste erfasst, sind wegen Fundortzerstörung oder -veränderung gefährdet, manche auch wegen der Folgen der Klimakrise. Wer Pilzen Lebensraum schaffen will, dem rät Greilhuber: ›Je mehr Chaos, desto besser. Alte Holzstämme, Laubhaufen liegen lassen und heimische Pflanzen und Hecken pflanzen. Das lieben die Pilze.‹ •