Benützte Werkstatt

Integrative Beschäftigung soll Menschen mit Behinderung in den Arbeitsmarkt eingliedern. Die Grenzen zwischen Förderung und Ausbeutung können dabei jedoch verschwimmen.

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Illustration:
Ūla Šveikauskaitė
DATUM Ausgabe April 2023

Ständiges Klackern begleitet die Arbeitstage von Hans Seemayer in den Werkshallen von Kellner & Kunz. Zwischen grauem Boden und weißem Wellblechdach sitzt der 58-Jährige mit dickem Brillenrahmen und einem breiten Grinsen im Gesicht im Welser Unternehmen. Wie er arbeiten hier täglich rund 120 weitere Menschen mit Lernschwierigkeiten oder intellektuellen und körperlichen Behinderungen an langen Tischen. So auch an diesem Donnerstag im März. Die meisten von ihnen sind in einem der drei Stockwerke im Hauptgebäude verteilt. Einige in einer Halle im Nebengebäude. Hans Seemayer hat an diesem Tag Schrauben zusammengeschnitten. Bis auf das geringe Taschengeld, sagt er, könnte er nicht glücklicher sein, hier an einem der größten Standorte, an denen Menschen mit Behinderungen in Österreich integrativ beschäftigt sind. 

Die sogenannte integrative Beschäftigung ist Teil von Österreichs Bemühungen, Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Anders das Konzept der Inklusion, bei der es nicht um das Einreihen der Betroffenen geht, sondern die vielmehr alle Menschen als gleichberechtigte Individuen und damit als Teil eines Ganzen sieht. In Sachen Integration verfolgt jedes Bundesland eigene, teils einander ähnelnde Wege. In Oberösterreichs Modell pendeln Betroffene in Betriebe und arbeiten dort, anstatt in geschützten Werkstätten von Trägerorganisationen wie der Lebenshilfe oder Pro Mente unter sich beschäftigt zu werden. Damit sollen sie in Unternehmen, den Arbeitsmarkt und damit in die Gesellschaft integriert werden. 

Doch integrative Beschäftigung ist ein Modell, das in der Umsetzung oft schnell an seine Grenzen stößt. Zwar präsentiert sich das Welser Unternehmen Kellner & Kunz auf seiner Webseite und in diversen Medienberichten gerne als Vorzeigebetrieb, zeigt Fotos von Mitarbeitern gemeinsam mit Beschäftigten. Doch beim Blick auf die räumliche Abtrennung der Menschen mit Behinderungen entstehen an diesem Bild Zweifel. Es drängt sich die Frage auf, wie wir als Gesellschaft mit behinderten Menschen am Arbeitsmarkt umgehen wollen.

In der Theorie – und oft auch in der Praxis – birgt die integrative Beschäftigung im Vergleich zur Arbeit in den geschützten Werkstätten der Trägerorganisationen eine Handvoll Vorteile. Der tägliche Weg in die Arbeit schafft Normalität und einen Hauch von Selbstbestimmung. In den Hallen von Kellner & Kunz verliert deshalb niemand ein schlechtes Wort. Die 59-jährige Anita S. zum Beispiel – eine kleine Frau mit rötlich eingefärbter Kurzhaarfrisur – ist seit zwei Jahren im Betrieb beschäftigt und sortiert bei Kellner & Kunz Schrauben. ›Ich fühle mich wirklich wohl‹, sagt S., ›ich würde die Arbeit hier auch umsonst machen.‹ Das tut sie auch fast: Aktuell erhält sie gerade einmal 3,45 Euro pro Stunde. Anita S. käme dennoch nicht auf die Idee, mehr Geld oder andere Änderungen zu fordern. Allein das Gefühl, Teil eines Unternehmens zu sein, anstatt in einer Werkstätte zu sitzen, gebe ihr genug, sagt sie. 

Vor allem soll die integrative Beschäftigung Schranken in den Köpfen beseitigen. Die Maßnahme hat zum Ziel, die Vielfalt in Unternehmen zu steigern und dadurch die sozialen Kompetenzen der Mitarbeiter zu erhöhen. So schreibt es das Amt der oberösterreichischen Landesregierung. Ein System, das integriert und nicht abschottet, Menschen ermächtigt und wertschätzt – so die Idee. 

Doch auch wenn integrative Beschäftigung gut gemeint ist, heißt das nicht, dass sie auch funktioniert. So geht es aus einem unveröffentlichten Forschungsbericht des Instituts für Gesellschafts- und Sozialpolitik an der ­Johannes-Kepler-Universität Linz hervor. Fünf Trägerorganisationen, Arcus, Caritas, Diakoniewerk, FAB und Pro Mente ließen 2018 eine ausführliche Evaluierung ihrer Angebote erstellen. Letztendlich veröffentlichten die Organisationen den Bericht nie, DATUM liegt er vor. Darin nimmt das Linzer Forschungsteam unter anderem Bezug auf das ­Unternehmen Kellner & Kunz: ›Leistungsnehmer werden in abgetrennten Räumen untergebracht. Die Inklusion ist nicht gegeben, vielmehr handelt es sich um Separation, so die Wahrnehmung eines Einrichtungsleiters.‹ 

Kellner & Kunz-Vorstandsvorsitzender Walter Bostelmann weist jegliche Kritik dieser Art zurück. Doch Vertreter diverser Trägerorganisationen bestätigen die Vorwürfe hinter vorgehaltener Hand. Werkstättenmitarbeiter der Lebenshilfe etwa würden immer wieder intern diskutieren, ob Organisationen ihre Menschen überhaupt noch in den Betrieb schicken sollten. Die Lebenshilfe-Geschäftsführung  sieht so etwas nicht als Option, sagt aber auf Anfrage: ›Die Integration im Unternehmen Kellner & Kunz könnte besser sein.‹ Doch das Entscheidende bei der integrativen Beschäftigung sei die Frage, ob die Beschäftigten dort arbeiten möchten, und das sei bei Kellner & Kunz absolut der Fall.

Auch Alfred Prantl, der selbst eine Behinderung hat und Obmann der Vereinigung der Interessensvertretungen von Menschen mit Beeinträchtigungen in Oberösterreich (IVBM) ist, kennt genügend Personen, die bei Kellner & Kunz beschäftigt waren. ›Die Menschen finden es gut, in einem gewöhnlichen Betrieb Teil der Wirtschaft zu sein‹, sagt er, ›die Integration der Mitarbeiter funktioniert in für sie eigenen Räumlichkeiten aber nur bedingt gut.‹ Doch viele der Beschäftigten, wie Anita S. oder Hans Seemayer, kommen gar nicht auf die Idee, diesen Umstand zu kritisieren. Prantl sieht seinen Auftrag als Interessensvertreter dadurch nochmals bestätigt. ›Ein Teil der Menschen mit Behinderungen hat keinen Bezug zu Lohn oder dem Arbeitsmarkt‹, sagt er, ›und die meisten haben nie gelernt, dass sie auch für sich eintreten können, anstatt bevormundet zu werden.‹

 Es gibt viele Gründe, warum Inklusion oder Integration im bestehenden System eine Herausforderung ist: Ordentliche Bezahlung und Absicherung, Arbeitsbedingungen und der Umgang mit dem Zustand der Menschen mit Behinderungen. Doch die Schuld bei den Unternehmen allein zu suchen, wäre verkürzt. Vielmehr gibt es Probleme, die von unterschiedlichen Akteuren verantwortet werden und eine erfolgreiche Integration von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt erschweren. 

Die Bezahlung

Das offensichtlichste Problem ist die Entlohnung. Personen in der integrativen Beschäftigung erhalten keinen Lohn nach Kollektivvertrag, sondern ein ›Taschengeld‹. Die Höhe wird in Verhandlungen vom Land und den Trägerorganisationen festgelegt. Unternehmen wie Kellner & Kunz bezahlen pro fertigem Paket unterschiedliche Minimalbeträge an Trägerorganisationen. Wie viel, möchte niemand sagen. Die Trägerorganisationen wiederum bezahlen Menschen mit Behinderungen eine Summe zwischen 0,10 und 4 Euro pro Stunde aus.

Da sie in der integrativen Beschäftigung unter der Geringfügigkeitsgrenze arbeiten, sind Menschen mit Behinderungen zwar unfall-, aber nicht sozialversichert und haben auch nicht die Möglichkeit, klassisch in Pension zu gehen. Sie sind in der Regel bei ihren Eltern in der Krankenversicherung mitversichert. Wenn diese sterben, erhalten sie Waisenpension. Um mit dem Taschengeld über die Runden zu kommen, erhalten Betroffene Leistungen wie Sozialhilfe, Pflegegeld oder Wohnbeihilfe. Dennoch: Menschen mit Behinderungen sind überdurchschnittlich armutsgefährdet. 

Alfred Prantl, Obmann vom IVBM, hat nichts gegen die integrative Beschäftigung an sich. Er sagt aber, dass Betroffene ordentlich entlohnt werden müssten: ›Die Menschen leisten großteils normale Arbeit, bekommen dafür aber nur ein Taschengeld.‹ Auch die diversen Trägerorganisationen fordern schon lange Lohn statt Taschengeld.

Doch dass Menschen in der integrativen Beschäftigung nicht gleich bezahlt werden wie Menschen außerhalb, habe Gründe, wie ein Betreuer vor Ort sagt: ›An manchen Tagen arbeiten unsere Leute so gut wie gar nicht.‹ Einige der Betreuten seien inkontinent oder würden ihren Stuhl nicht halten können. Sie seien auf Pausen angewiesen. Auch bei Kellner & Kunz gibt man zu bedenken, dass viele Beschäftigte mit Behinderungen jederzeit ausfallen können. Die Arbeitsleistung sei schlichtweg nicht dieselbe. 

Eigentlich wollte das Unternehmen im extra dafür errichteten Gebäudeteil einen Teil der Arbeiten automatisieren. Entschieden hat sich der Betrieb letztendlich aber für die integrative Beschäftigung. ›Maschinen sind bei Großserien zwar schneller, Menschen aber deutlich flexibler und in diesem Bereich auch genauer‹ – so fasst es der Vorstandsvorsitzende Walter Bostelmann zusammen. Über die Jahre hat Kellner & Kunz die integrative Beschäftigung stetig ausgebaut. Zuerst fand die Arbeit in den Werkstätten statt. 2011 entschied man sich, die Menschen zu sich zu holen. Die Klienten, wie Bostelmann die Menschen mit Behinderungen nennt, arbeiten so im Betrieb. Kellner & Kunz erspart sich die Transportkosten von Gütern. Beide Seiten gewinnen – zumindest in der Theorie. Denn in der unveröffentlichten Studie der Kepler-Universität bezeichnet ein Trägerorganisations-Mitarbeiter Kellner & Kunz deswegen auch als ›ausgelagerte Werkstätte‹, die nicht mehr ›dem Inklusionsgedanken entspricht‹.

Auch Vorstandsvorsitzender Bostelmann klagt über einen Aspekt des Systems besonders: Trotz der täglich rund 120 integrativ Beschäftigten zahlt das Unternehmen jährlich eine sogenannte Ausgleichstaxe. Das ist eine Strafzahlung zwischen 292 und 435 Euro monatlich, je nach Betriebsgröße, für Unternehmen, die weniger als eine Person mit Behinderungen pro 25 Beschäftigten anstellen. ›Aber diese 120 integrativ Beschäftigten werden nicht gerechnet und in keiner Weise bei dieser Angelegenheit berücksichtigt‹, sagt Bostelmann, ›das finde ich eine Frechheit‹.

Bostelmann gibt außerdem zu bedenken, dass die Gestaltung der Gebäude und Gebäudetechnik für die integrative Beschäftigung im Vergleich zur Platzierung von Konfektionierungsmaschinen mit deutlich höheren Kosten verbunden ist. Er widerspricht der Ansicht, dass es sich im Gesamtkontext betrachtet um ›billige Arbeitskräfte‹ handelt und die integrative Beschäftigung als Marketing-Gag betrieben wird. Man würde die integrative Beschäftigung der Menschen wegen unterstützen und habe diese Art der Arbeit in den Gesamtlogistikprozess integriert – und daraus mache Kellner & Kunz marketingtechnisch in der Öffentlichkeit eben kein Geheimnis.

Die Arbeitsbedingungen

Doch was sich von außen gut anhört, funktioniert im Inneren nur bedingt. Je mehr Mitarbeiter und Menschen mit Behinderungen ein Unternehmen bei sich versammelt, desto eher tendieren Betriebe zu räumlicher Trennung. Große Menschenmengen, Stress und Lärm würden einige – wenn auch nicht alle – der hier Beschäftigten schlichtweg überfordern, geben Betreuer zu bedenken. Entgegen den Äußerungen der Lebenshilfe-Geschäftsführung, die auch Beispiele nennt, bei denen die Größe kein Hindernis zur Integration sei, sagt eine Werkstätten-Mitarbeiterin, die bei Kellner & Kunz Menschen mit Behinderungen betreut: ›Je größer ein Betrieb, umso schwerer können wir eine große Zahl von Personen integrieren.‹ Und größer als bei Kellner & Kunz wird es bei der integrativen Beschäftigung kaum.

Die meisten Trägerorganisationen befürworten die integrative Beschäftigung, kritisieren allerdings die Rahmenbedingungen. Einige sehen die Gefahr, dass die geschützten Werkstätten zu ›Pflegeeinrichtungen‹ verkommen, weil dort nur jene zurückbleiben, die für die integrative Beschäftigung ungeeignet sind. Gleichzeitig rufen die Organisationen nach mehr Geld und Personal, um Menschen in der integrativen Beschäftigung adäquat betreuen zu können. 

Eigentlich sollte die integrative Beschäftigung nur eine Zwischenstation auf dem Weg in echte Anstellungsverhältnisse sein, keine Dauerlösung. Doch die Zahlen sprechen für sich: Die Quote jener, die von der integrativen Beschäftigung in den ersten Arbeitsmarkt übertreten, liegt im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Anreize für beide Seiten, Menschen mit Behinderungen und Unternehmen gleichermaßen, könnten das ändern – zum Beispiel eine staatliche Prämie für den Eintritt in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis. 

Doch das Werkstätten-System an sich ist aus Forschungssicht längst veraltet. Schon lange gibt es modernere Konzepte, die mehr auf Inklusion ­abzielen. Franz Wolfmayr, Experte mit Schwerpunkt auf Inklusion von ­Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt, fasst das aktuelle Problem so zusammen: ›Menschen mit Behinderungen wollen arbeiten gehen und sich nicht nur mit anderen Menschen mit Behinderungen umgeben.‹ Kurz: Sie wollen Teil der Mehrheitsgesellschaft sein. 

Wie es ganz anders gehen könnte, erklärt Wolfmayr. Der Experte sieht ›Supported Employment‹, also unterstützte Anstellungsverhältnisse als die Zukunft. Ein Beispiel dafür ist das Konzept der integrativen Betriebe – nicht zu verwechseln mit der integrativen Beschäftigung. ›Die Leute haben dort echte Arbeitsplätze und ihr Lohn orientiert sich am jeweiligen Kollektivvertrag‹, sagt Wolfmayr. Die Leistungsfähigkeit des Menschen mit Behinderung muss dafür aber mindestens die Hälfte der Leistungsfähigkeit eines Menschen ohne Behinderung bei gleicher Tätigkeit betragen und ist daher nicht für jeden geeignet. Noch gebe es viel zu wenige solche Betriebe.

Vor drei Jahren machte Wolfmayr dazu eine Studie. Die Rückflüsse über Steuern und Sozialversicherung seien höher als die Förderung, die dafür nötig ist. Dieses Konzept würde sich für die öffentliche Hand also durchaus lohnen, sagt er. Finanziert wird das Modell allerdings mit Geldern des Ausgleichstaxfonds, in den auch Kellner & Kunz einzahlt – und der ist begrenzt. Mit einer anderen Art der Finanzierung, zum Beispiel mit Geld der Länder, könnte man das Modell laut Wolfmayr rasch ausweiten.

Konzepte und Lösungsvorschläge, um Menschen mit Behinderungen  gleichberechtigt in den Arbeitsmarkt zu inkludieren, gibt es genug. Verhandlungen zu einer besseren Bezahlung samt Sozialversicherung zum Beispiel laufen bereits seit Jahren. Laut Land Oberösterreich liege der Ball aktuell bei den Versicherungsträgern und dem Sozialministerium. Das hat die Wirtschaftsuniversität Wien beauftragt, ein Berechnungsmodell für eine höhere Entlohnung vorzulegen. Der Bericht werde noch dieses Jahr fertiggestellt, heißt es von der WU.

Bei Kellner & Kunz will Geschäftsführer Bostelmann nicht beurteilen, ob die Bezahlung der Menschen mit Behinderungen gerecht sei. Die rechtliche Verantwortung dafür liege nicht bei den Unternehmen. Sein Betrieb unternehme obendrein viel, um Menschen zu integrieren, bekräftigt Bostelmann. Erst letztes Jahr lud Kellner & Kunz alle Beschäftigten zusammen mit den Mitarbeitern zum Hundert-Jahr-Fest auf die Messe Wels, um zu feiern. Die Beschäftigten aus den Werkstätten seien mitunter am längsten sitzen geblieben. 

An normalen Arbeitstagen im Unternehmen isst ein Großteil der Menschen mit Behinderungen trotzdem in eigenen Kantinen. Die normalen Werkskantine ist nämlich nicht für alle Menschen wirklich barrierefrei. •