Spiel mit der Ordnung der Zeit

Seiichi Furuya spiegelt in persönlichen Aufnahmen die Geschichten seiner Heimatländer.

·
Fotografie:
Seiichi Furuya
DATUM Ausgabe Oktober 2024

Ein Apfel verdeckt den Blick auf das Gesicht einer Frau, im Hintergrund lässt sich das barockisierte Kopfteil eines Bettes erkennen – dieser intime Moment markiert den verweigerten Dialog der Augen mit der Kamera des Fotografen. Die Aufnahme, die Seiichi Furuya 1985 von seiner Frau Christine in Venedig machte, steht symptomatisch für die seit den späten 1970er-Jahren dokumentierte zärtliche Auseinandersetzung zwischen ihm und ihr – zwischen Fotograf und Objekt, einem visuellen Zwiegespräch gleich, das die Beziehung über Jahre geprägt hat. 

Vor dem Fall der Berliner Mauer geht Furuya mit seiner kleinen Familie 1984 in die DDR, um dort als Übersetzer für japanische Baufirmen zu arbeiten. Zusammen mit seinem Sohn leben sie in einem Land, in dem Misstrauen gegenüber Fremden in Überwachung ihren Ausdruck findet. Und dennoch schaffen sie es, die Welten zwischen Graz, Japan und der DDR durch ständige Reisen und Freundschaften zu verbinden. In der kontinuierlichen Präsenz von Furuyas Kamera entstehen Abfolgen von unterschiedlichen Sujets: Mal sind es Interieurs und Stillleben, Ausschnitte aus dem Privatleben der Familie Furuya oder Fotografien der offiziellen Fernsehbilder von staatlichen Feierlichkeiten. 

Am 7. Oktober 1985, als im Fernsehen die Bilder einer Parade zum 36. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik gezeigt werden, stürzt sich Christine aus dem Fenster ihrer Ostberliner Wohnung im neunten Stock. Diese jähe Zäsur wird zu einem Bruch im Leben des jungen Fotografen und Vaters. Die von seiner Frau entstandenen Bilder werden in der folgenden Zeit zu Andenken, die er in wechselnden Konstellationen in  immer neue künstlerische Formen einbindet. 

Im Blick von außen wird deutlich, dass sich Furuya über Jahrzehnte mit seiner eigenen Geschichte auseinandergesetzt hat, die eng mit jener Europas und dem Verlust seiner Frau in einem ihm fremden Land verwoben ist. Es sind die Erinnerungen eines Japaners, der mit Unterbrechungen seit Mitte der 1970er-Jahre in der Steiermark lebt und 2024 bei der Verleihung der Ehrenbürgerwürde des Landes Steiermark sagte, dass er ›kein Fremder mehr ist‹. •

Seiichi Furuya (*1950 in Izu, Japan) kam als junger Architekturstudent 1975 nach Graz, verliebte sich dort in eine Frau und ein Land und wurde Gründungsmitglied der Camera Austria. Er gehört international zu den wesentlichen Stimmen der Fotografie an der Schnittstelle zu einer persönlich-dokumentarisch-künstlerischen Sichtweise. 

Seine Arbeiten wurden in umfangreichen Ausstellungen präsentiert und befinden sich in zahlreichen Sammlungen. Aktuell sind diese im Humboldt-Forum Berlin und in der Bundessammlung österreichischer Fotografie des Museums der Moderne in Salzburg/ MdM zu sehen. 

* Felix Hoffmann leitet das Foto Arsenal Wien, Österreichs neues Zentrum für fotografische Bilder und ›Lens Based Media‹. Mehr Informationen: www.fotoarsenalwien.at

Sie können die gesamte Ausgabe, in der dieser Artikel erschien, als ePaper kaufen:

Diese Ausgabe als ePaper für € 6,00 kaufen