Tomedi und die falschen Heiligen
In Südtrioler Kirchen lagern die Skelette katholischer Märtyrer aus dem antiken Rom. Irene Tomedi restauriert ihre Kleider und lüftet ihre Geheimnisse.
Irene Tomedi, 61 Jahre alt, kinnlanges, blondes Haar, hält den rechten Arm des Skeletts vor ihr auf dem Tisch senkrecht nach oben. Mit der linken Hand schiebt sie ihre Hornbrille ein Stück weiter auf den Nasenrücken, damit sie das verstaubte Gewand besser betrachten kann. Dann greift sie zur Pinzette, um den ersten Faden zu lösen.
Minuten vergehen, bis sich der Faden endlich lockert. Minuten, in denen die leeren Augenhöhlen im Schädel des Skeletts sie bizarr anstarren. Doch Irene Tomedi inspiziert nur das alte Kleidungsstück, das sich in seiner ganzen Verschmutzung, mit dem Staub, den Verkrustungen, den zerfledderten Nähten auf dem weißen Holztisch präsentiert.
Mit Daumen und Zeigefinger greift sie den Schulterumhang und legt ihn auf dem Tisch ab. Darunter findet sich eine gelb-braune Rüstung. Während ihr Mitarbeiter Claudio Temelin einen Knochen nach dem anderen prüft, zieht Irene Tomedi dem Skelett Schuhe, Unterröcke, Ketten und Ringe aus und beschriftet sie mit Zetteln, auf denen › links ‹, › rechter Zeigefinger ‹ oder › linker Daumen ‹ steht. Anderthalb Stunden später ist das Skelett nackt. Ohne Kleidung, ohne Schmuck. Die Knochen an den Beinen zeigen zahlreiche Löcher. Sie sehen aus wie Korallensteine.
Wörter: 1707
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