Was nicht vergehen will
Seit 30 Jahren ist der Krieg in Bosnien vorbei – eigentlich. Doch tausende Männer, die damals Opfer sexualisierter Gewalt wurden, leben noch immer mit den Folgen. Wie geht es ihnen heute?
Es dauert nicht lange, bis er sich den ersten Raki einschenkt. Ohne Raki geht es nicht, wenn dieser zwei Meter große Riese von einem Mann zu reden beginnt. Aber eines will Damjan Tripković, 67, direkt klarstellen: ›Ich werde niemals alles erzählen. Du würdest weinen, wenn ich dir alles erzähle.‹ Dann sagt er ›Caputto‹ und meint damit sich selbst. Schwer atmend hockt er in seinem kleinen Wohnzimmer in Bileća im Süden von Bosnien und Herzegowina und steckt sich den nächsten Tschick an. Die jahrelange Trinkerei, die vielen Zigaretten, der Blutzucker: All das sind nur die kleineren Übel. Wirklich kaputt gemacht hat ihn das, was die Kroaten ihm antaten, damals im Krieg 1992, als sie ihn, den serbischen Soldaten der Jugoslawischen Volksarmee, für 136 Tage in ein Gefängniscamp steckten, ihm die Kleider nahmen, Rippen brachen, ihn grün und blau schlugen, tagsüber, nachts, einmal, zweimal, hunderte Male. Und ihn zum Oralsex mit anderen zwangen, auch mit dem eigenen Bruder.
Schwerfällig erhebt Tripković sich vom Sofa, zieht sein T-Shirt über den großen Bauch nach oben. Ein Holzkreuz der Orthodoxen Kirche hängt um seinen Hals. Die Jeans sitzt locker, als er erst auf zwei verheilte, aber gut sichtbare Einschusslöcher unter seiner linken Achsel zeigt, dann auf eine Narbe oberhalb der linken Hüfte. Alles Überbleibsel der monatelangen Folter. Er zieht sein Shirt wieder herunter und lässt sich stöhnend aufs Sofa fallen. Der nächste Raki wandert ins Glas.

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