Weder Schutz noch Stolz
Einige Gedanken für eine qualifiziertere Debatte liefern‹, so formulierte die Chefredakteurin dieses Magazins, Elisalex Henckel, die Zielsetzung der Mai-Ausgabe mit unserem Schwerpunkt zur Zukunft des österreichischen Bundesheeres. Die Debatte zu bereichern, ist ja die Mission jeder DATUM-Ausgabe, aber im vergangenen Heft lag uns das besonders am Herzen. Seit dem 24. 2. 2022 gibt es ein neues Unsicherheitsgefühl in ganz Europa, sei es energie- oder sicherheitspolitisch. Viele Fragen sind offen, wir suchen nach Antworten, nach einem gemeinsamen Verständnis davon, wie wir uns in der geänderten Weltlage zurechtfinden können. Und wir erwarten uns vom politischen Personal, dass es dieser neuen Lage Rechnung trägt – durch ernsthafte Debatten und konsistente Maßnahmen.
Geht es nach Ihrem Feedback auf die vergangene Ausgabe, liebe Leserinnen und Leser, können wir uns darüber freuen, das Ziel, Gedankenanstöße und Diskussionsbeiträge zu liefern, erreicht zu haben. So viel Resonanz gab es selten. Nimmt man allerdings die Debattenfreudigkeit der verantwortlichen Regierungsmitglieder als Maßstab, müssen wir uns fulminantes Scheitern eingestehen. Denn für sie gibt es einfach keine Debatte, also konnten wir sie auch nicht bereichern.
Die immerwährende Neutralität darf nicht infrage gestellt werden, und wer das dennoch tut, steht schnell im Verdacht, einem NATO-Beitritt das Wort zu reden. Wenn der ORF seine wichtigste Diskussionssendung ›Im Zentrum‹ dem Thema ›Neutralität – heilig oder scheinheilig‹ widmet, glänzen alle inhaltlich verantwortlichen Regierungsmitglieder durch Abwesenheit. Dabei muss man nicht für eine Abschaffung der Neutralität sein, um klar zu erkennen und deutlich auszusprechen, dass es in Österreichs Sicherheits- und Verteidigungspolitik kein ›Weiter so‹ geben darf.
Es ist doch so: Wir haben es uns in der jüngeren Vergangenheit einfach allzu gemütlich gemacht. Sich auf den Schutz durch andere zu verlassen, an der eigenen Ausrüstung zu sparen und die Bevölkerung in falscher Sicherheit zu wiegen – das alles ging viel zu lange viel zu gut. Das Thema Sicherheit in Europa und Österreichs Beitrag dazu verantwortungsvoll debattieren zu wollen, hat nichts mit einem Abgesang auf die Neutralität zu tun. Im Gegenteil: Das jahrzehntelange Kaputtsparen des Bundesheeres ist das beste Beispiel dafür, dass Österreich seine Neutralität nie wirklich ernst genommen hat. Denn neutral sein kann doch nur, wer sich selbstständig, ohne Hilfe von außen verteidigen beziehungsweise mögliche Aggressoren abschrecken kann.
Das macht die Neutralität – wenn sie ernsthaft gelebt werden soll – zur teuersten aller sicherheitspolitischen Alternativen. Insofern war das Motto ›Neutralität nach Schweizer Vorbild‹ immer nur ein hohler Spruch. Wir genießen seinen schönen Klang – die notwendigen Milliarden-Investitionen, um ihn mit Leben zu erfüllen, ist er uns aber nicht wert. Dieser Heuchelei, dieser Pervertierung dessen, was Neutralität eigentlich bedeutet und mit sich bringt, sollten wir uns bewusst sein, wenn wir sie verteidigen, ihre Verdienste rühmen und sie als ›immerwährend‹ bezeichnen. Die Neutralität österreichischer Prägung hat ausgedient. Sie gleicht einer einseitig proklamierten Bündnisfreiheit – wir stehen niemandem bei, aber die anderen werden uns schon beistehen. Diese Form der Neutralität bietet keinen Schutz. Und auch keinen Grund, stolz auf sie zu sein. •
Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen!
Ihr Sebastian Loudon
sebastian.loudon@datum.at
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